Stadtentwicklung konkret

Den „Masterplan“ für die Stadtentwicklung habe ich vor drei Tagen als riesiges Modell gesehen. Seine Umsetzung erlebe ich heute in einem Quartier westlich des Zentrums.
In den „alten“, Strassen mit den engen zweigeschossigen Häusern spielt sich viel Leben auf der Strasse ab. Die Wäsche ist entlang dem Trottoirrand und im Hof zum Trocknen aufgehängt. Neben der Wäsche hängen Käfige mit zwitschernden Wellensittichen. Der Wasserverkäufer mit seinen Plasticcontainern und der Altmetallsammler fahren mit ihren Trishaws durch die Strassen und klingeln. Die Läden und Handwerksbuden im Parterre verkaufen alles auf sehr kleinem Raum. Eisenwaren, Mercerieartikel, Baubedarf, Möbel, Fahrräder und Elektroroller, Lebensmittel mit frischem Obst und Gemüse, Haushaltbedarf, Schildkröten. Dazwischen spielen alte Männer Brettspiele. Viele stehen vor den Essbuden an, in denen das Essen frisch zubereitet wird. Gegessen wird an Tischen auf dem Gehsteig oder der Koch packt das Gericht in eine Box und man nimmt es mit nach Hause. Kaum Autos, aber viele Velos und Roller. Alte Leute werden in Rollstühlen geschoben oder am Arm durch die Strassen geführt. Die Kinder sind in der Schule.
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Zwei Strassenzüge weiter hat der Masterplan seine Wirkung bereits entfaltet, ein ganzes Quartier ist plattgewalzt.
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Und nochmals zwei Strassenzüge weiter sieht man, was hier bald auch entstehen wird.
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Der Verlust an Quartierleben, Gemeinschaft und Kultur ist bei solchen Abbruchaktionen immens. Aber schwarz-weiss zu denken, ist auch falsch. Die Bausubstanz in den alten Quartieren ist meist so schlecht, dass an eine Sanierung nicht gedacht werden kann, die hygienischen Verhältnisse sind prekär, alles ist sehr eng – Jungverheiratete müssen häufig bei den Eltern des Mannes wohnen, Privatheit gibt es kaum. Da ist eine Zweizimmerwohnung mit Bad und WC in einem gesichtslosen Hochhaus in der Agglomeration häufig wirklich eine Steigerung der Lebensqualität.

in anderen Quartieren sind gut erhaltene Steinhäuser aus den 1920-er Jahren restauriert und der Zara-Prada-Häagen Dazs-Sushi-Welt übergeben worden, oder es sind sehr hochpreisige „Mansions“ entstanden. In diesem Quartier wohnte früher auch der spätere Premier und wichtige Weggefährte Maos, Tschou En Lai, hier war das Hauptquartier der Kommunistischen Partei und hier fanden nach dem Sieg gegen Japan Verhandlungen zwischen der kommunistischen Partei und der Kuomintang statt. Mit Hilfe der USA, so die Darstellung in der kleinen Ausstellung in diesem Haus, habe die Kuomintang aber die Vorbereitungen zum Bürgerkrieg während der ganzen Verhandlungszeit vorangetrieben. Einen Bürgerkrieg, den sie ja dann verloren und sich nach Taiwan zurückziehen mussten.
Kissinger, der später die Pingpong-Diplomatie China gegenüber eingeleitet hat, äusserte sich sehr bewundernd über Tschou En Lai: „one of the two or three most impressive men I have ever met“ (vgl. zu Tschou En Lai allgemein und zum Zitat PBS). Ich glaube, in seinem „On China“ schreibt Kissinger, Tschou En Lai habe jeweils eine Stimmung wie Sonnenaufgang verbreiten können.
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Der Flughafen Pudong ist mehr als 60 km ausserhalb Shanghais. Ich mache mich also früh auf den Weg. Das wäre nicht nötig gewesen, ich habe nicht damit gerechnet, dass man von der Metro in eine Magnetschwebebahn umsteigen kann, die dann mit Tempo 430 zum Flughafen Pudong hinausrast. Etwas benommen von diesem Tempo checke ich nach Guilin ein. Morgen möchte ich dann weiter nach Yangshuo.
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Suzhou

