Ich erwache in der Nacht, weil ein Eisregen aufs Dach trommelt und es ziemlich kalt ist. Das Zimmer wird mit einem Elektroofen geheizt und bei stärkeren Winden stellt das Stromwerk den Strom für das ganze betroffene Gebiet ab. Grund ist, dass dann oft Strommasten kippen; die dadurch entstehenden Kurzschlüsse mit Funkenschlag können zu Waldbränden führen. (Noch häufiger entstehen Waldbrände durch weggeworfene Glasflaschen, die als Lupen die sehr trockene Taiga zu entzünden vermögen.)
Am Morgen ist dann wieder alles weiss. Ich mache einen Spaziergang und verabschiede mich von dieser Gegend. Die Zeit in der Natur hat mir gut getan.
Nach dem Mittagessen fahren wir über die Piste zurück nach Irkutsk.
Die Stadt entstand gemäss dem Transsib-Handbuch 1661 als russische Festung im Kampf gegen die Burjaten, wurde aber bald zur wichtigen Handelsdrehscheibe. Pelze aus Sibirien, Tee und Seide aus China. Irkutsk war Ausgangspunkt der Eroberung des Fernen Ostens, von hier aus wurden die russischen Gebiete bis Alaska und Kalifornien verwaltet.
Die Stadt bekam im 19. Jahrhundert wichtige Impulse durch die Dekabristen (Wikipedia), die nach dem gescheiterten Dezemberaufstand in St. Petersburg nach Sibirien verbannt worden waren. Nach Jahren der Zwangsarbeit liessen sich viele hier nieder, die Stadt wurde zu einem Zentrum der damaligen Intelligentsja.
Ein verheerender Stadtbrand vernichtete Ende 19. Jahrhundert etwa zwei Drittel der Stadt. Es gibt aber immer noch alte Holzhäuser, eine Barockkirche, Gebäude aus dem 18. und 19. Jahrhundert und natürlich auch aus der Sowjetzeit. Man merkt der Stadt ihre lange Geschichte an, sie wirkt wegen ihrer kunterbunten Mischung von Baustilen viel weniger streng als Novosibirsk. Die grösste Stadt Ostsibiriens hat auch ein starkes asiatisches Element, man sieht viele Asiaten (Burjatinnen, Mongolen), einige Busse sind mongolisch angeschrieben, es gibt einen grossen „chinesischen Markt“. Den Kaffees, Anschlagbrettern, Graffiti nach zu schliessen, scheint es auch eine aktive alternative Szene zu geben.
Die Stadt mit ihren gegen 700’000 Einwohnern liegt weit weg von Moskau und Novosibirsk. Das hat positive Seiten, vieles wirkt quirlig, lebendig, aber auch negative, die alte Bausubstanz ist z.T. bis zur Unkenntlichkeit mit Reklame übersät oder am Verfallen. Die alten Holzhäuser stehen zwar unter Schutz, weil sich die Besitzer Renovationen aber nicht leisten können, „beginnen sie plötzlich zu brennen“, wie sich Ivan ausdrückt. Die Stadt baut dann neue, um den Anschein eines historischen Zentrums zu wahren.
Viele jungen Leute, eine entsprechende Szene, ein Vielvölkergemisch, etwas kaputt, aber nur so weit, dass es noch interessant ist – ich meine, die Stadt hätte das Zeug Kultstatus zu erlangen, ein Brooklyn des Ostens, bevor es Mode wurde.
Ich wohne in einem 100-jährigen Holzhaus. Galina, die Vermieterin erklärt mir, was ich alles ansehen solle und wo ich besser wegen Taschendieben vorsichtig sein solle (meist in „chinesischen“ Märkten). Zwischen Fenster und Vorfenster zieht sie Tomaten und freut sich auf Juni, wenn sie dann reif sind.
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Birkenwälder und kleine Dörfer
Das erste Mal fahre ich jetzt auf der klassischen Strecke der transsibirischen Eisenbahn. Alles ist ein bisschen weniger improvisiert als auf den anderen Strecken. Auch die Geschwindigkeit des Zuges ist höher, ich schätze etwa 80 km/h.
Und es gibt – der einzige Abschnitt dieser Bahnreise – keine Zollkontrollen. Ich komme heute viel zum Lesen.
