Sound History

Die 9. Infoclio.ch-Tagung am 24. November 2017 fand unter dem Titel «Soundhistory und Tondokumente» statt. Die Tagung fragte nach der Bedeutung des Sounds in der Geschichte und danach, was Archive mit ihren akustischen Beständen tun, welche Chancen die digitalen Technologien für die Speicherung und Vermittlung von Tonaufzeichnungen bieten.

Im Eröffnungsvortrag referierte Jan-Friedrich Missfelder (Universität Zürich zu «Wie es eigentlich geklungen? Gegenstand und Methode der Sound History») Missfelder hat zu diesem Thema geforscht unter anderem im Projekt «Die verklungene Stadt. Eine Klanggeschichte Zürichs in der Sattelzeit (1750–1850)» (vgl. Artikel in academia.edu).

Die Beschäftigung mit Klängen war oft ein schmales Feld; von einer eigentlichen Geschichte von Sound kann nicht gesprochen werden. Missfelder verweist auf die Sinnesgeschichte (vgl. Sammelrezension in HSozKult). Häufig wird darauf hingewiesen, dass zwischen Vormoderne und Moderne ein Bruch stattgefunden hat, weil in der Moderne mit ihrem Fokus auf Rationalität die Sinne weniger gewichtet wurden bzw. das Sehen «Leitsinn» wurde. Missfelder schreibt anderswo von einer komplexen sinnesgeschichtlichen Modernisierungstheorie:

«die great divide [1] zwischen einer auditiven Vormoderne und der modernen Visualität und die Verarmung eines tendenziell synästhetischen Weltverhältnisses zur modernen Mono- Sinnlichkeit.»

Sinnesgeschichte hat dazu geführt, dass sinnliche Wahrnehmung «ent-selbstverständlicht» wurde.

Missfelder beschreibt die Entwicklung der Sound History mit einigen wegeweisenden Werken:

Das Buch «Die Sprache der Glocken» («Les cloches de la terre»2) von Alain Corbin ist bis heute wegweisende Referenz der klanghistorischen Forschung. Corbin beschreibt die allmähliche Veränderung der klanglichen Umwelt im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts und erweitert diese Veränderungen zu einer Sozialgeschichte der sinnhaften Gewohnheiten. Oder wie die FAZ beim Erscheinen des Buches schrieb: «Niemand hat den Zusammenhang von kollektiven Sensibilitäten, politischer und sozialer Geschichte schärfer erfaßt als Alain Corbin: von den Freudenmädchen über die Gerüche, die Kleider und das Vergnügen am Meer. Mit der «Sprache der Glocken» hat Corbin der Geschichte ihre fünf Sinne zurückgegeben.» (Rezension FAZ)

Ein nächstes wichtiges Buch ist «Listening to Nineteenth Century America»3 von Mark M. Smith. Im Project Muse rezensiert Kathy M. Newman das Buch folgendermassen:

«On New Year’s Day, at the close of the Civil War, a Florida plantation mistress named Susan Bradford Eppes waited in bed for the familiar sound of the bell that would call her to breakfast. But no bell sounded. Why? The slaves who usually rang the morning bell had fled, “stealing away in the night” and leaving the white folks “all alone”» (242).
(…) Mark M.Smith argues that historians have paid scant attention to the role that soundscapes played in helping elites define what it meant to be “Northern” and “Southern,” “slave” and “free.” He argues that these soundscapes had a powerful material dimension – that the soundscape of the North was rooted in industrial capitalism, and that the soundscape of the South was rooted in the control of slave labor.
Smith insists that historians pay more attention to sound. He recognizes the difficulty of such an endeavor given that there are no extant sound recordings from the early-to-mid 19th century. Smith is thus left to examine the ways in the which 19th century elites wrote about sound, and, in essence used sound as a metaphor. Northern elites drew on the trope of the groaning slave to exact sympathy from their audiences; in a similar way Southern elites painted a sound portrait of the North as noisy, industrial and dangerous.» (Rezension)

Ähnlich wie die Geschlechtergeschichte kann nach Smith auch die Klanggeschichte einen «Habit» darstellen, der die Geschichte neu konzeptualisiert. Missfelder:

«Sinnesgeschichte erscheint so nicht als eine weitere „Bindestrich-Geschichte“ (Ute Daniel) (…) sondern als ein neuer „habit“ der Analyse jeglichen Gebietes der Geschichte in jeglichem Quellenmedium: „an embedded way of remaining vigilant about and sensitive to the full sensory texture of the past“. (....) Sinnesgeschichte hat in diesem Sinne keinen prinzipiell abgegrenzten Gegenstand, sondern stellt eine Art und Weise dar, das Ganze der Geschichte neu, von der sinnlichen Konstituierung der Wirklichkeit her zu fassen. Ebenso entspricht einer Sinnesgeschichte als „habit“ keine privilegierte Quellengattung. Es gilt vielmehr, das gesamte Spektrum historischen Materials auf die Thematisierung von Sinnen und sinnlicher Wahrnehmung hin neu zu lesen.» (Missfelder 20124, S. 28)

Als nächstes wegweisendes Projekt ist das «World Soundscape Project» von R. Murray Schafer zu nennen. (Vgl. auch Schafer 201111)

Bild: The WSP group at SFU, 1973; left to right: R. M. Schafer, Bruce Davis, Peter Huse, Barry Truax, Howard Broomfield (World Soundscape Project)

Nach Soundscapes in Vancouver und dann ganz Kanada wurden auch die Klanglandschaften in fünf Dörfern in Schweden, Deutschland, Italien, Frankreich und Schottland untersucht. Die British Library hat in ihrem «Sound and Vision Blog» Auszüge daraus online veröffentlicht.

Während das Projekt auch als Versuch zur Rettung traditioneller Formen des Klanges gesehen wurde, interessierte sich die wissenschaftliche Rezension eher für systematische Aspekte. Das kann anhand einer erfolgreichen Werbekampagne für das Engadiner Dorf Tschlin gut illustriert werden:

«Der kanadische Komponist und Pionier der soundstudies Raymond Murray Schafer hat für vorindustrielle und vorurbanisierte Klangumwelten den Begriff des „hi-fi soundscapes" geprägt. (…) Solche high-fidelity Umgebungszeichen zeichnen sich gegenüber modernen lo-fi soundscapes durch einen ausgesprochen großen Signal-Rausch-Abstand aus, also durch eine akustische Situation, in der auch relativ leise bedeutungstragende Signale vor dem Hintergrund eines vergleichsweise geringen Hintergrundrauschens vernommen, dekodiert und in akustische Praktiken umgesetzt werden können.» (Missfelder 2015, S. 451)5

Genau das ist in Tschlin der Fall. Es erscheint als ideale Soundscape mit einer ausgesprochen «favorable signal-to-sound-ratio».

Die Geschichte von maschinellem Lärm (Lärm definiert als unerwünschter Klang) wurde von Karin Bijsterveld in ihrem Buch «Mechanical Sound» thematisiert.

«This book explains how we ended up like this. It focuses on four crucial episodes in the Western history of noise between the late nineteenth and the late twentieth century: public discussions of industrial noise, of city traffic noise, of neighborly noise of gramophones and radios, and of aircraft noise. A fifth chapter highlights the celebration of noise in the avant-garde music of the interwar period, and thus serves as a counterpoint to the other chapters. It both illustrates how such reverence embodied the positive connotations of mechanical sound that antinoise activists had to cope with, and shows how the introduction of machines in music re-enacted the issue of who was to control sound. The remaining chapters explore the decades immediately succeeding the rise of the public debate over the roar of new, or recently ubiquitous, machines. » (Blijsterveld 2008, S. 4)6

Ein weiteres grundlegendes Werk, das nach 30 Jahren erneut aufgelegt wurde «Sound and Sentiment» von Steven Feld7 (Website) thematisiert die auditive Kultur und weist Berührungspunkte zu anthropologisch ausgerichteten Forschungen auf.

Steven Feld begründet hier das Konzept der Akustemologie (zusammengesetzt aus Akustik und Epistemologie) als eine Art lokal erworbene, kollektiv geteilte akustische Weltanschauung: so wie Orte stets sinnlich wahrgenommen würden, sei auch die sinnliche Wahrnehmung stets «verortet».