Der Hochgeschwindigkeitszug braucht 30 – 40 Minuten von Shanghai bis Suzhou. Um ein Billett zu kaufen, brauche ich etwa dreimal so lang. Ausländer können am Billettautomaten kein Bahnbillett kaufen, weil die Maschine ihre ID nicht lesen kann und so nicht weiss, ob sie reiseberechtigt sind. Nach einigem Suchen finde ich dann die Billettschalter, die sich nicht im Bahnhof, sondern etwas abseits in einer benachbarten Strasse befinden. Hier ist alles nur noch chinesisch angeschrieben. Die Langnasen, wie wir offenbar – im Gegensatz zu Schlitzaugen – genannt werden, sind aber in solchen Situationen solidarisch. Neben sehr vielen Chinesinnen und Chinesen hat es im Schalterraum noch zwei Russinnen. Wir tun uns zusammen und stehen an drei verschiedenen Schaltern an, in der Hoffnung, jemand werde den richtigen erwischen. Das ist zwar nicht der Fall, aber ein Schalterbeamter kann schliesslich englisch, hat Mitleid und verkauft uns die Billette.

Suzhou ist einiges älter als Shanghai, es liegt am „Kaiserkanal“, einer 1800 km langen Wasserstrasse vom Norden des Landes zum Yangtsekiang, ungefähr von Beijing nach Hangzhou. Im kaiserlichen China war der Kanal ein wichtiger Handelsweg und von grosser strategischer Bedeutung.
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Suzhou wird Gartenstadt oder auch – nicht sehr originell – „Venedig des Ostens“ genannt. Viele Mandarine hatten hier wunderschöne Gartenanlagen erbaut, die heute zum Weltkulturerbe der UNESCO gehören. Die Stadt ist von vielen Kanälen durchzogen. Einige Kanäle sind in Touristenzonen umgewandelt, an ihnen entlang kann man flanieren, einkaufen, Dumplings essen und Tee trinken. An anderen wird gewohnt wie eh und je. Man wäscht am Kanal die Wäsche und trocknet sie dort, die Toiletten der Quartiere befinden sich am Kanal und z.T. werden die Waren noch auf dem Kanal transportiert.
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Die Schönheit der Stadt hat sich herumgesprochen, die bekanntesten Gärten sind übervoll mit Blumen und sich selbst knipsenden Touristen. Es gibt aber auch kleinere, weniger bekannte Gärten, in denen man durchatmen, am Wasser sitzen und grünen Tee trinken kann. Die chinesische Gartenbaukunst besteht darin, alles so wachsen zu lassen, dass man kaum merkt, wie die Natur sanft in Bahnen gelenkt wird. Ein guter Gartenbauer erreicht Harmonie zwischen Pflanzen, Steinen, Wasser, Bauten und Mobiliar. In solchen Gärten stimmt alles, es ist einem sofort wohl.
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Zurück im Shanghai gehe ich am Abend in einer Nebenstrasse etwas essen. Dreistöckiges, einfaches aber offenbar beliebtes Restaurant mit „Hot Pots“ als Spezialität, wir würden sie Mongolentöpfe nennen. Ich erhalte einen Platz im obersten Stock. Um mich herum hat es drei weitere Tische, die mit Familien oder jungen Paaren besetzt sind. Sie gönnen sich zu viert oder sechst einen Mongolentopf. Friedliche Stimmung, alle rühren mit Stäbchen in ihren Töpfen herum, schwatzen, lachen. Als die erste Familie fertig ist und den Tisch verlässt, kommt eine Gruppe etwa 30- bis 40-jähriger Männer in unseren Stock. Leicht aufgeschwemmte Gesichter, wie man es bei Männern, denen es etwas zu gut geht, häufig sieht. Sie wollen offenbar den ganzen Stock für sich. Und sie beginnen uns rücksichtslos „auszuräuchern“. Alle stecken sich eine Zigarette an, sie sitzen auf die Tischkanten, gehen herum und qualmen drauf los, bis wir alle ruhig werden und unsere Tische räumen. Im ganzen Restaurant wird sonst nicht geraucht. Das Personal unternimmt nichts, ausser, dass es noch hektischer herumschreit als sonst und versucht, es dieser Gruppe so recht wie möglich zu machen. Ich mag falsch liegen, aber für mich sieht die Gruppe stark nach Schutzgelderpressern aus.
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Long Hua Tempel und Märtyrerpark

