Primarschule in Gwangju, Südkorea

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Gestern ist ein grosser Teil der Lehrerschaft der „Attached Elementary School of Gwangju National University of Education“ zu meinem Vortrag gekommen. Heute holen mich der Vice-Principal und eine junge Englischlehrerin ab, um mir Schule und Unterricht zu zeigen.

Die Schule ist eine von nur 17 nationalen Primarschulen, d.h. in jeder Provinz bzw. grossen Stadt gibt es nur eine solche Schule. Und sie sei, wie mir alle überzeugt erklären, natürlich die beste „National School“
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Science-Day mit Eltern und Behörden, Schulklasse, Wahlen ins Schulparlament (Bilder: Schule)
Auf alle Fälle ist die Schule äusserst begehrt. In der Provinz hat es 150 andere Primarschulen und drei Privatschulen. An die Attached School können alle Eltern aus Gwangju ihre Kinder anmelden und dann muss das Los bestimmen, wer aufgenommen werden kann. Das Verhältnis von Aufgenommenen zu Abgewiesenen beträgt 1:12.

Die Schulleiterin, die ich gestern auch schon kennengelernt habe, stellt mir bei einem grünen Tee ihre Schule vor. Als „attached school“ habe sie eine grosse Verpflichtung gegenüber den zukünftigen Lehrpersonen, die hier ihr Praktikum machen. Entsprechend publiziert der Lehrkörper auch rege. Der Bestseller ist das Buch „Flow of Learning – learning how to learn“, das die Lehrerinnen und Lehrer nun schon in vierter Auflage herausgegeben haben. Es ist ein Praxisbuch mit vielen Beispielen, wie die Schülerinnen und Schüler das Lernen lernen können, Lektionsplänen, theoretischen Hintergründen.
Aber auch das Curriculum und Lektionspläne werden publiziert. In Südkorea werden etwa 70% der Unterrichtszeit für die Ziele des nationalen Curriculums gebraucht, 30% können die Schulen und/oder Provinzen und die Lehrpersonen selbst Ziele setzen und Inhalte festlegen.
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Bestseller, vom Schulteam geschrieben

Die Schule hat 528 Schülerinnen und Schüler der Klassen 1 – 6. Die Klassengrösse beträgt meist unter 24, national liegt der Durchschnitt momentan noch bei 27, mit sinkender Tendenz.

Der Lehrkörper ist – anders als an den anderen Schulen – überwiegend männlich. Das habe damit zu tun, dass sich viel mehr Männer bewerben würden, erklärt mir die Englischlehrerin. Für Frauen sei es dann halt doch etwas viel, manchmal mehrmals in der Woche bis Mitternacht in der Schule bleiben zu müssen.
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Lehrkörper (Bild: Schule)
Die Lehrpersonen begleiten im ersten und zweiten Schuljahr ihre Klasse in allen Fächern, nachher unterrichten sie meist zwei Fächer, was überhaupt kein Problem sei. Allerdings gibt es hier keine Teilzeitlehrpersonen, die Stundenplanorganisation ist also einiges einfacher und die Lehrpersonen sind alle von etwa halb acht morgens bis am Abend in der Schule. Zwei Mal in der Woche findet nach dem Unterricht eine dreistündige Sitzung statt, in der man sich über Schülerinnen und Schüler, Curriculum, Schulanlässe und vor allem auch didaktische Themen austauscht. Von all diesen Sitzungen existieren Protokolle seit 1937, sie sind im schuleigenen Museum ausgestellt.
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Kommunikationsübung im Englisch

Die Klassenzimmer haben alle Schiebewände gegen den Korridor hin, diese stehen an zwei Seiten ständig offen, niemand kümmert sich gross darum, wenn Besuch kommt, die Schülerinnen und Schüler und die Lehrpersonen arbeiten konzentriert weiter.
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Die Lektionen sind methodisch auf hohem Niveau, ein Mix von verschiedenen Sozialformen, die Schülerinnen und Schüler unterstützen sich gegenseitig, die Lehrperson erklärt hie und da etwas. Im Englisch sehe ich ein Teamteaching mit einem koreanischen Lehrer und Ian, einem native speaker aus den USA, der jetzt schon das zweite Jahr hier unterrichtet und dem es sichtlich Spass macht.