«Unter dem Stichwort Akustemologie möchte ich (…) die besondere Bedeutung des Hörens als eigene Modalität von Wissen und In- Welt-Sein untersuchen. Klänge und Geräusch gehen von Körpern aus und dringen in sie ein; diese Reziprozität (…) sorgt dafür, dass sich Körper – anhand ihres akustischen Potentials – auf bestimmte Orte und Zeiten ʻeinstimmenʼ. Sowohl das Hören als auch das Lautgeben sind jeweils ʻverkörperteʼ Fähigkeiten, sie situieren einzelne Akteur_innen und ihre Handlungsweisen in bestimmten historischen Welten. (Feld, S. 462, zitiert in Arantes u. Rieger 20158)

Missfelder präsentiert dann eine Arbeitsdefinition von Sound history:

Sound history erforscht

- Klangpraktiken,

- die historsiche Soundscapes produzieren,

- Diskursivierungen von Klangerfahrungen,

- die auf kulturell geteilten Akustemologien beruhen

Die moderne Stadt ist auch ein Klangort, der über Klangpraktiken ausgehandelt wird. Sound history ist deshalb immer auch Politikgeschichte.

Eingang in die historische Forschung finden Klänge, wenn sich diskursive Anschlussstellen ergeben. Eine Herausforderung ist der historische Umgang mit Quellen, die nicht überliefert sind, d.h. die man nicht mehr nachhören kann.

Schall wird erst als gehörter und reflektierter Schall zu einem historischen Phänomen. Einfach wissen zu wollen, wie es denn geklungen hat, ist keine historische Fragestellung und läuft die Gefahr, einfach eine Evidenz produzieren zu wollen.

Quellenkritik ist aber auch in der Klanggeschichte zentral. Wer einer «Tonkonserve» lauscht, lauscht immer mehr als nur einem Klang.

Historisches Hören ist immer doppelt:

- Hören nach dem Sound der Geschichte und

- Hören nach der Geschichte des Sounds

Jonathan Sterne hat es in einem weiteren wegweisenden Werk (The Audible Past)9 so formuliert: «Sound-reproduction technologies are artifacts of vast transformations in the fundamental nature of sound, the human ear, the faculty of hearing, and practices of listening that occurred over the long nineteenth century. Capitalism, rationalism, science, colonialism, and a host of other factors — the “maelstrom” of modernity, to use Marshall Berman’s phrase — all affected constructs and practices of sound, hearing, and listening. Sterne 2003, S. 3)

Geschichte in den Sounds muss immer kontextualisiert werden. Beim Historisieren von Klang muss man sich vor der Annahme hüten, vergangene Hörerfahrungen seien jetzt tel quel hörbar. Der Kontext heute ist ein völlig anderer, auch wenn man die Kanone von Napoleon heute zum Klingen bringen kann, ist dieser Klang völlig anders verknüpft als während der napoleonischen Kriege.

Ich schliesse für mich daraus, dass Geschichte also auch in der «Sound History» ihren Konstruktcharakter behält. Auch Fragen an und über Klänge werden retro-perspektivisch gestellt, also immer von der Gegenwart des Fragenden aus – somit notwendig im Nachhinein und zwingend perspektivisch. (Schreiber u.a., 25)10

