Es regnet den ganzen Tag, zum Glück mangelt es in Shanghai nicht an Museen.
Zuerst das Shanghai-Museum. Eigentlich gehe ich hin, weil es als eines der besten Chinas beschrieben wird. Aber für Porzellan und jahrtausendalte Skulpturen interessiere ich mich nicht sehr. Beim Besuch wird mir klar, warum der in letzter Zeit häufig gehörte Satz stimmt, mehr als 2000 Jahre lang sei die chinesische Kultur der westlichen weit überlegen gewesen.
Es werden u.a. Skulpturen und Porzellan aus Zeiten gezeigt werden, in denen es in Europa nichts, aber auch gar nichts Vergleichbares gab (vgl. z.B. Chinaonline-Museum). Jede Dynastie (vgl. z.B. Chinaseite) hatte ihren besonderen Stil. Das heute oft als typisch chinesisch betrachtete blau-weisse Porzellan wurde ab der Yuan (d.h. Mongolen-) Dynastie (1279 – 1368) in Massen produziert, es war eine wichtige Handelsware und fand vor allem auch in islamischen Ländern guten Absatz.

Mich beeindruckt auch, dass z.B. die buddhistischen Skulpturen aus der Zeit der Song-Dynastie nicht einfach ausdruckslos oder verklärt, sondern sehr charaktervoll dargestellt sind.

Auch die Tuschzeichnungen und die Kalligraphien haben höchste Qualität. Der Besuch hat sich wirklich gelohnt und ich kann mir langsam sogar die Abfolge einiger Dynastien merken.


Ebenfalls am People’s Square befindet sich das Stadtplanungsmuseum (SUPEC, Urban Planning Exhibition Hall). Ein faszinierendes Museum, das zeigt, was Shanghai einmal war und was es werden soll, nämlich eine präzis geplante, weltweit führende Megacity für glückliche Menschen. Ein 2009 an der Bartlett School of Architecture entstandenes Paper mit dem Titel „Museum as a Representation of the City and an Instrument of City Image Making“ (PDF) beschreibt auch die dahinter stehende Ideologie gut.




Shanghai Ende 19. Jh, 1984, anfangs 20. Jh. und 2010
Mittelpunkt der Ausstellung bildet der Masterplan, ein riesiges Modell des künftigen Shanghai, auf dem man sieht, was schon gebaut ist, und was in naher Zukunft noch alles gebaut werden soll. Die Stadtplanung hat das Thema der Weltausstellung 2010 „Better City, Better Life“ inspiriert und nimmt dieses wieder auf. Ökologie nimmt einen relativ grossen Stellenwert ein, Psychologie und Soziologie m.E. einen zu kleinen, ich sehe die Gefahr, dass hier Satellitenstädte ohne Herz und gänzlich ohne Geschichte und Kultur entstehen. Riesige Göhnerswilstädte im besseren, gigantische Banlieue-von-Paris-Satellitenstädte im schlechteren Fall. Felix Lee, der den China-Blog der „Zeit“ schreibt, hat kürzlich Bemerkungen zur mangelnden Raumplanung und Zersiedelung Chinas gemacht. Gestern bei der Bahnfahrt sind mir die gesichtslosen Städte entlang der ganzen Bahnstrecke auch aufgefallen.

