Einhörner

Raphael (1483–1520), Portrait of a Lady with a Unicorn, ca. 1505–1506. Oil on canvas, transferred from panel, 26 5/8 x 20 15/16 in. (67.7 x 53.2 cm). Galleria Borghese, Rome, inv 371 (Bildquelle Legion of Honor)
Raphael (1483–1520), Portrait of a Lady with a Unicorn, ca. 1505–1506. Galleria Borghese, Rome, inv 371 (Bildquelle Legion of Honor)

Seit ich im Frühjahr Gessners «Icones animalium» (vgl. Blog-Eintrag hier) sah, sind mir ständig Einhörner begegnet. In der Legion of Honor in San Francisco war Raffaels «Dame mit dem Einhorn» («Bildnis einer jungen Frau mit Einhorn», ca. 1506) zu sehen. Ein Gemälde, das oft mit Leonardo da Vincis Mona Lisa verglichen wird.
In der Legion of Honor wurde auch auf die Bedeutung des Einhorns hingewiesen1.

Dass das Einhorn als mythische Kreatur Reinheit und Keuschheit symbolisierte, ist auf den «Physiologus» zurückzuführen, eine frühchristliche Sammlung naturkundlich-allegorischer Beschreibungen, aus der die mittelalterlichen Bestiarien entstanden sind 2. In der Burgerbiblothek Bern befindet sich ein um 830 entstandener Physiologus mit folgender Abbildung:

physiologus
Aus dem Physiologus Bernensis Bern, Burgerbibliothek, Cod. 318, Pergament · 131 ff. · 25.5 x 18 cm · Reims · um 830. (http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/bbb/0318)

Eine Übersetzung des Texts zum Einhorn aus dem zweiten Jahrhundert findet sich bei Hans Zimmermann .

Das Einhorn wird als kleines Tier beschrieben, das so wild und stark sei, dass es von Jägern nicht gefangen werden könne. Das Tier hat aber eine Schwäche: eine Vorliebe für Jungfrauen. Immer wenn ein Einhorn eine Jungfrau sieht, schläft es auf ihrem Schoss ein und kann jetzt von Jägern gefangen oder getötet werden. Bilder von Einhörnern im Schoss von Jungfrauen waren darum in der religiösen und säkularen Kunst beliebt.

In der religiösen Kunst ist das Einhorn Allegorie für Christus, die Jungfrau für Maria.

Im säkularen Bereich identifizieren sich Dichter mit dem Einhorn, das sich einer Frau ergibt, um dann durch die Liebe zu sterben. Im «Bestiaire de l’amour» nimmt Richard de Fournival um 1250 die auf den Physiologus zurückgehende Tradition des moralisch-religiösen Tierbuches auf, gestaltet diese aber radikal um: Die Tiere und ihr Verhalten werden nicht mehr christologisch-heilsgeschichtlich gedeutet sondern in einem weltlich-profanen, erotischen Sinne. Mit seinem «Bestiaire de l‘amour» richtet er sich an eine «Dame», die er von seiner Liebe überzeugen möchte3.
Die Übersetzung aus dem Altfranzösischen ins Englische in der Ausstellung der Legion of Honnor: «Then love, who is a clever hunter, put a maiden in my path and I fell asleep at her sweetness and I died the sort of death that is appropriate to Love».

Richard de Fournival, Bestiaire d’Amours. Date d’édition : 1330-1350, manuscrit, http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8452195w/f154.image

Die Kuratoren in San Francisco folgern, dass das Porträt von Raffael die beiden Seiten der Einhorn-Darstellungen beinhalte, einerseits wird die Keuschheit der Frau damit belegt, dass das Einhorn bei ihr sitzt, andererseits hält sie die Vorderbeine des Tieres fest und zeigt damit, dass sie das Tier gefangen hat, gefangen mit ihrer Verführungskraft.

df_hauptkatalog_0030421 Das Motiv «Einhorn mit Jungfrau» war im Mittelalter durchaus verbreitet, hier z.B. auf einer Spielkarte um 1450 (Meister E.S.)

