Reden über die Schweiz – ein Kleinstaat und die grosse Welt
Applied History Lectures Sommersemester 2016
«Die Schweiz hat eine weltweit fast einzigartig «gute» Geschichte: Niemals war sie aggressiver Machtstaat, stets eher Mittlerin und während grosser Kriege neutral; meist weltoffen, bot sie vielen Verfolgten Asyl. Ihre innere kulturelle Vielfalt schulte in Pragmatismus und Kompromiss. Ihre Sozialsysteme suchen weithin ihresgleichen, ihr öffentlicher Nahverkehr funktioniert pünktlich. In der jüngeren Vergangenheit haben sich die Rahmenbedingungen des langwährenden eidgenössischen Glücks verändert. Swissair-Grounding und Erosion des Bankgeheimnisses sind nur zwei Stichworte. Kritiker beobachten Ausländerfeindlichkeit, einen neuen Nationalismus, deren Ausdruck Minarett-Verbot und Einwanderungsinitiative sind. Unverkennbar ist wachsende Distanz zu Grossorganisationen wie der Europäischen Union. Unsere Gesprächsreihe versucht, den Stand der Dinge zu reflektieren.» So die Ankündigung der «Applied History Lectures» der Universität Zürich im Sommersemester 2016.
Prominente Gäste aus Kultur, Politik und Wissenschaft diskutieren mit dem Politikwissenschaftler und Journalisten Stephan Klapproth.
Am ersten Themenabend unterhält sich Stephan Klapproth mit Ludwig Hasler (*1945), der Physik und Philosophie studierte und sowohl akademisch wie journalistisch (Chefredaktor St. Galler Tagblatt und der alten Weltwoche) tätig war.
Klapproth macht eine fulminante Einführung zum Zyklus, zitiert Heirich Heine: «Die Schweizer haben Gefühle, so erhaben wie ihre Berge, aber ihre Ansichten der Gesellschaft sind so eng wie ihre Täler.» und sein erstes journalistisches Vorbild Niklaus Meienberg: «Wo Berge sich erheben, wie Bretter vor dem Kopf» (Elegie über den Zufall der Geburt, für Blaise Cendrars).
Dann stellt er Ludwig Hasler vor, nennt ihn den «Sokrates von Zollikon».
Ludwig Hasler beginnt seine Ausführungen, damit dass die Schweiz im eben erschienenen World Happiness Report hinter Dänemark nur noch den zweiten Rang einnimmt, was ja immer noch auf ein sehr glückliches Land schliessen lässt. Aber: «Wir mögen glücklich sein, aber man sieht es uns nicht an». Oder mit Hugo Lötscher: «Wir Schweizer sind im Prinzip muff». (Die Waschküchenschüssel – oder was wenn Gott Schweizer wäre).
Hasler meint, Schweizer zu sein sei mehr eine Erinnerung als ein Faktum. Er beruft sich für diese Aussage auf John Locke (vgl. dazu einen Vortrag von Reinhardt Brandt an der Uni Marburg): Was Identität stiftet ist nur das Erinnern. Locke stellte sich vor, dass ein Fürst mit den Erinnerungen eines Schusters aufwache und der Schuster mit den Erinnerungen des Fürsten. Der Fürst wacht wie üblich in seinem Palast auf, und äusserlich ist er dieselbe Person, die er war, als er sich schlafen legte. Aber da er statt seiner eigenen Erinnerungen die des Schusters hat, meint er, der Schuster zu sein.1
Für Fragen der Identität zählt nur die psychische Identität. Es stellt sich also die Frage: Woran erinnern sich Schweizerinnen und Schweizer, wenn sie mal aufwachen… An Heidi, Schellenursli? Beide Geschichten erzählen vom glücklich Sein in den Bergen (und nur dort – in Frankfurt war Heidi ja überhaupt nicht glücklich)
Johann Jakob Scheuchzer (1672 – 1733, Zürich) glaubte, er könne diese Erinnerungsqualität fixieren. Scheuchzer sah in jedem Entwicklungsschub einen göttlichen Impuls, in seiner «Jobi Physica Sacra» verfolgt er die Absicht zu zeigen, dass der Theologie nicht nur der Weg des biblischen Offenbarungsglaubens offen steht, sondern dass Naturerkenntnis zum Verständnis der Bibel führt. Die Alpen waren für ihn gleichsam pädagogische Kulisse für die Erziehung des einheimischen Geschlechts, des «homo alpinus»: redlich, gerecht, mutig und automatisch auch bescheiden.
Hinter dieser Ansicht steckte natürlich schon immer mehr Ideologie als Empirie, zu Scheuchzers Zeit waren bereits viele Hugenotten in die Schweiz eingewandert, eine Vorhut der Moderne, die auch die Uhrenindustrie und die Banken begründeten.
Aber auch war die Herkunft aus den Bergen vor allem Symbolik, der Wunsch des kompletten Übereinstimmens von Denken, Fühlen, Handeln, wie sie nur in den Bergen zu haben sein schien, in einem einfachen alpinen Dasein ohne Entfremdung.