1 Smith Mark M. 2007. Sensing the Past. Hearing, Smelling, Tasting, and Touching in History, Berkeley: University of California Press, bes. S. 8 –13.
2 Corbin, Alain. 1995. Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Aus dem Französischen von Holger Fliessbach. Frankfurt am Main: S. Fischer.
3 Smith, Mark M. 2001.Listening to Nineteenth-Century America. Chapel Hill: The University of North Carolina Press.
4 Missfelder, Jan-Friedrich. Period Ear. 2012. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft 38. S. 21 – 47
5 Missfelder, Jan-Friedrich. 2015. Der Krach von nebenan. Klangräume und akustische Praktiken in Zürich um 1800. In: Arndt Brendecke. (Hg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln: Böhlau, S. 447-457.
6 Blijsterveld, Karin. 2008. Mechanical Sound. Technology, Culture and Public Problems of Noise in the Twentieth Century. Boston : Massachusetts Institute of Technology.
7 Feld, Steven. Sound and Sentiment. 2012 (1. Aufl. 1982) Birds, Weeping, Poetics, and Song in Kaluli Expression. Durham: Duke University Press.
8 Arantes Lydia Maria Arantes und Elisa Rieger. 2015. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen. Bielefeld: Transcript.
9 Sterne, Jonathan. 2003. The Audible Past. Cultural Orignis of Sound Reproduction. Durham : Duke University Press.
10 Schreiber, Waltraud et al. 2007. Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell. In: Körber, Andras, Waltraud Schreiber und Alexander Schöner: Kompetenzen Historischen Denkens, Neuried: ars una.
11 Schafer R. Murray. 2010, Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Übersetzt und neu herausgegeben. von Sabine Breitsameter, Mainz: Schott.

Geschichte digital

kollerGuido Koller vom Schweizerischen Bundesarchiv beschreibt in «Geschichte digital» (Stuttgart: Kohlhammer, 2015) den Stand des digitalen Wandels in den Geschichtswissenschaften. Er diskutiert Zukunftsperspektiven der «Digital History» und legt einen umfassenden Serviceteil mit bereits bereitgestellter Infrastruktur für Digital History, Portalen, Tools, Zeitschriften, Blogs und Methoden vor.

Koller bezeichnet «Digital Humanities»
als ein wissenschaftliches Praxisfeld, das sich gegenwärtig aus der Verbindung von traditionellen geisteswissenschaftlichen Methoden einerseits und digitalen, informationstechnischen Verfahren und Standards anderseits entwickelt (11).

Der digitale Wandel prägt, wie Koller beschreibt,  «zunehmend die berufliche Praxis von Historikerinnen und Historikern. Er erfasst nicht nur die Produktion und Vermittlung von historischem Wissen, sondern wirkt auch auf die Voraussetzungen für das Schreiben von Geschichte zurück.» (91).

«Das Schreiben von Geschichte ist ein Prozess, der mit dem Sammeln
und Organisieren von Informationen beginnt. Diese Daten und Fakten
werden aufbereitet und analysiert. Aufbereitete Informationen,
das Wissen also, wird sodann an ein Publikum vermittelt sowie von
diesem angewendet und geteilt.» (91f.) Koller beleuchtet nun die Stationen des historiographischen Produktionsprozesses unter der Voraussetzung des digitalen Wandels.

Stand der Dinge

  • Computer werden vermehrt als Erweiterung unserer eigenen kognitiven Fähigkeiten wahrgenommen. Algorithmen erlauben es, Kulturtechniken wie das Lesen und Suchen von Informationen zu automatisieren. Damit verliert der Mensch eine bis dahin ihm vorbehaltene Domäne an die Maschine. (17) Dem Menschen vorbehalten bleibt die tiefe Interpretation von Texten und der Umgang mit Widersprüchlichkeit in Quellen. (10)
  • Archive, Bibliotheken, Erinnerungsorte passen sich den technischen Veränderungen und den neuen Erwartungen ihrer Nutzer an. Sie werden vom Gate Keeper zum Data Broker. (25) Gerade Studierende z.B. wollen heute möglichst ökonomisch recherchieren.
  • Big Data für die Forschung zu nutzen, bedeutet eigentlich auch, möglichst viele Daten zu sammeln, um sie allenfalls später für Analyse und Fragestellungen verwenden zu können. Geschichtswissenschaft wendet mehr quantitative Methoden an und wendet sich damit mehr den Sozialwissenschaften zu. Quantitative historische Analysen erweitern und ergänzen klassische Interpretation von Texten und Quellen.
  • Auch die Darstellungsmöglichkeiten von Geschichte haben sich nach der Digitalen Wende grundsätzlich verändert, sie sind «hypertextueller» geworden, es lassen sich verschiedene Schichten von Zeit und Raum darstellen.