Die Lehrpersonen zeigen mir auch stolz ihre Mitschau-Anlage, ein Klassenzimmer mit Einwegspiegel. Es werde zwei Mal pro Woche benutzt, entweder um Studierenden der Universität etwas zu zeigen oder auch, wenn das Team sich eine Lektion einer Kollegin oder eines Kollegen anschaut und sie nachher bespricht. Details können mit Kameras herangezoomt werden. Ich erzähle, dass wir auch mal so eine Einrichtung gehabt hätten – sie sei aber von den Lehrpersonen nicht sehr geschätzt und selten genutzt worden. Ganz verstehen das meine Gesprächspartner nicht.
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Mitschauanlage
Pünktlich um viertel vor zwölf beginnt die Mittagspause. Die Schülerinnen und Schüler und die Lehrpersonen bleiben im Zimmer. Man kann jetzt Hausaufgaben machen, wenn nötig die Lehrerin etwas fragen und wer ein „Ämtli“ hat, erledigt dieses. Die Ämtli gehen weit, das Putzen des Klassenzimmers und der Korridore gehört dazu. Die Lehrpersonen helfen den Schülerinnen dabei.
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Putzen
Danach gehen die Klassen mit ihrer Lehrperson gestaffelt in die Mensa zum Mittagessen. Freiwillige Mütter haben bei der Zubereitung eines ausgewogenen Mittagessens geholfen und schöpfen es jetzt. Die Lehrerin oder der Lehrer stellt sich nach dem Eingang zur Mensa auf und die Schülerinnen und Schüler kommen in Zweierkolonne in den Raum, verbeugen sich vor der Lehrperson, diese verbeugt sich zurück und dann holt man sich das Essen und sitzt mit der Lehrperson zusammen an den Tisch. Alles ist geht sehr ruhig und höflich zu und her, niemand ist laut oder rennt, aber es wird gelacht, gescherzt und diskutiert.
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Mittagessen
Nach dem Essen spülen alle ihre Teller ab (d.h. die Tablette mit verschiedenen Einbuchtungen für die verschiedenen Gemüse, Reis, Fleisch, Suppe). Im zweiten Teil der Mittagspause werden dann verschiedene Freizeitangebote gemacht: Spiele, Sport. Die Angebote werden auch von den Lehrpersonen geleitet.

Englisch ist der Schule wichtig, weshalb sie ihre Schulzeitung ab und zu auch in Englisch herausgeben. Das ermöglicht einen guten Einblick in das doch etwas andere (veröffentlichte) Denken der Schülerinnen und Schüler.
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Zwei Berichte von Schülerinnen

Auch bei diesem Besuch habe ich den Eindruck, es sei wesentlich auch die (ich würde sagen konfuzianisch geprägte) Kultur, die das Lernen beeinflusse. Es ist weniger das Lernangebot, das anders ist, als die Art wie es genutzt wird – an dieser Schule äusserst konzentriert. Namgi, mit dem ich mich anschliessend darüber austausche, geht noch etwas weiter. Er meint, es könnten halt doch „Meme“ am Werk sein (eine Art kulturelle Programme im Gehirn, die durch Nachahmung weiter gegeben werden) Ich habe mich bisher mit der umstrittenen, von Richard Dawkins geprägten Memetik (Viruses of the mind, 1976) nicht auseinandergesetzt und würde mich eher an Kognitionswissenschaften, Kulturgeschichte und Schulklima anlehnen.

Was zum Thema Schulklima sehr interessant ist: Jede Lehrperson darf maximal vier Jahre an einem Stück an der gleichen Schule tätig sein. Dann muss sie wechseln. Sie kann sich für eine andere Schule in der gleichen Provinz bewerben. Etwa 90% werden dann auch an die Stelle versetzt, für die sie sich beworben haben, 10% an eine andere Stelle. Nach einem Jahr kann man wieder wechseln, nach spätestens vier Jahren muss man wieder wechseln. Das gilt auch für Master-Teacher, die auch an der neuen Stelle ihr besonderes Pflichtenheft behalten. Schulleiter können maximal zwei Amtsdauern bleiben, weil die meisten erst nach 50 Schulleiterin oder Schulleiter werden, erfolgt anschliessend häufig die Pensionierung.
Namgi ist überzeugt, das Rotationsprinzip sei eine der wichtigsten Stärken des koreanischen Schulsystems. So könnten keine guten und schlechten Schulen entstehen. Alle müssten sich auch einmal in schwierigeren Gebieten die Zähne ausbeissen und täten das auch gerne. Niemand könne lange einfach an einer „bequemen“ Schule bleiben. Ausserdem erhalte man immer wieder die Chance und die Pflicht, einen Neuanfang zu machen, das wirke sehr belebend auf die Schulen und die Lehrpersonen.
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Bericht einer Lehrperson in der Schulzeitung

Eine Reformschule

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Nae hat jeweils meinen Blog per Google auf Englisch übersetzt und gelesen und möchte meine Eindrücke vom japanischen Bildungssystem etwas erweitern. Sie meint, dass ich in Nara und Fukushima sehr gute öffentliche Schulen gesehen habe – Schulen allerdings, die ihre Schülerinnen und Schüler auslesen konnten, weil die „affiliated schools“ der Universitäten begehrt seien. Die Gemeindeschulen, die nicht auslesen können, hätten mit wesentlich grösseren Problemen zu kämpfen. Auch sie nennt die Probleme des Absentismus, des Mobbings, das sehr verbreitet sei und des sozialen Rückzugs, weil die Kinder und Jugendlichen Mobbing und/oder ständigen Wettbewerb und Druck nicht mehr aushielten. Die „affiliated schools“ der Universitäten hätten gute Lehrpersonen und könnten solchen Problemen begegnen, an verschiedenen öffentlichen Schulen sei das aber wenig der Fall. Sie ist nicht so sicher, ob die Präfekturen bei ihren Selektionsverfahren zur Anstellung der Lehrpersonen immer die richtigen einstellen. Häufig würden wohl Empfehlungen sehr stark gewichtet und Söhne oder Töchter von einflussreichen Eltern erhielten dann eine Stelle, auch wenn sie bei den verschiedenen Assessments nicht so gut abgeschnitten hätten.
Die Versetzungen von Schulleitenden und Lehrpersonen, die die Präfekturen anordnen können und auch häufig anordnen bewirkten oft Motivationsknicke sowohl bei Lehrpersonen wie bei Schülerinnen und Schülern. So könne es dann z.B. vorkommen, dass eine Musiklehrperson, die die Freude an der Musik gefördert und eine entsprechende Schulhauskultur aufgebaut habe, plötzlich durch jemanden ersetzt würde, der einfach verlangte, dass man die Lebensdaten von Beethoven und anderen Komponisten auswendig lerne.