Die Nanjing Road, an der ich wohne und der „Bund“, die Promenade am Huangpu-Fluss und ihre Umgebung bilden nach wie vor das Zentrum Shanghais. Auf der anderen Seite des Flusses befindet sich die Sonderwirtschaftszone Pudong mit ihrer charakteristischen Silhouette mit dem Perlenturm.
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Das Wort „Bund“ kommt offenbar aus dem angloindischen. Ich streife etwas durch die Gegend. An der Nanjing-Road und der Promenade stehen sie noch, die alten Kolonialbauten aus der Zeit des International Settlement. Ansonsten wurde Altstadt weitgehend dem Erdboden gleichgemacht. Man hat spät versucht, ein Quartier („Rockbund“ genannt, weil die Firma Rockefeller den Auftrag zur Sanierung bekommen hat) zu retten. Aber auch Stararchitekten wie David Chipperfield können ein Quartier, aus dem die Bewohner ausgesiedelt wurden, nicht zu neuem Leben erwecken. Christies und Prada, Zara und ein Kunstmuseum sind ein schlechter Ersatz für Wohnungen, Werkstätten und Essbuden. Alles wirkt leer.
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Leer wirkt auf mich auch Pudong, obwohl dort alle Einkaufszentren geöffnet sind und viele, viele Chinesinnen und Chinesen im kalten Kunstlicht der überall gleichen Modeläden am Shoppen oder doch mindestens Anprobieren von Kleidern sind. (Gestern habe ich gelesen, wenn jemand aus Shanghai 1000 Dinge besitze, so seien 800 davon Kleider).

Der buddhistische Long Hua Tempel (Wikipedia engl.) im Süden der Stadt strahlt eine würdige, freundliche Ruhe aus. Es hat viele – fast durchwegs jüngere – Gläubige, die ihre Räucherstäbchen anzünden, beten. Ich frage mich, wie diese meist atheistisch erzogenen jungen Leute zum Buddhismus gefunden haben. Die offizielle Sprachregelung ist fast dieselbe, wie sie der deutsche „Schattenblick“ angibt: „Das Streben nach materiellen Gütern und beruflichem Erfolg füllt viele Menschen nicht mehr aus. Auf der Suche nach einem tieferen Sinn suchen sie Antworten in der Religion. Mit ihrer Hinwendung zum Buddhismus besinnen sich die Chinesen auf eine 2.000-jährige Tradition zurück.“ Zur Religion allgemein finden sich bei der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung einige interessante Ausführungen: auch die protestantische und die katholische Kirche erhalten Zulauf.
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In Shanghai, das mit seinem Hafen und den Konzessionen ein grosses Proletariat hatte, wurde 1921 die kommunistische Partei Chinas gegründet. Der Märtyrerpark im Süden der Stadt erinnert an all die Tausenden, die im politischen Kampf bis zur Gründung der Volksrepublik gestorben sind. Die von den Briten 1925 erschossenen Studenten. Die 1927 beim Massaker von Shanghai exekutierten etwa 5000 Kommunisten. (Das organisierte Verbrechen war von Chiang Kai-shek als Handlanger für diese Morde eingesetzt worden, vgl. SWR 2). Die während der Verteidigung gegen Japan und während der japanischen Besatzung Getöteten.
1949 mit der Gründung der Volksrepublik bricht die Geschichte im dem Park angegliederten Museum ab. Das Leiden und Sterben für die Bevölkerung ging aber mit dem „Grossen Sprung nach vorn“ und dann der Kulturrevolution weiter.
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Drei Museen – viele Welten