Koller bringt einige Fallbeispiele zu Digital History:

venicetimeThe Venice Time Machine, mit der es möglich sein wird, virtuell durch Zeiten und Orte in Venedig zu navigieren. Rund 80 000 Laufmeter Akten des Staatsarchivs Venedig werden digitalisiert, transkribiert und indexiert. Ergänzend dazu werden tausende von Monografien erfasst und recherchierbar gemacht. Diese Daten werden in einem historischen GIS organisiert und räumlich und zeitlich visuell zur Geltung gebracht. (50, Bild Website)

tradingconsequencesTrading Consequences, dieses Projekt will tausende Dokumente zum Warenhandel im britischen Commonwealth im 19. Jahrhundert zugänglich machen. (52, Bild Website)

republicoflettersMapping the Republic of Letters, indem die Daten von Netzwerken früh-moderner
Gelehrter gespeichert und visuell ausgegeben werden (55, Bild Website). Die Federführung liegt hier bei Stanford, es beteiligen sich aber verschiedenste Institutionen.

sozialeSicherheitBeliebt für Visualisierungen sind  Timelines.
Ein sehr schönes Beispiel aus der Schweiz ist die Geschichte der sozialen Sicherheit (Bild Website). Chronozoom (UC Berkeley) soll seinen Nutzern eine Sicht auf die unermesslich weite Skala der Zeit ermöglichen – vom Big Bang bis zur Gegenwart. (56). Andere Beispiele sind die Vienna Timeline,  eine Informationsseite mit reicher Auswahl an historischem Bildmaterial zum Thema Wien, die Timeline Images der Süddeutschen, das preisgekrönte Pionier-Projekt Valley of the Shadow, welches Quellen zum amerikanischen Bürgerkrieg zugänglich macht oder das Projekt Digital Harlem, eine Plattform mit Quellen zum alltäglichen Leben in diesem Quartier der schwarzen Bevölkerung New Yorks zwischen 1915 und 1930. (57).

Als Beispiel eines transnationalen Projektes bringt Koller das African Colonies Employees Projekt von Stanford, und natürlich wird auch Franco Morettis literaturwissenschaftliches Konzept des distant reading dargestellt.

Perspektiven

openeditionDie Perspektiven, die Koller danach schildert, weisen in Richtung offene Werkstätten, wie sie Marc Bloch darstellte. Eine offene und öffentliche Historische Forschung wurde z.B. beim Schreiben des Buches «Exploring Big Historical Data: The Historian’s Macroscope» angewandt wurde. Der grosse Erfolg des französischen openedition.org, mit momentan über 1500 Blogs von Forscherinnen und Forschern weisen ebenfalls in diese Richtung.

Unter digitalen Vorzeichen wird eine Neukonzeption von Zeit und Raum notwendig sein. Solche Konzepte für die virtuelle Vermittlung von Geschichte «setzen beim Spatial turn an, der die Rolle des Raums betont, und verbinden ihn mit dem Potenzial des Web 2.0. Die Grundidee: Raum als komplexe soziale Formation kann mit Hilfe von GIS (Geographischen Informationssystemen, Anm. Ke) die Distanz zwischen Betrachter und Betrachtetem reduzieren, die Vergangenheit so dynamisch und kontingent wie die Gegenwart erscheinen lassen. Dies erfordert es, Geschichte als Praxis zu sehen. Zeit und Geschichte sind dann eine Serie von Gegenwarten, die sich um einen bestimmten Ort gruppieren.» (74). Konsumenten solcher historischer Zeit-Räume sind zugleich Produzenten, die eigene Briefe, Fotos usw. hochladen können. Eine Deep Map würde jedes Objekt – Brief, Foto, Bericht etc. – in Zeit und Raum verankern und so jede einzelne Sicht auf unseres kulturelles Erbe virtuell zu erhalten erlauben (ebd). Ein Beispiel für eine solche Deep Map könnte das oben erwähnte Venice Timeline Project werden.