Nae möchte mir eine Schule zeigen, die versucht, das Übel an der Wurzel zu packen, mit einem Schulprogramm, dass sich gegen Wettbewerbsdenken wendet, dafür Kreativität, Kooperation und Eigenverantwortung fördert. Die private Jiyonomori-Schule, die heute einen Tag der offenen Türe hat, liegt etwa eineinhalb Stunden von ihrem Wohnort entfernt. Hier hat ihr Sohn die High School besucht. Sie wollte ihm nach neun Jahren Public School einen freiheitlichen Mittelschulbesuch ermöglichen, der Kreativität und eigenständiges Denken fördert und nicht ständig diszipliniert. Ich habe den 25-jährigen fröhlichen jungen Mann, der in der Modebranche arbeitet kurz gesehen und denke, dass sie richtig entschieden hat.

So fahren wir am frühen Samstagmorgen durch Vororte und Wälder, an Sushi-Restaurants, Caterpillar-Vermietungen, Shinto-Schreinen, Bowling-Bahnen, Wasserreservoirs und Love-Hotels vorbei in die nächste Präfektur.

Direktor und Vizedirektor begrüssen die Angereisten in ihrer am Waldrand sehr schön gelegenen Schule. Die Besucherinnen und Besucher sind meist Eltern mit ihren Sechstklässlerinnen und Sechstklässern, die eine Schule für ihr Kind suchen. Einerseits wie mir scheint kreative und unkonventionelle, häufig etwas ältere Eltern, die aus Weltanschauungsgründen eine Schule mit Selbstverwirklichungspotenzial für ihr Kind suchen, andererseits wohl auch Eltern, deren Kinder Schwierigkeiten in der öffentlichen Schule haben und die sich deshalb nach einer Alternative umschauen.

Die Jiyonomori-Schule wurde 1985 gegründet. Sie verbindet Junior High School und High School, kann also sechs Jahre besucht werden, 3 Jahre während der obligatorischen und 3 Jahre während der nachobligatorischen Schulzeit. Das Schulteam empfiehlt denn auch, nicht erst in die High School einzutreten, sondern die Schule sechs Jahre zu besuchen – ihr Konzept brauche viel Zeit, da sei es wichtig, sechs Jahre zu haben. Es gibt Dormitories für Schülerinnen und Schüler, die unter der Woche dort wohnen, die meisten pendeln aber und verbringen bis zu zwei Stunden pro Weg (d.h. vier Stunden pro Tag) in Bahn und Bus.

Der Schulleiter geht auf die Gründung durch Yutaka Endo ein, der sich an der Bildungsphilosophie des Mathematikers Toyoma Kei (die ich beide nicht kenne) orientiert habe. Die Schule möchte bewusst ein Gegengewicht zu den andern wettbewerbs- und vergleichsorientierten Schulen setzen. Schülerinnen und Schüler sollen Zeit haben, sie sollen sich an sich selbst und ihrem Potenzial und nicht an anderen messen, und sie sollen nicht ständig mit Tests, Prüfungen, Ranglisten konfrontiert sein. Ausser der Eintrittsprüfung gibt es deshalb keinerlei Prüfungen. Ausser einmal im Jahr am Sporttag wird nie eine Rangliste erstellt.
Die Schule ist überzeugt, dass sich keine Lernfreude einstellen kann, wenn man ständig für Prüfungen lernt, dass eigenständiges Denken, Kooperation, Kreativität und Gestaltungsfreude nicht entfaltet werden, wenn man ständig unter Wettbewerbsdruck steht, mit anderen verglichen wird und für Tests und Prüfungen büffeln muss.
Freiheit und Autonomie werden gross geschrieben. Schülerinnen und Schüler dürfen sich deshalb auch kleiden, wie sie wollen, es gibt keine Schuluniformen, das Färben der Haare ist erlaubt und niemand misst nach, ob der Jupe maximal eine Handbreit über dem Knie endet.
Die Schule muss sich ans nationale Curriculum halten, sonst würde sie nicht akkreditiert, sie legt das Curriculum wie mir scheint aber so grosszügig wie möglich aus.
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Philosophie (c) Jiyunomori-Schule
Die Philosophie richtet sich

  • gegen Wettbewerb, Rankings
  • gegen Lernen für Tests, Prüfungen

Um das zu erreichen, orientiert sie sich an drei Pfeilern:

  • der Unterricht verfolgt das Ziel des Verstehens, des Begreifens (nicht des Auswendiglernens). Dazu ist viel Zeit nötig
  • Diese Zeit nimmt man sich beim Herstellen von „Werkstücken„, Schülerinnen und Schüler stellen etwas her, schreiben, führen etwas auf.
  • Drittes zentrales Element sind die „Lernberichte„, die die Schülerinnen und Schüler verfassen. Sie beschreiben in diesen Berichten, die die Zeugnisse ersetzen für jedes Fach detailliert, was sie in diesem Jahr gelernt haben. Die Lehrpersonen lesen die Berichte eingehend durch und treten so mit ihren Anmerkungen und Anregungen in Dialog mit den Schülerinnen und Schülern.