Trotzdem, wie hier geplant wird, ist beeindruckend. „Nine new cities, some sixty new towns, some six hundred central villages“ sollen entstehen. Ich stolpere über den Satz, dass hier eine sozialistische Stadt weiterentwickelt werde – wäre mir nicht aufgefallen. Weder im heutigen Shanghai mit seinem Nebeneinander von Reichtum und Armut und seinen Sonderwirtschaftszonen noch bei den Zukunftsplänen. Ausser, dass sich solche gigantischen Stadtentwicklungsprojekte sicher nur in einem Einparteienstaat verwirklichen lassen. Enteignung von Boden (falls er denn „Eigentum“ ist) muss sehr einfach möglich sein, Umsiedelungen im grossen Stil auch, es dürfte kaum wirkliche Einspracheverfahren geben. Das hier autokratisch vorgegangen wird, betonen chinesische Gesprächspartner meist auch: ein Land wie China lasse sich nicht auf eine westlich demokratische Art regieren, sonst erreiche man gar nichts. Wichtig sei, dass sich der Lebensstandard für alle erhöhe – und da sei man seit den 1980-er Jahren mit Deng Xiaoping auf bestem Weg. Tatsächlich wurde zwischen 1980 und 2010 in Shanghai 27 Mal so viel Wohnraum geschaffen wie zwischen 1950 und 1979. 1990 betrug die Wohnfläche pro Kopf noch 6.6 Quadratmeter, 2010 bereits 16.7.
Apropos Westen: In einem Wechselausstellungsraum befindet sich eine Ausstellung mit Zeichnungen des 92-jährigen Comiczeichners He Youzhi (vgl. z.B. old-coconino). He Youzhi ist nochmals durch Shanghai gegangen und hat sich – auch mit Hilfe alter Fotografien und Skizzen – daran erinnert, wie es in den verschiedenen Quartieren früher ausgesehen hat. All die Erinnerungen hat er gezeichnet und kommentiert; entstanden ist ein eindrückliches Stück Alltagsgeschichte der letzten fast 90 Jahre.
Er vermisst einiges, die alten Strassenküchen, die Milchausträger mit ihren Velos, die alten Märkte. Und seine Zeichnungen berichten aus der Zeit bis 1943 als Shanghai noch aus einer französischen Konzession, einem „International Settlement“ (ursprünglich der zusammengelegten britischen, amerikanischen und japanischen Konzessionen) und einem chinesischen Teil bestand. Die Briten hatten mit dem Opiumkrieg 1842 die Öffnung des Hafens und der Stadt für den internationalen Handel erzwungen und für ihre Gebiete Extraterritorialrechte mit eigenem Recht und eigener Polizei durchgesetzt. Die Stadt war dadurch faktisch dreigeteilt. Die Franzosen hatten nicht die gleiche Stromspannung wie die Briten, die Trams fuhren nicht über die Grenze des jeweiligen Sektors und für eine Rikscha brauchte es drei Bewilligungen, eine britische, eine französische und eine chinesische.
Chinesinnen und Chinesen waren in den ausländischen Stadtteilen meist nur als Bedienstete geduldet und Menschen dritter Klasse. Die Menschen zweiter Klasse kamen aus den Kolonien der Konzessionsinhaber. Vietnamesische Polizisten in der französischen Konzession, indische im International Settlement quälten die unter ihnen stehenden Chinesen bei minimaler Nichtbeachtung einer Verkehrsregel mit brutalen Schlägen und konnten sich des Einverständnisses ihrer Dienstherren sicher sein. Besoffene Ausländer fuhren mit ihren Autos absichtlich in die langsamen und nicht genug wendigen Rikschas. Die japanische Besetzung 1937 im chinesisch-japanischen Krieg brachte noch grösseres Leid. Während früher immer wieder Flüchtlinge in den Konzessionen aufgenommen worden waren, wurden nach den Schilderungen He Youzhis jetzt flüchtende Chinesen meist nicht in die – von den Japanern vorerst nicht angetasteten – ausländischen Konzessionen gelassen, sondern ihrem Schicksal, meist dem Tod, unter den Japanern überlassen.
(Ich habe unterdessen noch etwas nachgelesen. Nach Pearl Harbour wurden die alliierten Ausländer von den Japanern sofort interniert, während die Franzosen dem Vichy-Regime angehörten und somit als Verbündete Japans galten und entsprechend Konzession und Waffen behalten durften.)

Essstand, Bewilligungskontrolle von Rikschafahrern, die Eisengitter der Französischen Konzession
Im Park, in dem all die Museen stehen, ist wie in Beijing ein Heiratsmarkt im Gang. Die Eltern, die alle jünger sind als ich und hier Partner für ihre Kinder suchen, sitzen vor Regenschirmen mit den Beschreibungen der zu Verheiratenden. Es regnet immer noch, ich sehe mir also noch das Museum of Contemporary Art MoCA an. Es zeigt die Animamix-Biennale, computeranimierte Filme und Installationen wie „Time of Cherry Blossom“ von Tsai Shiucheng und „Uterusman“ von Lu Yang.
Sozialismus und Sonderwirtschaftszonen; nine new cities, sixty new towns, some 600 central villages; Heiratsmarkt und Uterusman – wie bringt man diese Welten nur zusammen.