Es regnet den ganzen Tag, zum Glück mangelt es in Shanghai nicht an Museen.
Zuerst das Shanghai-Museum. Eigentlich gehe ich hin, weil es als eines der besten Chinas beschrieben wird. Aber für Porzellan und jahrtausendalte Skulpturen interessiere ich mich nicht sehr. Beim Besuch wird mir klar, warum der in letzter Zeit häufig gehörte Satz stimmt, mehr als 2000 Jahre lang sei die chinesische Kultur der westlichen weit überlegen gewesen.
Es werden u.a. Skulpturen und Porzellan aus Zeiten gezeigt werden, in denen es in Europa nichts, aber auch gar nichts Vergleichbares gab (vgl. z.B. Chinaonline-Museum). Jede Dynastie (vgl. z.B. Chinaseite) hatte ihren besonderen Stil. Das heute oft als typisch chinesisch betrachtete blau-weisse Porzellan wurde ab der Yuan (d.h. Mongolen-) Dynastie (1279 – 1368) in Massen produziert, es war eine wichtige Handelsware und fand vor allem auch in islamischen Ländern guten Absatz.
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Mich beeindruckt auch, dass z.B. die buddhistischen Skulpturen aus der Zeit der Song-Dynastie nicht einfach ausdruckslos oder verklärt, sondern sehr charaktervoll dargestellt sind.
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Auch die Tuschzeichnungen und die Kalligraphien haben höchste Qualität. Der Besuch hat sich wirklich gelohnt und ich kann mir langsam sogar die Abfolge einiger Dynastien merken.
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Ebenfalls am People’s Square befindet sich das Stadtplanungsmuseum (SUPEC, Urban Planning Exhibition Hall). Ein faszinierendes Museum, das zeigt, was Shanghai einmal war und was es werden soll, nämlich eine präzis geplante, weltweit führende Megacity für glückliche Menschen. Ein 2009 an der Bartlett School of Architecture entstandenes Paper mit dem Titel „Museum as a Representation of the City and an Instrument of City Image Making“ (PDF) beschreibt auch die dahinter stehende Ideologie gut.
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Shanghai Ende 19. Jh, 1984, anfangs 20. Jh. und 2010
Mittelpunkt der Ausstellung bildet der Masterplan, ein riesiges Modell des künftigen Shanghai, auf dem man sieht, was schon gebaut ist, und was in naher Zukunft noch alles gebaut werden soll. Die Stadtplanung hat das Thema der Weltausstellung 2010 „Better City, Better Life“ inspiriert und nimmt dieses wieder auf. Ökologie nimmt einen relativ grossen Stellenwert ein, Psychologie und Soziologie m.E. einen zu kleinen, ich sehe die Gefahr, dass hier Satellitenstädte ohne Herz und gänzlich ohne Geschichte und Kultur entstehen. Riesige Göhnerswilstädte im besseren, gigantische Banlieue-von-Paris-Satellitenstädte im schlechteren Fall. Felix Lee, der den China-Blog der „Zeit“ schreibt, hat kürzlich Bemerkungen zur mangelnden Raumplanung und Zersiedelung Chinas gemacht. Gestern bei der Bahnfahrt sind mir die gesichtslosen Städte entlang der ganzen Bahnstrecke auch aufgefallen.
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Trotzdem, wie hier geplant wird, ist beeindruckend. „Nine new cities, some sixty new towns, some six hundred central villages“ sollen entstehen. Ich stolpere über den Satz, dass hier eine sozialistische Stadt weiterentwickelt werde – wäre mir nicht aufgefallen. Weder im heutigen Shanghai mit seinem Nebeneinander von Reichtum und Armut und seinen Sonderwirtschaftszonen noch bei den Zukunftsplänen. Ausser, dass sich solche gigantischen Stadtentwicklungsprojekte sicher nur in einem Einparteienstaat verwirklichen lassen. Enteignung von Boden (falls er denn „Eigentum“ ist) muss sehr einfach möglich sein, Umsiedelungen im grossen Stil auch, es dürfte kaum wirkliche Einspracheverfahren geben. Das hier autokratisch vorgegangen wird, betonen chinesische Gesprächspartner meist auch: ein Land wie China lasse sich nicht auf eine westlich demokratische Art regieren, sonst erreiche man gar nichts. Wichtig sei, dass sich der Lebensstandard für alle erhöhe – und da sei man seit den 1980-er Jahren mit Deng Xiaoping auf bestem Weg. Tatsächlich wurde zwischen 1980 und 2010 in Shanghai 27 Mal so viel Wohnraum geschaffen wie zwischen 1950 und 1979. 1990 betrug die Wohnfläche pro Kopf noch 6.6 Quadratmeter, 2010 bereits 16.7.