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Kooperation statt Konkurrenz
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Verstehen und Begreifen
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Der Schulleiter meint, er werde auch auf dem Rundgang nichts verstecken und das tut er auch nicht. Während viele Schülerinnen und Schüler engagiert am Lernen sind, dösen andere vor sich hin oder schlafen. Ja, alles brauche seine Zeit, meint der Schulleiter, am Anfang der sechs Jahre seien sich viele diese Freiheit nicht gewohnt und nutzten sie auch aus, manchmal sei Chaos. Aber die Klassen seien sich selbst ein gutes Korrektiv und wenn man niemanden dränge, würden bald alle mitmachen. Und wenn jemand mal nicht komme, weil er noch im Fluss am Schwimmen sei, so sei das für ihn wohl wichtig.
In einigen Räumen ist auch zu sehen, dass die Schule unter Geldmangel leidet, die Infrastruktur ist nicht so gut, wie ich sie an den Universitätsschulen gesehen habe.
Ein Werkstück zu machen, heisst im zweiten Oberstufenjahr dann z.B. einen Stuhl herzustellen. Das geht vom Fällen des Baumes bis zum fertigen Stuhl.
Auch bei den Textilien wird gleich vorgegangen, Wolle gekardet, mit Rädern und Spindeln, gesponnen, gefilzt und gefärbt, bis schliesslich ein Pullover entsteht.
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Werkstück im textilen Werken. Letztes Bild (c) Jiyunomori-Schule

Das Verhältnis der Jugendlichen zu den Lehrpersonen ist gut, man arbeitet gemeinsam an Projekten, reibt sich manchmal aneinander, zieht sich auch manchmal auch auf. Der kleinere Lohn als an der öffentlichen Schule wird durch mehr Freiheiten, die die Lehrpersonen haben aufgewogen.

Beim Eintritt nach der sechsten Klasse gibt es einerseits eine konventionelle Prüfung in Japanisch und Mathematik. Wesentliche Prüfungsteile sind aber das Mitmachen in einigen Lektionen, zu denen die Schülerinnen und Schüler dann einen Bericht schreiben und mit Kolleginnen und Kollegen darüber diskutieren müssen. Eine Art Assessment-Setting. Ich bringe die Aufnahmequote nicht in Erfahrung, Nae meint aber, dass wohl ein hoher Prozentsatz aufgenommen würde.

Ein Übertritt an eine nationale Universität nach der Jionomory-Schule ist schwierig, der Schnitt von der Wettbewerbslosigkeit in die grosse Konkurrenz ist dann doch zu hart. Viele private Universitäten nehmend die Abgängerinnen und Abgänger aber gerne auf, da es sich um sehr selbständige, kreative junge Leute handelt.

Ich bin froh, dieses Gegengewicht erlebt zu haben, wieder einmal eine mit viel Idealismus geführte Reformschule gesehen zu haben.
Dann ist Zeit, selbst in eine Sushi-Restaurant zu gehen und die Fisch-Reis-Seegras-Rollen vom Förderband zu fischen – dann haben sie aber meist schon einige Runden von Tisch zu Tisch hinter sich und sind nicht mehr so frisch. Besser man bestellt sie auf einem Touchscreen. Dann kommen sie nämlich auf einem zweiten Förderband per Spielzeugferrari genau zu unserem Tisch angerast und sind frischer…

Heute ist mir das Land wieder sehr sympathisch.

Primarschule Fukushima

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Reiko, die mal ein halbes Jahr an der PH Zürich als Gastdozentin verbracht hat und ihre Kolleginnen und Kollegen freuen sich sehr über meinen Besuch in Fukushima. Es war mir wenig bewusst, aber das Gebiet wird seit dem Reaktorunfall von Besucherinnen und Besuchern gemieden, mein Besuch wird auch deshalb sehr geschätzt.
Ich habe ausgiebig Gelegenheit, die der Uni angegliederte Primarschule, und die Lehrpersonenbildung an der Uni zu besuchen. Und ich verbringe jeden Abend in sehr netter Gesellschaft, esse rohen, geräucherten, luftgetrockneten, gesalzenen, gegrillten und gebratenen Fisch, Yakitori, Tempura und weitere exquisite Speisen, trinke Bier, ganz verschiedene Sake und Shochu aus Weizen, Buchweizen und Kartoffeln und bin einmal mehr völlig eingenommen von der Gastfreundschaft der Japanerinnen und Japaner und ihrer Herzlichkeit.
Hier einige Eindrücke von meinem Besuch in der Primarschule, die auch hier die Klassen 1 – 6 umfasst.