Der Frühling beginnt, Schneeschmelze und das Auftauen der Böden haben überall eingesetzt. Entlang der Bahnstrecke lose Birkenwälder, Fichtenwälder, viele kleine Dörfer, Forstwirtschaft.
Gegen Mittag sind wir in Krasnojarsk, die beiden Frauen und der Mann, alle viel jünger als ich, die mit mir das Abteil geteilt haben, machen sich bereit zum Aussteigen. Der Trainingsanzug wird wieder gegen Business-Kleidung getauscht, die Frauen investieren viel Zeit in das Make-up, auch Schuhe werden geputzt und Stiefel gewichst. Mit einem до свидания! verabschieden sie sich.
Der neu zusteigende Mitreisende baut dann ein ganzes Medikamentenarsenal auf dem Abteiltisch auf. Dann löst er Kreuzworträtsel, trinkt Arzneien, schnäuzt und hustet. Ich hoffe, dass ich unterdessen einigermassen immun gegen sibirische Käfer bin…
Die Zeitverschiebung zu Zürich beträgt unterdessen schon acht Stunden. Morgen früh kommen wir in Irkutsk an. Danach möchte ich gleich weiter zum sicher noch gefrorenen Baikalsee. Mit einer Tiefe von 1637 Metern ist er der tiefste See der Welt und auch seine Länge von 636 km und seine Breite von 27 – 80 km sind beeindruckend. Hier liegen 20% der Süsswasservorräte der Erde.
In den ersten Jahren der Transsib wurden die Züge mit Fähren über den See gefahren.
Kunstmuseen, Ballett, Hochschulen
Der Novosibirsker Morgen ist grau in grau. Lisa macht Blinis, erzählt von der Ukraine, aus der sie kommt und wo Bruder und Eltern noch leben. Ausser Galizien, das früher zu Österreich-Ungarn gehörte, habe das Land praktisch die gleiche Kultur und Sprache wie Russland. Da gebe es keine Unterschiede. Was sich abspiele, sei ein Machtkampf der Eliten. Als Julia Timoschenko inhaftiert wurde, habe ihr das damals Leid getan, aber falls Julia die Wahlen gewonnen hätte, hätte sie einfach die Gegenseite unter Arrest gesetzt. Mit den Einwohnern des Landes habe dieser Konflikt herzlich wenig zu tun. Die hätten wirtschaftliche Probleme, weil diejenigen, die gerade am Ruder seien, ohnehin nur für sich schauten.
Dann balanciere ich zwischen Eisfeldern, Matsch und riesigen Dreckpfützen ins Zentrum. Wer etwas gebrechlich ist, kann sich hier im öffentlichen Raum nicht bewegen, auch wegen der vielen Treppen, hart schliessenden Türen zu den Metrostationen, wegen ihrer Höhe nicht überwindbaren Einstiege in die Eisenbahnwagen.
Die Museen öffnen erst um elf, vorher lese ich in einem der vielen – und teuren – Kaffees mit WiFi über das Bildungssystem – so ganz den Durchblick habe ich noch nicht.
Das Kunstmuseum ist gut bestückt mit russischen Gemälden, von Ikonen bis in die heutige Zeit. Es gibt viele Parallelen zu den westeuropäisch-amerikanischen Epochen und auch Zeitabschnitte mit kulturraumspezifischen Stilen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind auch historisch interessant.
Roerich ist wieder gut vertreten, er sei ein rechter Gauner gewesen, meint Lisa und erst noch Vegetarier.
Die verschiedenen Kulturabteilungen der Botschaften unterstützen ebenfalls Ausstellungen. Im Moment finanziert Israel eine Ausstellung mit Grafiken des Holocaust-Überlebenden und durch den Film „Schindlers Liste“ bekannt gewordenen Joseph Baum (Nachruf im Guardian). Österreich bringt eine Ausstellung über die Malerin Hermine Kracher, die den Seewinkel im Grenzgebiet zwischen Oesterreich und Ungarn malt, eigentlich die erste zentralasiatische Steppe.
Am späteren Nachmittag hellt es etwas auf, das Lenindenkmal vor dem Wahrzeichen der Stadt, dem staatlichen Theater für Oper und Ballett sieht freundlicher aus. Ich besuche den Zentralmarkt, unzählige Händler verkaufen hier an fest installierten Ständen und in kleinen Butiken alles. Die sehr vielen Fruchtstände und Stände mit getrockneten Früchten geben dem Markt eine sehr farbige Note.