Meister E S Verwalter: Dresden, Staatliche Kunstsammlungen Dresden (SKD), Kupferstich-Kabinett, Signatur/Inventar-Nr.: Lehrs Nr. 229. Bild: Deutsche Fotothek

einhorn5 Auch in Heinrich Schlüsselfelders belehrenden Kurzerzählungen «Blumen der Tugend»(1468) ist eine Jungfrau mit Einhorn abgebildet.
St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vadianische Sammlung, VadSlg Ms. 484, f. 179 – Heinrich Schlüsselfelder (http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/vad/0484/179)

Im Pontifikal-Messbuch des St. Galler Abtes Diethelm Blarer (1530-1564) wird das Einhorn ebenfalls gejagt, allerdings durch einen Jagdhund an der Leine eines Putto:

putto
Das Pontifikal-Messbuch des St. Galler Abtes Diethelm Blarer (1530-1564) St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 357 Pergament · 361 pp. · 37-37.5 x 26 cm · St. Gallen · 1555. http://www.e-codices.unifr.ch/de/csg/0357/315

springdesEinhornAus der gleichen Zeit stammt das springende Einhorn von Heinz Reisinger (Augsburg, kurz vor 1589), das in den Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden ausgestellt ist. In diesem Museum wird auch klar, warum Conrad Gessner die Existenz des Einhorns als durchaus möglich angesehen hat. Der neben dem «springenden Einhorn» gezeigte Zahn eines Narwals, könnte durchaus für ein Horn gehalten werden.

Narwal
1 Vgl. auch den entsprechenden Wikipedia-Artikel
2 Kurzcharakterisierung Burgerbibliothek Bern, http://www.e-codices.unifr.ch/de/bbb/0318/16v (5.8.2016)
3 https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_de_Fournival

Gessners Einhorn in China

Die Universität Zürich berichtet anlässlich des 500. Geburtstages des Züricher Universalgelehrten Conrad Gessner in einer Medienmitteilung auch darüber, dass der Zürcher Stadtarzt und Gelehrte Conrad Gessner als Erster versuchte, die Tiere aller damals bekannten Kontinente zu beschreiben. Gessner gilt deshalb als einer der Begründer der modernen Zoologie.

Bild: Zoologisches Museum der Universität Zürich
Bild: Zoologisches Museum der Universität Zürich

Im zoologischen Museum ist momentan auch ein Einhorn ausgestellt, weil Gessner es in seine Enzyklopädie aufnahm und seine Existenz bestätigte, allerdings anfügte, lediglich ein Horn gesehen zu haben. Erst später wurde bekannt, dass die Einhörner zugeschriebenen Hörner Zähne des Narwals sind.

Der moderne Buchdruck ermöglichte eine schnelle Wissensverbreitung. Die Universität Zürich berichtet, dass das Bild der Giraffe in Gessners «Icones animalium» den Weg bis nach China fand, wo es 1725 in einer Enzyklopädie erschien.

Nicht nur die Giraffe gelangte aber nach China, wie die Ausstellung  «China at the Center: Ricci and Verbiest World maps» im Asian Art Museum in San Francisco zeigt. 50 Jahre früher kam bereits Gessners Einhorn dort an. In San Francisco ausgestellt sind die in China hergestellten Weltkarten von Matteo Ricci und Ferdinand Verbiest. Der flämische Jesuit Ferdinand Verbiest (1623–1688) hatte Mathematik, Philosophie, Astronomie und Theologie studiert und wurde von seinem Orden mit Missionsarbeit in China betraut, wo er 1658 ankam. Die Jahre nach dem Fall der Ming-Dynastie 1644 waren für die Jesuiten schwierige und gefährliche Jahre. Ihre Politik war – wie schon in den Jahren von Matteo Ricci – Vertrauen durch wissenschaftliche Leistungen zu schaffen und so auch den Boden für eine Missionierung zu legen. Verbiest gewann einen öffentlichen Astronomie-Wettbewerb und wurde so als Nachfolger seines Ordensbruders Johann Adam Schall von Bell Direktor des kaiserlichen astronomischen Büros («kaiserliches Kalenderamt»), wo er seine vielseitigen Begabungen in die Dienste des Manchu-Hofes (Quing-Dynastie) mit Kaiser Kangxi stellen konnte. Mit chinesischen Mitarbeitern stellte er eine der grössten mit Holztafeldruck gedruckten Weltkarten her.

Die Karte kann auf der Website der Library of Congress unter ihrem chinesischen Namen «Kun yu quan tu» abgerufen werden. Das Asian Art Museum stellt die Karte interaktiv zur Verfügung.

Auf der Verbiest-Karte von 1674 ist Gessners Einhorn (es soll in Indien leben) deutlich zu sehen:

einhornverbiest_kl