Apropos Westen: In einem Wechselausstellungsraum befindet sich eine Ausstellung mit Zeichnungen des 92-jährigen Comiczeichners He Youzhi (vgl. z.B. old-coconino). He Youzhi ist nochmals durch Shanghai gegangen und hat sich – auch mit Hilfe alter Fotografien und Skizzen – daran erinnert, wie es in den verschiedenen Quartieren früher ausgesehen hat. All die Erinnerungen hat er gezeichnet und kommentiert; entstanden ist ein eindrückliches Stück Alltagsgeschichte der letzten fast 90 Jahre.
Er vermisst einiges, die alten Strassenküchen, die Milchausträger mit ihren Velos, die alten Märkte. Und seine Zeichnungen berichten aus der Zeit bis 1943 als Shanghai noch aus einer französischen Konzession, einem „International Settlement“ (ursprünglich der zusammengelegten britischen, amerikanischen und japanischen Konzessionen) und einem chinesischen Teil bestand. Die Briten hatten mit dem Opiumkrieg 1842 die Öffnung des Hafens und der Stadt für den internationalen Handel erzwungen und für ihre Gebiete Extraterritorialrechte mit eigenem Recht und eigener Polizei durchgesetzt. Die Stadt war dadurch faktisch dreigeteilt. Die Franzosen hatten nicht die gleiche Stromspannung wie die Briten, die Trams fuhren nicht über die Grenze des jeweiligen Sektors und für eine Rikscha brauchte es drei Bewilligungen, eine britische, eine französische und eine chinesische.
Chinesinnen und Chinesen waren in den ausländischen Stadtteilen meist nur als Bedienstete geduldet und Menschen dritter Klasse. Die Menschen zweiter Klasse kamen aus den Kolonien der Konzessionsinhaber. Vietnamesische Polizisten in der französischen Konzession, indische im International Settlement quälten die unter ihnen stehenden Chinesen bei minimaler Nichtbeachtung einer Verkehrsregel mit brutalen Schlägen und konnten sich des Einverständnisses ihrer Dienstherren sicher sein. Besoffene Ausländer fuhren mit ihren Autos absichtlich in die langsamen und nicht genug wendigen Rikschas. Die japanische Besetzung 1937 im chinesisch-japanischen Krieg brachte noch grösseres Leid. Während früher immer wieder Flüchtlinge in den Konzessionen aufgenommen worden waren, wurden nach den Schilderungen He Youzhis jetzt flüchtende Chinesen meist nicht in die – von den Japanern vorerst nicht angetasteten – ausländischen Konzessionen gelassen, sondern ihrem Schicksal, meist dem Tod, unter den Japanern überlassen.
(Ich habe unterdessen noch etwas nachgelesen. Nach Pearl Harbour wurden die alliierten Ausländer von den Japanern sofort interniert, während die Franzosen dem Vichy-Regime angehörten und somit als Verbündete Japans galten und entsprechend Konzession und Waffen behalten durften.)
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Essstand, Bewilligungskontrolle von Rikschafahrern, die Eisengitter der Französischen Konzession

Im Park, in dem all die Museen stehen, ist wie in Beijing ein Heiratsmarkt im Gang. Die Eltern, die alle jünger sind als ich und hier Partner für ihre Kinder suchen, sitzen vor Regenschirmen mit den Beschreibungen der zu Verheiratenden. Es regnet immer noch, ich sehe mir also noch das Museum of Contemporary Art MoCA an. Es zeigt die Animamix-Biennale, computeranimierte Filme und Installationen wie „Time of Cherry Blossom“ von Tsai Shiucheng und „Uterusman“ von Lu Yang.
Sozialismus und Sonderwirtschaftszonen; nine new cities, sixty new towns, some 600 central villages; Heiratsmarkt und Uterusman – wie bringt man diese Welten nur zusammen.