In der Nähe liegt auch die Dreifaltigkeitskirche.
Am frühen Abend gehe ich ins staatliche Theater für Oper und Ballett, um dieses grösste Theater Russlands, auf das alle stolz sind, auch von innen zu sehen. Das Theater wurde knapp vor dem zweiten Weltkrieg gebaut, es diente zunächst der Aufbewahrung all der aus Moskau evakuierten Kulturgüter und wurde als Theater deshalb erst 1945 eröffnet: Junona und Avos, eine Art Rockballett aus den frühen 1980-er Jahren: ein russischer Hochseekapitän, der in Kalifornien 35 Jahre lang eine Geliebte sitzen lässt, bis sie schliesslich Nonne wird. Eine eindrucksvolle Choreographie mit viel Kerzen und Farben, soweit ich das beurteilen kann auch gut getanzt. Die Zuschauer, auch die vielen Schülerinnen und Schüler haben sich alle schön angezogen und freuen sich, im Theater zu sein.
Bevor das Taxi mich abholt, sitze ich nochmals mit Lisa und Ivan zusammen. Ivan hat meinen Blogeintrag über das Bildungssystem gelesen, wo ich auch eine Bemerkung über die Gefahr von korruptionsnahen Praktiken bei Wiederholungsprüfungen gemacht habe. Ich habe mich dabei an einen Beitrag in den von der Uni Bremen publizierten Russlandanalysen (PDF) erinnert, den ich heute Morgen im Kaffee runtergeladen habe. Ivan betont, dass er während seiner ganzen Zeit als Student nie so etwas erlebt und auch nie davon gehört habe. An den Unis, die er kenne, komme das nicht vor. Es sei ein Problem, dass durch solche Berichte russische Studienabschlüsse im Westen abgewertet würden. In Unternehmerforen im Internet würde z.B. vor Doppelabschlüssen gewarnt, obwohl ein Doppelabschluss für Studierende eine enorme Anforderung bedeute. Lisa meint, sie möchte nicht zurück ins sowjetische System, aber damals sei es eindeutig gewesen, dass nur die leistungsmässig sehr guten Schülerinnen und Schüler einen Studienplatz bekommen hätten. Unterdessen sei der Studienzugang ja auch mit weniger guten Leistungen und dem Bezahlen von Studiengebühren möglich. Einige solche Studierenden hätten dann z.B. null Interesse, eine Fremdsprache zu lernen, wie es das Curriculum für die ersten beiden Studienjahre vorsehe. Ihr habe auch darum – und wegen der ganzen Bürokratie (kommt mir irgendwie bekannt vor…) – das Unterrichten an der Uni keinen Spass mehr gemacht. Ein Problem ist sicher die sehr hohe Studienquote (die beiden schätzen etwa 80% eines Jahrgangs). Ein duales Berufsbildungssystem kennt man wenig. Ausnahmen sind längere Praktika während der Masterphase oder die „Mittelhochschulen“, die auch mit praktischer Arbeit gekoppelt sind.
Aber Ivan hat sicher Recht. Ich nehme mir vor, vorsichtiger zu sein mit solchen Aussagen. Pauschalisierungen, die man (d.h. auch ich) halt gerne vornimmt, um sich in einem unbekannten System zurecht zu finden, führen auf Abwege und können diskreditierende Wirkungen haben.
Kurz nach 22 Uhr klingelt der Fahrer und bringt mich zum Bahnhof. Zug 12, Wagen 7, Liege 13. Zwei Nächte wird die Fahrt nach Irkutsk dauern. Ich tausche Lisas Stube nicht so gern gegen meinen Nachtzug.
Tauwetter
Manchmal staune ich, dass ich jetzt diese Reise mache. Als Jugendlicher hatte ich eine grosse Weltkarte über meinem Bett hängen. Oft verfolgte ich darauf die Route von Europa in den Fernen Osten. Novosibirsk, das lag etwa in der Mitte – ich sehe es noch vor mir auf der Karte. 1979 verunmöglichte mir die sowjetische Invasion in Afghanistan dann, auf dem Landweg nach Asien zu reisen und ich flog direkt nach Indien. Und jetzt bin ich wirklich hier, Novosibirsk, es nennt sich auch das Zentrum Asiens. Schön. Ein Privileg. Und irgendwie unwirklich.
