Geschichte digital

kollerGuido Koller vom Schweizerischen Bundesarchiv beschreibt in «Geschichte digital» (Stuttgart: Kohlhammer, 2015) den Stand des digitalen Wandels in den Geschichtswissenschaften. Er diskutiert Zukunftsperspektiven der «Digital History» und legt einen umfassenden Serviceteil mit bereits bereitgestellter Infrastruktur für Digital History, Portalen, Tools, Zeitschriften, Blogs und Methoden vor.

Koller bezeichnet «Digital Humanities»
als ein wissenschaftliches Praxisfeld, das sich gegenwärtig aus der Verbindung von traditionellen geisteswissenschaftlichen Methoden einerseits und digitalen, informationstechnischen Verfahren und Standards anderseits entwickelt (11).

Der digitale Wandel prägt, wie Koller beschreibt,  «zunehmend die berufliche Praxis von Historikerinnen und Historikern. Er erfasst nicht nur die Produktion und Vermittlung von historischem Wissen, sondern wirkt auch auf die Voraussetzungen für das Schreiben von Geschichte zurück.» (91).

«Das Schreiben von Geschichte ist ein Prozess, der mit dem Sammeln
und Organisieren von Informationen beginnt. Diese Daten und Fakten
werden aufbereitet und analysiert. Aufbereitete Informationen,
das Wissen also, wird sodann an ein Publikum vermittelt sowie von
diesem angewendet und geteilt.» (91f.) Koller beleuchtet nun die Stationen des historiographischen Produktionsprozesses unter der Voraussetzung des digitalen Wandels.

Stand der Dinge

  • Computer werden vermehrt als Erweiterung unserer eigenen kognitiven Fähigkeiten wahrgenommen. Algorithmen erlauben es, Kulturtechniken wie das Lesen und Suchen von Informationen zu automatisieren. Damit verliert der Mensch eine bis dahin ihm vorbehaltene Domäne an die Maschine. (17) Dem Menschen vorbehalten bleibt die tiefe Interpretation von Texten und der Umgang mit Widersprüchlichkeit in Quellen. (10)
  • Archive, Bibliotheken, Erinnerungsorte passen sich den technischen Veränderungen und den neuen Erwartungen ihrer Nutzer an. Sie werden vom Gate Keeper zum Data Broker. (25) Gerade Studierende z.B. wollen heute möglichst ökonomisch recherchieren.
  • Big Data für die Forschung zu nutzen, bedeutet eigentlich auch, möglichst viele Daten zu sammeln, um sie allenfalls später für Analyse und Fragestellungen verwenden zu können. Geschichtswissenschaft wendet mehr quantitative Methoden an und wendet sich damit mehr den Sozialwissenschaften zu. Quantitative historische Analysen erweitern und ergänzen klassische Interpretation von Texten und Quellen.
  • Auch die Darstellungsmöglichkeiten von Geschichte haben sich nach der Digitalen Wende grundsätzlich verändert, sie sind «hypertextueller» geworden, es lassen sich verschiedene Schichten von Zeit und Raum darstellen.

Koller bringt einige Fallbeispiele zu Digital History:

venicetimeThe Venice Time Machine, mit der es möglich sein wird, virtuell durch Zeiten und Orte in Venedig zu navigieren. Rund 80 000 Laufmeter Akten des Staatsarchivs Venedig werden digitalisiert, transkribiert und indexiert. Ergänzend dazu werden tausende von Monografien erfasst und recherchierbar gemacht. Diese Daten werden in einem historischen GIS organisiert und räumlich und zeitlich visuell zur Geltung gebracht. (50, Bild Website)

tradingconsequencesTrading Consequences, dieses Projekt will tausende Dokumente zum Warenhandel im britischen Commonwealth im 19. Jahrhundert zugänglich machen. (52, Bild Website)

republicoflettersMapping the Republic of Letters, indem die Daten von Netzwerken früh-moderner
Gelehrter gespeichert und visuell ausgegeben werden (55, Bild Website). Die Federführung liegt hier bei Stanford, es beteiligen sich aber verschiedenste Institutionen.

sozialeSicherheitBeliebt für Visualisierungen sind  Timelines.
Ein sehr schönes Beispiel aus der Schweiz ist die Geschichte der sozialen Sicherheit (Bild Website). Chronozoom (UC Berkeley) soll seinen Nutzern eine Sicht auf die unermesslich weite Skala der Zeit ermöglichen – vom Big Bang bis zur Gegenwart. (56). Andere Beispiele sind die Vienna Timeline,  eine Informationsseite mit reicher Auswahl an historischem Bildmaterial zum Thema Wien, die Timeline Images der Süddeutschen, das preisgekrönte Pionier-Projekt Valley of the Shadow, welches Quellen zum amerikanischen Bürgerkrieg zugänglich macht oder das Projekt Digital Harlem, eine Plattform mit Quellen zum alltäglichen Leben in diesem Quartier der schwarzen Bevölkerung New Yorks zwischen 1915 und 1930. (57).

Als Beispiel eines transnationalen Projektes bringt Koller das African Colonies Employees Projekt von Stanford, und natürlich wird auch Franco Morettis literaturwissenschaftliches Konzept des distant reading dargestellt.

Perspektiven

openeditionDie Perspektiven, die Koller danach schildert, weisen in Richtung offene Werkstätten, wie sie Marc Bloch darstellte. Eine offene und öffentliche Historische Forschung wurde z.B. beim Schreiben des Buches «Exploring Big Historical Data: The Historian’s Macroscope» angewandt wurde. Der grosse Erfolg des französischen openedition.org, mit momentan über 1500 Blogs von Forscherinnen und Forschern weisen ebenfalls in diese Richtung.

