
Mit dem Bus fahre ich in eineinhalb Stunden an die koreanische Südküste nach Gwangyang. Herr Goe, ein Lehrer an der privaten Gwangyang Necheol Nam Elementary School erwartet mich schon am Bus. Er hat Herrn Pak mitgebracht, einen Ehemaligen der High School, der soeben in den USA seinen Master abgeschlossen hat, jetzt zwei Monate zu Hause ist und dann in den USA bei einer grossen Treuhandfirma zu arbeiten beginnt. Pak spricht natürlich perfekt Englisch und begleitet mich den ganzen Tag.
Die beiden fahren mich zuerst durch Gwangyang und zeigen mir die riesige aufgeschüttete Halbinsel mit den Posco-Werken. Posco ist einer der weltweit grössten Stahlhersteller mit Hauptsitz in Pohang und einem sehr grossen Werk hier in Gwangyang. Die Firmenstiftung POSEF (Posco Education Foundation) führt hier in Gwangyang für die Kinder ihrer Angestellten Kindergärten, Primarschulen, eine Sekundarschule (Middle School) und eine High School. (Broschüre PDF)
Eine davon, die Gwangyang Necheol Nam Elementary School werde ich jetzt besuchen.
Beim Eingang erwarten mich der Chef der Stiftung POSEF hier in Gwangyang, ein anderer „very important man“ der Stiftung und der Schulleiter. Die POSEF-Leute sind nach einer Medaillenverteilung an erfolgreiche Schülerinnen und Schüler extra hiergeblieben, um mich zu begrüssen. Ausgerechnet heute habe ich keinen Anzug an, weil ich dachte, ich besuche eine kleine Schule auf einer Insel und nicht overdressed wirken wollte.
Die POSEF-Schulen gehören zu den besten Privatschulen Koreas. Während Kindergarten und Primarschule fast ausschliesslich von Kindern von Posco-Angestellten besucht werden, können sich in die Middle- und High-School auch Absolventinnen und Absolventen anderer Schulen bewerben. In Betracht gezogen werden aber nur diejenigen, die zu den 10% besten ihres Jahrgangs gehören. Dieses Ranking wird aus den midterm- und Schuljahresabschluss-Examen berechnet, die jedes Jahr durchgeführt werden. Die Konkurrenz und das sich ständig Bewerben sind hier im ganzen Bildungssystem allgegenwärtig. Ein riesiger Wirtschaftszweig, die „Hagwon“, das „Private Tutoring“ hängt davon ab. Praktisch alle Schülerinnen und Schüler besuchen solche privaten Nachhilfeschulen. Sie schlafen deshalb sehr wenig und die Eltern tragen eine grosse finanzielle Last.
Posco nimmt z.B. mit einem extrem selektiven Auswahlverfahren jeweils 100 Bewerbende in seine „Meister“-High School auf, d.h. seine berufsorientierte High School, die eng mit der Firma zusammenarbeitet. (Pressemitteilung)
Die Selektion ist auch für Hochschulabsolvierende sehr hart, wenn sie sich in einer grossen Firma um eine Stelle bewerben. Der „Business Insider“ hat letzthin beschrieben, wie Samsung seine Angestellten auswählt.
Posco kennt ähnliche Bewerbungsverfahren, allerdings hat der Konzern in letzter Zeit in Korea nicht mehr viele neue Mitarbeitende angestellt, die Schulen haben deshalb rückläufige Schülerinnen- und Schülerzahlen.
Im ersten Teil des Morgens findet eine Einführung in die koreanische Volksmusik statt.

Eine vom koreanischen Staat engagierte, soweit ich das beurteilen kann hervorragende, Musikerinnengruppe (Facebook) führt die Schülerinnen und Schüler in die Volksmusik, Opern, Mythen ihres Landes ein. Keine einfache Kost. Die Schülerinnen und Schüler sitzen am Boden, hören meist aufmerksam zu und rutschen zwischendurch auch mal ein bisschen hin und her oder flüstern kurz miteinander. Zu unruhig wird es im Saal aber nie.

Klassenlehrpersonen und Schulleitung sind ebenfalls hier, geniessen den Aufritt, haben aber auch ein Auge auf das Publikum. Die Klassenlehrpersonen unterrichten hier Koreanisch, Mathematik, Geschichte und Science. Die übrigen Fächer werden von Fachlehrpersonen erteilt, wobei je nach Fach die Klassenlehrperson auch dabei ist und Teamteachingfunktionen übernehmen kann. Zusätzlich geben noch „Koryphäen“ Stunden. Für Mathematik wurde ein russischer Professor eingestellt, der zwischen den verschiedenen Schulen hin- und herpendelt.
Für die meisten Fächer stehen eigene Fachräume zur Verfügung, die eine anregungsreiche, auf das Fach abgestimmte Lernumgebung ermöglichen. Im Englisch ist ein ganzes EngLand aufgebaut, mit Fototapeten von Pubs, Telefonkabinen, Tube-Stationen usw. In Mathematik stehen all die Hilfsmaterialien zur Verfügung, die wir auch kennen, zusätzlich sind sogar die Sonnenstoren mit Euklid oder Pythagoras illustriert. Die Tische sind nicht immer eckig, die Schülerinnen und Schüler sollen ein out-of-the-box-Denken lernen und das gehe besser, wenn nicht alles viereckig sei.