Die „wegelose Zeit“ nannte man das Tauwetter in Sibirien. Wenn all die Naturwege zu Matsch werden, das Eis auf den Seen nicht mehr überquert werden kann, dann kommt man kaum noch von einem Ort zum anderen. Aber auch in der Grossstadt herrscht ein grosser Matsch und Dreck. Die Leute balancieren zwischen riesigen Pfützen, Eisflächen und Dreck.
Ich besuche das Museum der Transsibirischen Eisenbahn. Der Mann an der Eingangstür, dessen einziges Fremdwort das deutsche „Ausweis!“ ist, lässt es meinetwegen extra öffnen, auch wenn ich lediglich eine Passkopie dabei habe und er mir meine Erklärung, der Pass sei im „Hotel Lisa“ nicht wirklich abnimmt. Aber – die Rolle ist für mich neu – die komischen Vögel kurz vor dem Rentenalter halten zusammen und lachen miteinander, als die Angestellte das Museum aufschliesst. Einige interessante Ausstellungsstücke vom früheren Transport mit dem Schlitten über Brückenbau bis zu den verschiedenen Uniformen, die das Bahnpersonal trug.
Am Nachmittag komme ich am Roerich-Zentrum (Website, russisch) vorbei. Nicolas Roerich (Wikipedia), sein Frau Helena (do.) und ihre beiden Söhne (do.) kannte ich nicht. Mir scheint, ihm gelingt in seinen Bildern eine Synthese der hier aneinander grenzenden Kulturen aus dem Zentralasien, dem Himalaya, Indien und Russland. Ob das auch für den philosophischen Unterbau gilt, kann ich schwer beurteilen. Die Familie hat durch diese Weltgegend mehrjährige Expeditionen unternommen. Auch in diesem Museum bin ich der einzige Besucher, ein Mitarbeiter nimmt sich zwei Stunden Zeit, um mir alles zu zeigen.
Am Abend nehmen mich die ältere Tochter Lisas, Aleksandra und Ivan mit zu einem Konzert mit keltischer Musik in einem verrauchten Klub. Die jüngere Tochter spielt Dudelsack und die verschiedensten Flöten. Etwa vier Gruppen, die Formationen wechseln ständig, spielen vom Irischen Folk bis zu ziemlich hartem Irischen Rock ein sehr gutes Programm. Viel Spielfreude und sehr hohes Niveau, man vergisst völlig, dass wir in Novosibirsk und nicht in Skibereen oder Dublin sind.
Akademgorodok
He Gans! meint Samir in der Nacht und gibt mir zu verstehen, dass wir jetzt wieder das Abteil wechseln müssen, weil Neueinsteigende auf ihrem Abteil beharren. Das H können die Russen kaum aussprechen und Hans-Jürg finden sie auch ziemlich schwierig, ich bin also meist „Gans“. Und Gans zügelt natürlich bereitwillig auch mitten in der Nacht seine Siebensachen ins nächste Coupé.
Wenn sich das Licht im Abteil verändert und ich erwache, ist das meist, weil wir einen langen Containerzug kreuzen. Computer und andere Waren aus China auf dem Weg nach Europa. Diesen Weg muss vor einigen Monaten auch mein iPad von China in die Schweiz genommen haben (vgl. das interessante Feature der New York Times über die New Silk Road)
Novosibirsk, die Hauptstadt Sibiriens empfängt mich am Morgen mit Schneetreiben und Schneematsch. Die Stadt zählt rund 1.5 Mio Einwohner. Sie wurde beim Bau der Transsibirischen Eisenbahn westlich des Ob‘ gegründet, weil man das Gebiet als für die Brücke über den Ob‘ geeignet ansah. Östlich hätten, wie mir heute Ivan, ein Indigener aus Nordsibirien erzählt, schon immer „Ureinwohner“ („ja, wir nennen uns so“) gewohnt.
Untergebracht bin ich bei Lisa, Deutschlehrerin und Fremdenführerin, in einem der letzten kleinen Holzhäuser im Zentrum von Novosibirsk. Ivan wohnt auch hier, er studiert an der hiesigen Technischen Universität Elektroingenieur, hat kürzlich ein jähriges Praktikum in Regensburg abgeschlossen und spricht besser Deutsch als ich.