Beijing – Shanghai

20140411-213918.jpgDie letzten 1400 Kilometer meiner Bahnreise legt der chinesische Hochgeschwindigkeitszug in genau fünf Stunden zurück, der Tachometer über der Wagentüre zeigt konstant 302 km/h an, nur bei der Einfahrt in die vier Bahnhöfe, in denen wir anhalten, wird die Geschwindigkeit reduziert. Sogar die über 300 Meter lange Dashengguan-Brücke, auf der sechs Bahngeleise parallel verlaufen überqueren wir mit dieser Geschwindigkeit. Unten ein breiter, gelber Fluss mit unzähligen Lastschiffen, die durch den Dunst fahren. Die Strecke wurde völlig neu gebaut, man merkt im Zug nichts von der hohen Geschwindigkeit. 80 Millionen Menschen pro Jahr sollen laut Forum China auf dieser Strecke transportiert werden. (Foto wikimedia/alancrh).

Ich lese im Zug ein altes „Magazin“ (No. 34/2013). Finn Canonica und Birgit Schmid beschreiben im Artikel „Alles über Lindsey“ das Leben und die Schwierigkeiten einer jungen Frau in Beijing sehr gut. Ein Leben zwischen westlichen Werten und dementsprechend individualistischen Vorstellungen über die eigene Zukunft (ein eigenes Appartement, einen Mann, den man sich selbst aussucht und den man liebt) und ostasiatischen Werten wie der starken Verbundenheit mit der Familie, dem Respekt ihren Wünschen gegenüber. Ein grosser Graben besteht auch zwischen der Stadtbevölkerung und den Zugewanderten vom Land, über die man lächelt und die man als ungebildet einschätzt. In Hans Jakob Roths interkulturellem Ratgeber überfliege ich die bereits markierten Texte nochmals: „Der Versuch hingegen, die Fremdkultur mit unserem bereits vorhandenen Erfahrungsschatz zu verstehen, ist grundsätzlich falsch“ (S. 18). Ich denke, er hat Recht und versuche das, ganz leicht fällt es mir aber nicht. Und übrigens: Wie ich nach der Magazinlektüre jetzt weiss, habe ich im Park in Beijing tatsächlich einen Heiratsmarkt beobachtet.

Der Bahnhof der Hochgeschwindigkeitszüge befindet sich am Flughafen Shanghai Hongquiao. Von hier aus gelange ich per Metro bequem direkt zu meinem Hotel am People’s Square. Ich bin froh um die zentrale Lage und den Metroanschluss, beides hat mir in Beijing gefehlt. Mein erster Eindruck von Shanghai: eine Weltstadt, ich könnte auch in Hongkong oder New York sein. Auch die Beschreibungen von ganz neuen, futuristischen Wolkenkratzern neben alten Garküchen in Quartieren mit älteren Häusern finde ich bestätigt. Sehr viele, sehr schicke Leute, sehr viele, sehr teure Autos (Lamborghinis, Ferraris, Range Rovers, Porsche Cayennes und hochklassige Mercedes). Sehr viele, sehr teure Restaurants und gerade nebenan kann man zum Bruchteil ihrer Preise auch sehr gut essen. Mein Abendessen schmeckt hervorragend und kostet weniger als der Cappuccino bei Starbucks am Nachmittag. Zu meinem ersten Eindruck gehört auch die Erkenntnis, dass ich offenbar zur Zielgruppe all der hübschen Frauen gehöre, die eine „Massatschi“ verkaufen wollen. 100 Yuan one hour, 200 Yuan full service, please come…

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