Interessanterweise sind solche Vorstellungen in den meisten Ländern begleitet von völkischen Vorstellungen, was in der Schweiz aber nicht der Fall war. Sie brachte es fertig, den Staat auf Diversität aufzubauen: Berge statt Rasse, gegen Feinde von aussen wie gegen die Erosion durch die Moderne.
Schweizerinnen und Schweizer sehen sich gerne als Kinder einer vorgesellschaftlichen Natur, haben mit der Moderne lieber nichts zu tun. Ist das so? Oder einfach nur Erinnerung?
Scheuchzer spricht wohl von einer Teilwahrheit. In den Bergen hat es keine Bodenschätze, kein Öl. Wir müssen uns selber helfen. Nicht klein beizugeben ist eine Überlebensnotwendigkeit. In dem sich der schweizerische Mensch den Umständen anpasste, machte er sich stark.
Lange wanderten Tausende aus, aber im 20. Jahrhundert wurde die Schweiz eine globale Erfolgsstory. Mit der alpinen Mentalität konnte man also reich werden. Aber kann man auch reich bleiben?
Weil wir in der Schweiz ein so fabelhaftes Leben haben, wollen wir es auch behalten. Wir wollen keine Zukunft, sondern Fristerstreckung für die Vergangenheit. Die Erinnerung lebt weiter: Schweizer als hochflexible Kampfsäue, die durch Flexibilität, Bodenhaftung und Robustheit den Österreichern bei Morgarten die Köpfe einschlugen.
Momentan sind wir aber nicht mehr robust, sondern eine alternde Wohlstandsgesellschaft. Die Tugenden wie Fleiss, Ausdauer, Erfolgshunger haben eher die Balkankids.
Ludwig Hasler meint, wir müssten uns von dieser Identität verabschieden, sollten sie noch als Erinnerung behalten, aber das 21. Jahrhundert mit seiner Kultur der Ungereimtheit akzeptieren. Wer mit sich im Reinen sein will, kommt im 21. Jahrhundert nicht an. Die Schweizerinnen und Schweizer ertragen aber Widersprüche nicht, sie wollen Feuer ohne Rauch, Wohlstand ohne Veränderung, «Ernährungssicherheit» plus Freihandel mit der ganzen Welt. In Zollikon hängen alle ständig am Mobiltelefon, aber sie wollen keine Antenne, wir wollen fliegen ohne Flugrouten, Früchte der Arbeit ohne schmutzige Finger usw. Mit Jahrhundertprojekten wie der Energiewende kann die Gesellschaft schon gar nicht umgehen.
Also: Wie gelangen wir zu mehr Zukunft statt zu einer Fristerstreckung der Gegenwart? Die heutigen Neo-Schweizer können sich besser heidiisieren, die anderen sind zu bequem, zu ehrgeizlos, zu faul, zu satt. Die Milizidee ist abhandengekommen. Eine beliebte Frage lautet: «Was gedenkt der Bund zu tun?» Der Staat soll sich darum kümmern, dass alle Kinder schwimmen können, dass die Fresssucht abnimmt usw. Wir leben derweil immer gesünder und fühlen uns immer kränker. Wir haben uns besser im Griff, bewirken aber nichts mehr und werden depressiv. Das hat auch mit dem Wegfall der Religion zu tun. Das kulturelle Belohnungssystem für harte Arbeit, für Entbehrungen ist weggebrochen, wir sind metaphysisch obdachlos, mit dem Leiden allein. Wenn wir mit dem Leiden allein sind, dann hat es keinen Sinn. «Gott ist tot (Nietzsche) ». Darunter schrieb jemand «Nietzsche ist tot (Gott) »
Die anschliessende Diskussion dreht sich auch darum, dass der Mensch einen Gott oder eine Zukunft brauche, vielleicht sei das ja dasselbe. Heute drehe sich aber alles um «Ich, Ich, Ich». Ich-Optimierung sei der Sinn des Lebens geworden, auch die 70- und 80-Jährigen sind pausenlos damit beschäftigt, haben ihr Leben so wahnsinnig im Griff. Die Gratifikation: 5 Jahre länger dement. Dabei wird man doch glücklich, wenn man sich in etwas verlieren kann, nicht wenn man sich pausenlos im Griff hat. Der Mensch leidet daran, ständig Ich sein zu müssen, anstatt sich auch hingeben, sich verausgaben zu können.
Hasler meint, es sei schwierig Christ zu sein, aber noch viel schwieriger, nicht mehr Christ zu sein. Wenn es keine Kompensation mehr für Stillstand gibt, dann ist Stillstand nur noch Stillstand.
Und als einigermassen ernüchterndes Fazit: Wenn wir so weiter machen, brauchen wir nicht Brüssel, um unsere Freiheit zu gefährden, das schaffen wir schon selbst.
1 Warburton, Nigel. 2014. Die kürzeste Geschichte der Philosophie. Hamburg: Hoffmann und Campe. (Google)