Seine Mutter ist Direktorin einer Schule in Yakutsk, vier Flugstunden entfernt, im Norden Sibiriens. Er kennt Hochschulwesen und Volksschule bestens, begleitet mich den ganzen Tag und gibt mir unermüdlich Auskunft.
Mit Metro und Bus fahren wir Richtung Akademgorodok, übersetzt dem „Städtchen der Wissenschaft“.
Auf dem Weg sehen wir uns aber noch das Eisenbahnmuseum an, in dem Lokomotiven und Rollmaterial aus allen Zeiten der russischen Eisenbahngeschichte stehen.
Auch ein Gefängniswagen ist zu sehen, mit dem bis 1969 Gefangene in den Gulag transportiert wurden.
Danach bringt uns der Bus nach Akademgorodok. Es ist weit mehr als ein Städtchen, sondern eine Universitätsstadt, etwas Dreiviertelstunden von Novosibirsk entfernt. Wenn man sich die – nie höher als die Birken gebauten – Plattenbauten wegdenkt und Backsteingebäude hinzu, könnte man auch an einer Ostküstenuni der USA sein.
Akademgorodok entstand 1957 als sibirischer Standort der Akademie der Wissenschaften. Hier sind unterdessen vierzehn wissenschaftliche Institute und die Novosibirsker Universität angesiedelt. Der Campus steht in einem Birkenwald am Rand des riesigen Stausees, der Obsker Meer genannt wird. Etwa 70’000 Einwohner leben in diesem Wissenschaftsstädtchen, das eine offene, internationale Atmosphäre mit vielen Kaffees mit WiFi, kulturellen Veranstaltungen, studentischen Treffpunkten ausstrahlt. Die Institute und die Uni hier haben einen guten Ruf, man spricht vom Silicon Valley des Ostens.
Ivan erklärt mir das Hochschulsystem aus seiner Sicht. Mit 17/18 Jahren endet die für alle obligatorische 11-jährige Schulzeit mit einer Schulabschlussprüfung, auf die man sich die zwei Jahre vor Abschluss in der Schule und mit Nachhilfestunden intensiv vorbereitet. Die Abschlussprüfung entscheidet darüber, an welche Hochschulen man zugelassen wird und vor allem auch, ob man die Hochschule gebührenfrei besuchen kann oder eine für viele prohibitive Studiengebühr bezahlen muss. Sie beträgt etwa 500 Euro pro Semester, ist für die meisten Einkommen also sehr hoch. Die Elitehochschulen wie die Lomonosov-Universität in Moskau haben das Privileg, diese Schulabschlussprüfungen nicht anzuerkennen (weil die Lehrpersonen ja geholfen haben könnten, abschreiben möglich ist usw.), diese Unis dürfen eigene Aufnahmeprüfungen durchführen. Neben den Hochschulen kann man auch eine „Mittelhochschule“ absolvieren, die z.B. Krankenpflegende, Handwerker/innen usw. ausbilden und von denen Passerellen in die Universitäten bestehen.
Bei den Zwischenprüfungen an der Uni besteht immer die Gefahr, dass man sein Stipendium (das mit der Gebührenbefreiung einhergeht) oder im schlechtesten Fall sogar die Gebührenbefreiung verliert. Man kann die Zwischenprüfungen aber wiederholen, die Professoren legen den Wiederholungstermin jeweils autonom fest. (Solche Wiederholungen, davon sagt Ivan nichts, können natürlich eine Eingangstüre für an Korruption grenzende Nachhilfestunden sein, die dann zur Vorbereitung der Wiederholungsprüfung genommen werden müssen).
Interessant ist, dass die Ergebnisse der Zwischenprüfungen in der Regel einen Tag später bekannt sind. Ivan konnte es in Deutschland kaum glauben, dass die Korrekturen drei bis vier Wochen dauerten.
Momentan werden auch in Russland ECTS- und Bolognasystem eingeführt. An der Technischen Uni wurde der Diplomstudiengang zu Gunsten von Bachelor- (4 Jahre) und Masterstudiengängen (2 Jahre) abgeschafft.
Bologna heisst aber nicht, dass ein dreistufiges System von Studienabschlüssen eingeführt würde, das vierstufige System mit dem Titel „Kandidat“, für den auch 3 – 5 Jahre investiert werden müssen und erst dann dem Doktorat soll beibehalten werden.