Organisation
614 Schülerinnen und Schüler, d.h. je um die 100 pro Jahrgang.
Die Klassengrösse nimmt wegen des Geburtenrückganges ab. In Japan beträgt sie in der Regel um die 35, in Fukushima liegt sie momentan darunter.
50 Lehrpersonen, alle arbeiten Vollzeit (d.h. viel mehr als das, was wir unter Vollzeit verstehen)
Viele der zusätzlich benötigten Angestellten werden mehr oder weniger auf freelance-Basis beigezogen. Die Köchinnen sind z.B. Mütter oder Frauen der Lehrpersonen
Die „affiliated school“ der Universität („Fuzoku“ Elementary School) ist auch zuständig für die Praktika der Studierenden des Studienganges Primarlehrperson der Uni Fukushima. Nächste Woche werden wieder 60 Studierende ihr 4-wöchiges Praktikum starten
Die Uni hat dementsprechend auch bei der Personalauswahl ein Mitspracherecht. Die Präfektur schlägt z.B zwei bis drei geeignete Personen für die Position der Schulleiterin, des Schulleiters vor und die Universität kann sich dann für jemanden dieser Kandidierenden entscheiden.
Die Schule ist beliebt, sie kann nicht alle Interessentinnen und Interessenten aufnehmen und führt deshalb eine Aufnahmeprüfung nach dem Kindergarten durch. Von den 130 Interessierten konnten letztes Jahr 105 aufgenommen werden. Der logische Weg nach der Fuzoku Elementary School der Uni Fukushima führt in die Fuzoku Junior High School. In der Regel schaffen fast alle Sechstklässlerinnen und Sechstklässler den Übertritt. Letztes Jahr konnten in die Junior High noch 40 weitere Schülerinnen und Schüler aufgenommen werden.

Die Schule hat Fünftagewoche. Es gibt einen fixen Stundenplan für die ganze Schule. Am Morgen mit zwei 100-Minuten-Blöcken, am Nachmittag in der Regel mit zwei 45-Minuten-Lektionen und Zeit für Spielen, an dem sich auch die Lehrpersonen beteiligen. Im Stundenplan ist auch Zeit fürs Putzen des Schulhauses eingeplant (zwei Mal wöchentlich intensiv, drei Mal Besenreinigung). Es ist selbstverständlich, dass die Schülerinnen und Schüler selbst putzen. Die WC werden ebenfalls von Schülerinnen und Schülern nass aufgenommen, nach Schulschluss kommen werden sie aber von Putzfrauen nochmals intensiv geputzt.
Das Mittagessen nehmen die Schülerinnen und Schüler im Klassenzimmer ein. Sie holen ihr Essen in der Küche mit einem Wägelchen ab und zwei Schülerinnen oder Schüler schöpfen es dann ihren Mitschülerinnen und Mitschülern. In der ersten und zweiten Klasse helfen Kolleginnen und Kollegen aus oberen Klassen beim Ausgeben des Essens. Die Lehrpersonen essen ebenfalls im Klassenzimmer.
„Bibliotheksdienst“ haben ebenfalls Schülerinnen und Schüler. Sie gehen gekonnt mit den Scannern um und leihen ihren Mitschüler/innen Bücher aus.
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Die Bücherausgabe wird von Schülerinnen und Schülern betreut

Juku
Juku, d.h. Zusatzunterricht an privaten Institutionen nehmen sehr viele Schülerinnen und Schüler. Die Eltern erachten das angesichts der akademischen Berufswünsche ihrer Kinder (viele wollten Ärzte oder Ärztinnen werden) für nötig, damit sie später einmal die Aufnahmeprüfung in eine gute Universität bestehen. Auch finden die Eltern, angesichts der Globalisierung müssten die Kinder schon früh Englisch lernen. Die Englischlektionen ab 5. Klasse der Primarschule genügen ihnen nicht, sie seien vor allem aufs Hörverstehen und Sprechen ausgerichtet und in den Augen der Eltern zu spielerisch aufgebaut.

Unterricht
In einigem habe ich das Gefühl, einfach eine gute Schule zu sehen – unabhängig davon, ob das jetzt eine schweizerische oder eine japanische Schule ist. Anderes scheint mir kulturspezifisch zu sein.
In den Lektionsbesuchen fällt mir auf:

  • Das Verhältnis Lehrpersonen – Schülerinnen und Schüler ist herzlich. In den Pausen, wenn man zusammen spielt, klemmt ein Lehrer auch einmal eine Unterstufenschülerin unter die Arme, die Schulleiterin herzt eine andere Schülerin.
  • die Türen zu den Klassenzimmern – sofern überhaupt vorhanden – sind immer offen, z.T. sind die Klassenräume ganz offen, d.h. ohne Wand gegen den Korridor oder haben Fenster auch zum Korridor hin.
  • Einräder und damit das Halten der Balance haben ihren festen Platz an den Schulen und werden in den Pausen und im Sportunterricht verwendet (in Nara dachte ich, das sei eher eine Spezialität der dortigen Schule)
  • die Schülerinnen und Schüler sind konzentriert, die „time on task“ ist hoch
  • die Schülerinnen und Schüler hören sich gegenseitig gut zu, sie sind sogar konzentrierter dabei, wenn eine Klassenkameradin oder ein Klassenkamerad spricht als wenn die Lehrperson etwas erklärt
  • Ich habe den Eindruck, dass die Schülerinnen und Schüler nach einer relativ kurzen Sequenz des selbständigen oder kooperativen Arbeitens, des eigenständig nach Lösungen Suchens schnell zur richtigen Lösung für ein Problem hingeführt werden. „Scaffolding“ hat hier Priorität vor der eigenständigen Wissenskonstruktion. Dies macht den Unterricht recht effizient, wenn auch hier und dort wohl auf Kosten des tiefen Verstehens oder der eigenen Kreativität. Auch im Musikunterricht in Grossgruppen verläuft das Blockflötenspielen – in einer herzlichen Atmosphäre – ganz nach dem Vormachen-Nachmachen-Prinzip.