In Science sind an einer Wand Bilder von Nobelpreisträgern aufgehängt und es wird gefragt, wer wohl der erste koreanische Nobelpreisträger sein werde. It is our ambition that he comes from our school.

Die Ziele der Schule und ihre „moralische Erziehung“ sind auch sonst überall präsent. Dass die Ansprüche hoch sind, sehen wir auch in der Bibliothek. 600 Bücher sollen in den 12 Schuljahren mindestens gelesen werden. Um das Ziel zu erreichen, finden immer wieder auch Bibliotheksnächte statt. Eine Mutter, die in der Bibliothek als Freiwillige arbeitet, ist gerade am Vorbereiten einer solchen Lesenacht.


In Herr Goes Lektion geht es ums Debattieren. Schülerinnen und Schüler wägen zuerst in Gruppen Umweltschutz und Entwicklung gegeneinander ab, nachher diskutieren sie in der Klasse darüber. In der nächsten Lektion, sollen sie ihre Meinung dann auch mit Plakaten illustrieren. Goe gilt als Experte im Debattieren, er gibt in den Ferien jeweils auch Kurse für Lehrerinnen und Lehrer zu diesem Thema.

Anschliessend besuchen wir den drei Jahre dauernden Kindergarten. Schöne, helle und grosse Räume. Auch im Kindergarten gibt es einen Stundenplan mit Fächern und viele Fachräume. Ob sie lesen würden? Ja, natürlich, ab zweitem Kindergartenjahr, die meisten Kinder könnten es aber schon vorher.



Der Kindergarten hat auch viel Platz draussen, Tiere werden gehalten, jede Gruppe hat einen Garten.

Die Kindergartenhündin hat vor fünf Tagen Junge bekommen

Die Leiterin des Kindergartens sagt plötzlich „oh, graduates from our kindergarten“, rennt den Zweitklässlerinnen mit offenen Armen entgegen und umarmt sie
Der reguläre Unterricht ist um drei Uhr fertig, jetzt beginnen die Sitzungen der Lehrpersonen und die „extracurricular activities“. Die Kindergartenschülerinnen und -schüler können z.B. unter 16 Angeboten wählen (vom Bauchtanz über Faltarbeiten, Töpfern, Mannschaftssportarten bis zu Maskenspiel) und haben so nochmals 60 – 90 Minuten nicht Unterricht genannten Unterricht. Nachher besteht ein Auffangangebot für Kinder, die noch nicht nach Hause können.
Auch in der Schule nebenan haben die „extracurricular activities“ begonnen. Dazu gehören z.B. auch Pfadfinder, Trommeln und Fussball. Gwangyang hat ein Soccerteam, das momentan auf Platz 4 in der koreanischen Meisterschaft liegt und natürlich auch von Posco gesponsert wird. Schüler, die in der Schule im Fussball Talent zeigen, werden besonders gefördert und es ist der Stolz der Lehrerschaft, wenn einer es schliesslich in die erste Mannschaft schafft.

Trommeln, eine „extracurricular activity“
Ich war bis jetzt nach offiziellem Schulschluss noch nie in einer Schule und es ist hochinteressant, wie der Betrieb – einfach mit anderem Personal – weitergeht, von der Schule organisierte Freizeitaktivität mit erheblichem Lerneffekt. Nach 17 Uhr gehen die Schülerinnen und Schüler dann nach Hause, machen Hausaufgaben, treiben vielleicht etwas Sport, essen und dann stehen für sehr viele noch die Hagwon auf dem Programm. Viele dieser privaten Nachhilfeschulen werben im Moment damit, dass sie besonders gut für ADHD-Schüler seien.
Auch mein Programm ist noch nicht zu Ende – ich wollte ja auf eine Insel. Das hat man hier natürlich nicht vergessen und so fahren wir eine Stunde nach Yeosu und besuchen den Expo-Park mit seinen Wasserfontänen und bei Sonnenuntergang auch noch eine Insel. Jetzt steht noch ein Nachtessen auf dem Programm und dann will mich Goe die anderthalb Stunden von Gwangyang nach Gwangju zurückfahren. Es gelingt mir mit Vermittlung von Pak, mich durchzusetzen, so dass ich den Bus nehmen kann. Ich schätze die Gastfreundschaft hier sehr, sie hat aber auch etwas sehr Verpflichtendes, für mich manchmal Beengendes. Einen Gast nach dem Nachtessen von Zürich in sein Hotel nach Bern zurückzufahren, käme mir in der Schweiz nie in den Sinn. Herr Goe willigt schliesslich ein und kauft mir dafür das Busbillett. Ganz wohl ist es ihm aber nicht, wohl auch, weil er versprochen hat, gut für mich zu schauen. (Namgi runzelt am nächsten Morgen auch etwas die Stirn, er hat natürlich bereits erfahren, dass ich mit dem Bus zurückgekommen bin. Aber Goe habe ihm gesagt „He’s got a Ph.D., so he probably will find the hotel“ und da habe er ja eigentlich Recht. Es scheint mir doch etwas interkulturelle Verständigung gelungen zu sein.)

Beim Nachtessen mit viel Rindfleisch, Zwiebeln, Kimchi, Knoblauch haben wir viel Spass. Das dünn geschnittene Fleisch wird auf einem im Tisch eingelassenen Holzkohlegrill zubereitet und schmeckt sehr gut.
Gegen Mitternacht bin ich dann in Gwangju im Hotel. Ein 18 Stunden-Tag, das ist hier ganz normal.