Die Lehrpersonen werden an Pädagogischen Universitäten ausgebildet. Nach dem Mittelschulabschluss dauert das in der Regel 5 Jahre. Weil auch in Russland eher Lehrpersonenmangel herrscht, könne man „nicht richtig streng sein“. Schon in den unteren Klassen gibt es ein Fachlehrersystem. In den Naturwissenschaften ist es sehr schwierig, überhaupt Lehrpersonen zu finden, man macht deshalb bei den Anstellungen verschiedenste Kompromisse.
Besondere Schwierigkeiten haben die ländlichen Gebiete wie z.B. Nordsibirien, man versucht deshalb die Lehrpersonen mit Prämien in solche Gebiete zu ziehen und sie dort zu halten. Es gibt z.B. einen „nördlichen Koeffizient“, d.h. je schwieriger die Lebensbedingungen, desto höher der Lohn. Zusätzlich gibt es weitere Prämien, wer es z.B. 5 Jahre als Lehrerin oder Lehrer in Nordsibirien ausgehalten hat, bekommt einen erheblichen Zuschuss, um sich dort eine Wohnung zu kaufen.
Auch in anderen Berufen ist es schwierig, die Leute auf dem Land zu halten. Obwohl z.B. Fachleute für „Mining“ gesucht sind (Kohle, Gas, Erdöl, Diamanten) findet eine Wanderbewegung Richtung grosse Städte wie Novosibirsk statt.
Nach unserer Besichtigungstour durch Akademgorodok trinken wir einen Kaffee. Ivan erzählt, wie schwierig es mit der Bürokratie an seiner Uni gewesen sein, bis er das Praktikum in Deutschland habe machen können. Und dann erzählt er auch noch ein Müsterchen über die Schweiz. Er hätte auch noch die Möglichkeit eines Praktikums in einer Firma in Basel gehabt. Dort hätte er freie Unterkunft gehabt und 500 Franken pro Monat verdient. Um die Stempel der kantonalen und eidgenössischen Migrationsbehörden zu bekommen, hätte er aber 2000 Franken verdienen müssen. Er habe dann die Firma angefragt, ob sie ihn bei den Ämtern unterstützen könnten, damit er die Bewilligung trotzdem bekomme. Die Auskunft lautete: Nein, wir setzen auf Eigeninitiative. Es ist ihm dann gelungen, den Nachweis zu erbringen, dass er über genügend Mittel verfügt, aber jetzt hätte die Firma gemäss einem Stagiere-Abkommen beweisen müssen, dass sie keinen gleichwertigen Kandidaten aus dem Inland (bzw. damals wohl aus dem EU-Raum) hatte. Ivan hat sich dann für das Praktikum in Bayern entschieden, er hat dort mehr verdient und wurde in jeder Beziehung von Firma und Ämtern bestens unterstützt. Unser Bild im Ausland gibt mir schon zu denken, die einen lachen, wenn sie Schweiz hören und sagen „Oh, Bank, Bank“ oder „Milliarda“, die anderen machen solche Erfahrungen.
Anschliessend sehen wir uns das Obsker Meer an, das Kraftwerk generiert zwar viel Strom, aber das Ökosystem wurde durch viele Überschwemmungen, Klimawechsel usw. gehörig durcheinander gebracht.
Interessant auch die russische Tagesschau – für einmal übersetzt durch Ivan. Es ist eine fast hundertprozentig andere Geschichte, die über die Ukraine erzählt wird als diejenige, die ich in den Schweizer Zeitungen lese. Ivan, der auch denkt, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt, versteht nicht, dass die westlichen Sender so personifizieren. Man höre immer nur Putin, Putin, Putin. Es sie aber überhaupt nicht nur der Präsident, der so denke und die Richtung vorgebe.
Durch Kasachstan nach Sibirien
Wieder in der kasachischen Eisenbahn. Mit mir im Abteil fahren eine junge, rundliche Kasachin, die die eher störende Angewohnheit hat, auch mitten in der Nacht sehr laut zu telefonieren und Adlet, ein 28-jähriger – auch etwas rundlicher – Banker. Er hilft mir, das Bett zu machen, es sei eine kasachische Tradition, den alten Leuten zu helfen…
Adlet ist eigentlich aus Almaty, muss jetzt aber, um bei seiner russischen Bank Karriere zu machen, zwei, drei Jahre auf dem Aussenposten in Semey, nahe der russischen Grenze arbeiten. Frau und Kinder (ein- und siebenjährig) bleiben in Almaty, er besuche sie so alle zwei Monate. Ferien habe man in der Privatwirtschaft 24 Tage, Regierungsangestellte hätten zwei Monate.