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Kalligraphie wird durch eine Fachlehrerin erteilt, die wegen ihrer besonderen Fähigkeiten das Lehrdiplom bekommen hat
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Der Musikunterricht entspricht im Unterschied zu vielen anderen Fächern wohl nicht ganz den schweizerischen musikdidaktischen Prinzipien – aber er findet statt
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Textiles Werken mit 32 Schülerinnen und Schülern
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Science-Lektion zum Thema Elektrizität
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Das Schreiben eines Aufsatzes wird mit einer Mindmap vorbereitet

Hausaufgaben
Es gibt keine „klassischen“ Hausaufgaben, in denen z.B. Rechenoperationen geübt oder Aufsätze geschrieben werden. Hausaufgaben gehen eher in Richtung, eine Fragehaltung aufzubauen, die eigenen Interessen und das eigene Potenzial besser kennen zu lernen. Reiko erklärt, dass ein Kind, das gerne draussen sei, also z.B. in den Wind stehe, versuche den Wind zu spüren und Fragen zusammenstelle: warum spüre ich den Wind, warum ist das so verschieden, wenn ich geschwitzt habe und wenn nicht, warum ist der Wind manchmal warm, manchmal kalt? Solche Fragen sollen die Kinder dann selbst zu beantworten suchen und die Antworten oder noch offene Fragen in die Schule mitbringen. Erwünscht sei auch, dass man z.B. zu Hause werke. Wenn man in der Schule das Nähen gelernt habe, solle man das zu Hause weiter üben, den Eltern komme bei der Entscheidung, mit welchem Werkstoff gearbeitet werden solle, eine wichtige Beratungsfunktion zu. Für die Ferien werden regelmässig Aufgaben gegeben wie „Erlebnisse malen“, „Insekten beobachten und die Beobachtungen festhalten“, „Tagebuch schreiben“, „Ein fotografisches Tagebuch zusammenstellen“.

Zusammenarbeit mit Eltern
Es existiert, wie überall in Japan eine PTA (Parents-Teacher-Association), die bei Schulanlässen mithilft, sich regelmässig trifft, Anregungen gibt usw. Eltern können nach Voranmeldung jederzeit in die Schule kommen und z.B. Unterricht beobachten. Es gibt institutionalisierte Gespräche mit Eltern, für die bestimmte Zeiträume vorgesehen sind (September, Dezember/Januar usw.). An dieser Schule finden die Elterngespräche in der Schule statt, es gibt aber viele Schulen, in denen die Lehrpersonen diese Gespräche bei der Familie zu Hause durchführen.