Unter digitalen Vorzeichen wird eine Neukonzeption von Zeit und Raum notwendig sein. Solche Konzepte für die virtuelle Vermittlung von Geschichte «setzen beim Spatial turn an, der die Rolle des Raums betont, und verbinden ihn mit dem Potenzial des Web 2.0. Die Grundidee: Raum als komplexe soziale Formation kann mit Hilfe von GIS (Geographischen Informationssystemen, Anm. Ke) die Distanz zwischen Betrachter und Betrachtetem reduzieren, die Vergangenheit so dynamisch und kontingent wie die Gegenwart erscheinen lassen. Dies erfordert es, Geschichte als Praxis zu sehen. Zeit und Geschichte sind dann eine Serie von Gegenwarten, die sich um einen bestimmten Ort gruppieren.» (74). Konsumenten solcher historischer Zeit-Räume sind zugleich Produzenten, die eigene Briefe, Fotos usw. hochladen können. Eine Deep Map würde jedes Objekt – Brief, Foto, Bericht etc. – in Zeit und Raum verankern und so jede einzelne Sicht auf unseres kulturelles Erbe virtuell zu erhalten erlauben (ebd). Ein Beispiel für eine solche Deep Map könnte das oben erwähnte Venice Timeline Project werden.

Koller bezieht sich auf Yvonne Spielmanns Hybridkultur, die auch auf die Geschichtsschreibung grossen Einfluss haben werde. Hier eine (von Koller nicht erwähnte) Beschreibung:

Japan ist für Spielmann «ein aktuelles Beispiel für einen „Hybridzustand“, da dort auf „engstem Raum in hoher Verdichtung“ (39) traditionell-japanische und westliche kulturelle Praktiken interagieren und zugleich hochtechnologische Kommunikationsformen (interaktive Medien, Computeranimationen, Cyberspace etc.) weit verbreitet und hoch entwickelt sind. Die dortige (künstlerische) Situation stellt sich für Spielmann als Laboratorium für die Zukunft der Hybridkultur im Zeichen von globalen Vernetzungen, transkulturellen Verbindungen und Durchmischungen dar, die durch die neuen technischen Verknüpfungsoptionen in dieser Form erst ermöglicht werden.» (ArtHist Review)

Nach Koller muss Digital History  also über die Kommunikation von Forschungsergebnissen hinaus ein neues Verständnis von Geschichte entwickeln. Konzeptuelle Arbeit für eine hybride, transnationale Digital History muss geleistet werden (86).

Services

Teil III schliesslich «stellt eine Auswahl wichtiger
Infrastrukturen, Projekte, Plattformen, Anwendungen, Standards,
Zeitschriften und Blogs zum Thema vor. Es findet sich darin auch ein
kurzer Überblick über die gängigen Methoden und Verfahren für die
historische Analyse von Daten.» (99) Hier eine breite Auswahl von beschriebenen Infrastrukturprojekten und Plattformen. Im Buch folgen noch Kapitel über Verbände und Zeitschriften,  Blogs, Text Mining/ Topic Modeling/ Inhaltsanalyse, Tools, Maschinenlesbare Sprachen/ Standards, Editionen.:

Infrastruktur

CLARIN-D ist eine forschungsbegleitende Infrastruktur für Geistes- und Sozialwissenschaften, die sich im weitesten Sinne mit Sprache beschäftigen.

DARIAH, Digital Research Infrastructure for the Arts and Humanities, die Schweiz als Nicht-EU-Land kann hier nur cooperative partner sein.

DHLAB, das Digital Humanities Laboratory an der EPFL «develops new computational approaches for rediscovering the past and anticipating the future.»

Portale und Plattformen

ANNO, Austrian Newspapers online, der virtuelle Zeitungslesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek für historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften.

Clio-online, das deutschsprachige Fachportal für die Geschichtswissenschaften, sehr umfassend.

CVCE, Centre virtuel de la connaissance sur l’Europe, die digitale Forschungsinfrastruktur zur europäischen Integration.

DataCite: Locate, identify, and cite research data with the leading global provider of DOIs for research.

Digizeitschriften, Über einen kontrollierten Nutzerzugang können Studierende und Wissenschaftler auf Kernzeitschriften der deutschen Forschung zugreifen.

H-Net, Humanities and Social Sciences online: serving professional historians around the world. Ein Netzwerk von Netzwerken.

H-Soz-Kult, ein Community-Netzwerk, das der Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften dient.

L.I.S.A., (Lesen, Informieren, Schreiben, Austauschen), das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung.

Recensio.net, die Rezensionsplattform für die europäische Geschichtswissenschaft. Rezensionen, die in bedeutenden Zeitschriften erschienen, können durchsucht werden.

Open Book Publishers,  We are a Social Enterprise run by scholars who are committed to making high-quality research available to readers around the world. We publish monographs and textbooks in all areas, and offer the academic excellence of a traditional press, with the speed, convenience and accessibility of digital publishing.

OpenEdition, eine von der französischen Regierung unterstützte Open Access-Plattform für wissenschaftliche Publikationen, die sehr erfolgreich ist. Das Modell könnte für Verlage eine echte Konkurrenz werden.

Schluss

Meines Erachtens ist Guido Koller hier ein Standardwerk mit einem reichen Fundus an sehr hilfreichen Informationen gelungen. Alle Kapitel sind auch einzeln lesbar, was das Buch zwar teilweise etwas redundant macht. Wegen der vielen Links lohnt sich die Anschaffung als eBook, es ist in allen gängigen Formaten erwerbbar.