Am Morgen ist die Steppe wieder leicht schneebedeckt. Viel Schnee fällt aber nie, die Gegend ist sehr niederschlagsarm und das Wasser verdunstet schnell.
Weil es draussen kalt aussieht, lässt sich der Wagenbegleiter nicht lumpen und heizt den Wagen auf 36 Grad hoch. Die Bahnwagen werden einzeln geheizt mit einem Kohlenofen pro Wagen, an den Ofen sind die Zentralheizungsröhren für die Abteile und der Samowar angeschlossen. Ich bin pflotschnass. scheine aber der einzige zu sein, der diese Hitze ungemütlich findet.
In Semey steigen meine Mitreisenden aus, Samir aus Tatarstan, der auch so aussieht, wie man sich einen Tataren vorstellt, steigt zu und begrüsst mich mit sehr kräftigem Handschlag. Er reagiert wie die meisten Menschen, denen ich in den Zügen begegne: sie meinen, ich hätte ein ähnliches Schicksal wie sie und die Arbeit verschlage mich in so unwirtliche Gegenden. Dass ich Tourist bin, können sie nicht recht verstehen (falls sie Ferien haben und es sich leisten können, fliegen sie an einen Strand in der Türkei oder Malaysia). Dass ich alleine unterwegs bin, finden sie erst recht unverständlich.
Richtung Grenze wird die Steppe ab und zu unterbrochen durch lichte Föhren- und Birkenwälder.
Unser Zug braucht gegen 5 Stunden für das Passieren der Grenze zwischen Kasachstan und Russland. In Kasachstan schnüffeln Hunde durch den Zug, alle Deckenverkleidungen werden wieder abgeschraubt und mit Teleskoptaschenlampen wird in alle Winkel geleuchtet. Die Pässe werden gescannt (Windows XP…), schliesslich fahren wir weiter zum russischen Grenzbahnhof, wo die gleichen Kontrollen nochmals vorgenommen werden. Schweizer scheinen hier sehr selten vorbeizukommen. Der nette Grenzbeamte kommt aus Kaliningrad, dem früheren Königsberg und kann recht gut Deutsch. Er muss mich nach Grund und Zielen dieser Reise befragen. Das dauert – aber er freut sich, dass mich der Osten interessiert. Den Schweizer Pass mit all den Kantonswahrzeichen findet er sehr schön und er bittet darum, ihn zu Weiterbildungszwecken auch den Kollegen zeigen zu dürfen. Dann verschwindet er damit und nach etwa einer Stunde beginne ich nervös zu werden – aber er bringt ihn dann mit guten Wünschen zurück.
Samir und ich müssen jetzt noch das Abteil wechseln, in unserem hat die Elektroinstallation das Aschrauben der Deckenverkleidung nicht überstanden, es brennt deshalb kein Licht mehr und unterdessen ist es dunkel geworden. Schliesslich fahren wir los, wir sind jetzt im Oblast Altay, in Sibirien.
Sibirien, dieses riesige Gebiet war ursprünglich sehr lose von einheimischen Völkern besiedelt. Von Russland aus erfolgte über viele Jahrhunderte eine „Sickerwanderung“ (zwischen 1670 und 1870 etwa 6 Millionen Einwanderer). Ab Mitte 19. Jh. wurden Bauern gezielt nach Sibirien umgesiedelt, um den Bevölkerungsdruck in den Schwarzerdegebieten zu begegnen (1871 – 1916 mehr als 9 Mio).
Mit der Transsib (erbaut 1892 – 1905) wurden solche Umsiedlungen einfacher – die Bahn ermöglichte aber auch den ab 1920 durch das Sowjetregime forcierten Abbau der Bodenschätze und die Industrialisierung. Die nächste Welle Umsiedler waren dann auch Bergleute, Bau- und Fabrikarbeiter, 8 Mio zwischen 1926 und 1956 (vgl. Goehrke, Strukturgeschichte S. 34 – 53, 217f.)
Noch etwa 13 Stunden bis Novosibirsk – es scheint eine kalte Nacht bevorzustehen, das Wagenpersonal ist schon wieder am Einheizen…