Lehrplan
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Seit der letzten Überarbeitung, die den Schülerinnen und Schüler mehr Freizeit hätte bringen sollen, wurde die Stundendotation wieder erhöht. Japanisch wurde gestärkt, ebenso Social Studies, Arithmetik und Science. Gekürzt wurde dagegen die Zeit für den von den Schulen selbst verantworteten fachübergreifenden Unterricht.
Sport heisst unverändert „Leibeserziehung“.
In den ersten beiden Schuljahren haben – das ist mir schon in Nara aufgefallen – die „Living Environment Studies“ ihren festen Platz. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich in diesen drei Jahreswochenstunden intensiv mit der Natur auseinander. Sie sind meistens draussen, beobachten die Natur, ziehen z.B. Frösche auf. ESD, d.h. Education for sustainable development hat an den Schulen einen festeren Platz als in der Schweiz. Die Grundlage wird in den „Living Environment Studies“ sehr handlungsorientiert gelegt, nachher wird das Thema in „Science“ weiterbearbeitet.
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Social Living Studies
Unter „Special Activities“ sind z.B. Planungsarbeiten für eine Exkursion, den Schuljahresabschluss usw. subsummiert.
Moralische Erziehung erinnert an einen stark gelenkten Lebenskunde-Unterricht. Es werden z.B. Situationen besprochen, in denen ein Kind, einen verbotenen Weg gehen will, weil das viel schneller gehe. Die Schülerinnen und Schüler argumentieren dann über Vor- und Nachteile und kommen natürlich zum Schluss, dass der verbotene Weg nicht eingeschlagen werden soll.
Im fächerübergreifenden Unterricht werden die drei Klassen eines Jahrgangs zusammengenommen und bearbeiten miteinander ein Thema. Eines ist „Sonnenblume“ ein weiteres – nicht überraschend für Fukushima – „Carry on“. Mach weiter, es muss weiter gehen, schaue optimistisch in die Zukunft ist der Tenor dieses Themas. Ein Jahr später heisst das Thema „Regenbogen“. Es geht um Verschiedenheit, wie sie in den Farben des Regenbogens zu finden ist, ein Verschiedenheit, die miteinander harmonieren muss – auch wie im Regenbogen. Auch dies ein sehr japanisches Thema, wie mir scheint.
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Carry on…
Schulleitung, Lehrpersonen
Schulleitungen werden von der Präfektur eingesetzt und von dieser auch wieder abberufen. Die Verweildauer an einer Schule beträgt zwischen einem und acht Jahren, spätestens dann wird man versetzt. Reiko erachtet eine Amtsdauer von drei bis vier Jahren als optimal. Sie wird entsprechend nächstes Jahr zurücktreten und dann wieder vollamtlich an der Uni tätig sein.
Auch Lehrpersonen werden von der Präfektur eingesetzt und allenfalls versetzt, wobei sie sich selbst für Stellen an anderen Schulen bewerben können.
Lehrpersonen arbeiteten – wie die meisten Japanerinnen und Japaner – extrem lange. Offiziell beginnt die Präsenzzeit an der Schule vor acht Uhr und endet um 18:00 Uhr. An anderen Schulen endet sie etwas früher, sie haben dafür keine dreiwöchige Sommerpause. Das heisst aber nicht, dass die Lehrpersonen um 18:00 Uhr nach Hause gehen, die meisten arbeiten bis 22:00 Uhr in der Schule weiter. Der Verwaltungsleiter (der auch so lange bleibt) muss dann jeweils mit dem Mikrophon alle auffordern jetzt nach Hause zu gehen.
Auch die drei Wochen Ferien werden von kaum jemandem eingezogen. Warum? „Das ist japanisches Denken“. Aber Reiko ist auch der Meinung, dass das nicht gesund sei. Sie sieht ein Hauptproblem darin, dass alle so sozialisiert sind, sämtliche Arbeiten, die anstehen auch zu erledigen. Und weil im Lehrberuf letztlich nie alles erledigt ist, arbeiten die Lehrpersonen weiter und weiter. (So ganz unbekannt kommt mir das ja nicht vor…) Schlafmangel sei ein grosses Problem. Einige werden dann tatsächlich krank und können nicht mehr arbeiten. Eine wichtige Herausforderung aller an der Schule Beteiligten sei zu lernen, Prioritäten zu setzen. Aber eben, das sei bei all den Anforderungen, die auch von Elternseite kämen, sehr schwierig. Zwei Personen auf der zweiten Führungsebene seien fast nur damit beschäftigt, das Telefon zu bedienen und Anliegen von Eltern zu bearbeiten. Zwei Mal im Monat sitzt die Schulleitung mit einer Beraterin zusammen und macht eine Art Supervision.
Die Lehrpersonen machen vier Mal im Jahr eine kollegiale Unterrichtsbeobachtung.
Ausspannen wäre wichtig. Mir fällt aber auch auf, wie die Vorstellung von Ausspannen völlig anders ist als in Europa. Sich wirklich gut zu erholen heisst z.B., eine Woche Ferien zu nehmen und nach Europa fliegen… Das ist mir schon in anderen Gesprächen aufgefallen. Die Zeit, sich zu erholen, wird extrem kleinräumig bemessen. Auch Erholung geht – wie alles hier – äusserst effizient vor sich.
Teilzeitarbeit ist für Lehrpersonen nicht möglich.
Reiko hatte in Zürich ähnliche Momente des Staunens wie ich in Japan. Die vielen Dozierenden und Lehrpersonen mit Teilzeitpensum sind ihr aufgefallen. Oder, dass man in der Schweiz das Gefühl habe, viel zu arbeiten; dabei gingen viele schon vor 17 Uhr nach Hause. „Aber das ist schweizerisches Denken“. Reiko fasst zusammen, dass in der Schweiz das übrige Leben wichtiger sei als die Arbeit. In Japan sei das genau umgekehrt.

Und ja, wie ich gestern beschrieben habe, ist auch der Kernkraftwerkunfall präsent.

1700 km und ein paar Learnings

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1700 km Bahnfahrt von Saga nach Fukushima. Trotz drei Mal umsteigen dauert das nur achteinhalb Stunden. Honshu ist im Flachland sehr dicht bebaut, über weite Strecken zubetoniert. Die Aussicht ist denn auch nicht sehr berauschend – Mt. Fuji taucht heute nicht auf – und mir bleibt etwas Zeit, mir im Hinblick auf die Schul- und Universitätsbesuche in Fukushima und Korea zu überlegen, was denn bis jetzt meine „Learnings“ bezüglich Schule sind.
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Wenn ich mich an das Angebots-Nutzungsmodell von Helmke und anderen (hier kopiert von der Uni Koblenz-Landau) anlehne und so nach Differenzen suche, so gibt es natürlich Unterschiede im Angebot. Viele Lehrpersonen unterscheiden sich von ihrer Philosophie und ihrem Engagement meines Erachtens aber nicht stark von Schweizer Lehrpersonen. Auch ihre Auffassung von gutem Unterricht ist nicht so verschieden. Die Art, wie sie Unterricht durchführen ist (bei gegen 40 Schülerinnen und Schüler) sicher etwas frontaler, es kann weniger individuell auf die einzelnen eingegangen werden, aber der Ablauf des Unterrichts folgt häufig Unterrichtschoreographien, die wir auch kennen. Es ist also meines Erachtens nicht das Angebot, das den grossen Unterschied ausmacht – obwohl wir natürlich fast reflexartig immer zuerst dort suchen. Unterschiede sind stärker in anderen Bereichen auszumachen.