Koller bezieht sich auf Yvonne Spielmanns Hybridkultur, die auch auf die Geschichtsschreibung grossen Einfluss haben werde. Hier eine (von Koller nicht erwähnte) Beschreibung:

Japan ist für Spielmann «ein aktuelles Beispiel für einen „Hybridzustand“, da dort auf „engstem Raum in hoher Verdichtung“ (39) traditionell-japanische und westliche kulturelle Praktiken interagieren und zugleich hochtechnologische Kommunikationsformen (interaktive Medien, Computeranimationen, Cyberspace etc.) weit verbreitet und hoch entwickelt sind. Die dortige (künstlerische) Situation stellt sich für Spielmann als Laboratorium für die Zukunft der Hybridkultur im Zeichen von globalen Vernetzungen, transkulturellen Verbindungen und Durchmischungen dar, die durch die neuen technischen Verknüpfungsoptionen in dieser Form erst ermöglicht werden.» (ArtHist Review)

Nach Koller muss Digital History  also über die Kommunikation von Forschungsergebnissen hinaus ein neues Verständnis von Geschichte entwickeln. Konzeptuelle Arbeit für eine hybride, transnationale Digital History muss geleistet werden (86).

Services

Teil III schliesslich «stellt eine Auswahl wichtiger
Infrastrukturen, Projekte, Plattformen, Anwendungen, Standards,
Zeitschriften und Blogs zum Thema vor. Es findet sich darin auch ein
kurzer Überblick über die gängigen Methoden und Verfahren für die
historische Analyse von Daten.» (99) Hier eine breite Auswahl von beschriebenen Infrastrukturprojekten und Plattformen. Im Buch folgen noch Kapitel über Verbände und Zeitschriften,  Blogs, Text Mining/ Topic Modeling/ Inhaltsanalyse, Tools, Maschinenlesbare Sprachen/ Standards, Editionen.:

Infrastruktur

CLARIN-D ist eine forschungsbegleitende Infrastruktur für Geistes- und Sozialwissenschaften, die sich im weitesten Sinne mit Sprache beschäftigen.

DARIAH, Digital Research Infrastructure for the Arts and Humanities, die Schweiz als Nicht-EU-Land kann hier nur cooperative partner sein.

DHLAB, das Digital Humanities Laboratory an der EPFL «develops new computational approaches for rediscovering the past and anticipating the future.»

Portale und Plattformen

ANNO, Austrian Newspapers online, der virtuelle Zeitungslesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek für historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften.

Clio-online, das deutschsprachige Fachportal für die Geschichtswissenschaften, sehr umfassend.

CVCE, Centre virtuel de la connaissance sur l’Europe, die digitale Forschungsinfrastruktur zur europäischen Integration.

DataCite: Locate, identify, and cite research data with the leading global provider of DOIs for research.

Digizeitschriften, Über einen kontrollierten Nutzerzugang können Studierende und Wissenschaftler auf Kernzeitschriften der deutschen Forschung zugreifen.

H-Net, Humanities and Social Sciences online: serving professional historians around the world. Ein Netzwerk von Netzwerken.

H-Soz-Kult, ein Community-Netzwerk, das der Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften dient.

L.I.S.A., (Lesen, Informieren, Schreiben, Austauschen), das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung.

Recensio.net, die Rezensionsplattform für die europäische Geschichtswissenschaft. Rezensionen, die in bedeutenden Zeitschriften erschienen, können durchsucht werden.

Open Book Publishers,  We are a Social Enterprise run by scholars who are committed to making high-quality research available to readers around the world. We publish monographs and textbooks in all areas, and offer the academic excellence of a traditional press, with the speed, convenience and accessibility of digital publishing.

OpenEdition, eine von der französischen Regierung unterstützte Open Access-Plattform für wissenschaftliche Publikationen, die sehr erfolgreich ist. Das Modell könnte für Verlage eine echte Konkurrenz werden.

Schluss

Meines Erachtens ist Guido Koller hier ein Standardwerk mit einem reichen Fundus an sehr hilfreichen Informationen gelungen. Alle Kapitel sind auch einzeln lesbar, was das Buch zwar teilweise etwas redundant macht. Wegen der vielen Links lohnt sich die Anschaffung als eBook, es ist in allen gängigen Formaten erwerbbar.