(1) Der Kontext unterscheidet sich wesentlich. Die kulturellen Rahmenbedingungen sind in einer Kollektivgesellschaft ganz anders als in einer Individualgesellschaft. Allzu viel Individualismus ist nicht erwünscht, man lernt schon früh in der Familie und in der Gesellschaft, wie man sich zu benehmen hat, welches Verhalten erwünscht ist und welches Verhalten bestraft wird. Die Gesellschaft ist weniger permissiv, man kann es sich kaum leisten, unangenehm aufzufallen, sonst fällt man als Kind, als Jugendliche/r und als Erwachsene/r durch die Maschen. Dieser kontextuelle Faktor hat einen wesentlichen Einfluss auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler.
(2) Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass alle Schülerinnen und Schüler ein hohes Lernpotenzial haben, wenn sie sich nur entsprechend anstrengen. Faktoren wie Begabung, familiärer Hintergrund usw. werden viel weniger gewichtet. Anstrengung ist der Schlüssel zum Erfolg. Z.T. konfuzianisch, z.T. nachkriegs-demokratisch geprägt, ist das System sehr meritokratisch. Nur wer bei all den Aufnahmeprüfungen Erfolg hat, kommt weiter, d.h. wird in eine gute Junior High, eine gute High School, eine gute Universität aufgenommen und erhält schliesslich eine gute Stelle. Eine zweite Chance gibt es allenfalls nach einem Jahr, wenn man sich mehr angestrengt und strenger gelernt hat, nachher aber nicht mehr.
(3) Die Familie hat einen grossen Einfluss auf den Schulerfolg, in dem sie die Schulen finanziert und vor allem auch die ausserschulische Nachhilfe ermöglicht, d.h. z.B. einen guten Prüfungsvorbereitungskurs finanziert, eine gute Nachhilfe für ein weiteres Vorbereitungsjahr auf die Aufnahmeprüfung bezahlt usw. Dafür werden immense Summen ausgegeben, so viel, dass viele Eltern angeben, sich nicht mehr als ein Kind leisten zu können. Die meritokratische Ausrichtung wird dadurch natürlich ausgehebelt.
(4) Ich meine, dass die Familie dadurch einen sehr direkten Einfluss auf die Lernaktivitäten und vor allem auf das „ausser“schulische Lernen hat. Den Kindern und Jugendlichen ist bewusst, dass sich ihre Eltern finanziell und emotional stark für sie verausgaben (Das Beten von Eltern in den verschiedenen Tempeln und Schreinen vor den Prüfungen ist z.B. sehr verbreitet). Entsprechend stark unter Druck stehen die Schülerinnen, Schüler und Studierenden und entsprechend nutzen sie, falls sie dem Druck standhalten, vor allem vor Prüfungen auch sämtliche zur Verfügung stehenden Lernangebote.
(5) Das Lernen soll natürlich den Aufbau von fachlichen Kompetenzen und einer harmonischen Gesellschaft bewirken. Gemessen wird es aber fast ausschliesslich an Prüfungserfolg. Alles Lernen ist – mit allen Vor- und Nachteilen – stark auf dieses Ziel ausgerichtet. Die asiatischen Länder sind sich dabei sehr wohl bewusst, dass wirtschaftlicher Erfolg nicht allein durch Auswendiglernen erreicht wird (dass aber Ehrgeiz, Selbstdisziplin, Verausgabungsbereitschaft und das Zurückstellen von persönlichen Bedürfnissen durchaus helfen). Entsprechend sind die Prüfungen so aufgebaut, dass z.B. Problemlösekompetenz nötig ist, um sie gut zu bestehen.

Dass das alles nicht für alle aufgeht, hat vor einem halben Jahr Abigail Haworth in einem süffigen Artikel im Guardian beschrieben: „Why have young people in Japan stopped having sex?“

Immer wieder interessante Einblicke in die Gesellschaft Japans gibt auch der in Kyoto lehrende amerikanische Soziologe Robert Moorehead in seinem Blog, in dem auch Studierende zu Wort kommen (vgl. auch gestrigen Eintrag).

In Tokio habe ich 8 Minuten, um umzusteigen. Der Zug kommt auch auf die Sekunde pünktlich an und für den Wechsel von einem Perron zum anderen braucht man 6 Minuten… Klappt also bestens. Nach Tokio wird es grüner, die Landschaft wirkt in der Präfektur Fukushima freundlicher. Aber mit dem Namen sind natürlich die Assoziationen an das grosse Erdbeben, den Tsunami, die Atomkatastrophe verbunden.
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