Nagasaki

Die Aussenquartiere von Saga sind von einem Kanalsystem durchzogen. Ein Paradies für Frösche. Und zwar für riesige. Ihr Quaken hört sich an wie eine Mischung aus Muhen von Kühen und dem Hupen einer Lokomotive. Ich schlafe dementsprechend so mittel…

Dann fahre ich mit dem Zug nach Nagasaki. Der Name der Stadt wird immer mit dem zweiten Abwurf einer Atombombe im August 1945 verbunden bleiben. Die Eindrücke aus Hiroshima sind mir aber noch so nahe, dass ich nicht zu den Gedenkstätten fahre.
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Ich bin bei früheren Reisen nach Asien darauf gestossen, dass Nagasaki lange das einzige Fenster Japans zur westlichen Welt war. Die niederländische VOC (vereinigte ostindische Compagnie) hatte hier auf der künstlich angelegten Insel Dejima im Hafen von Nagasaki ihre Niederlassung und auch die Chinesen hatten ein ihnen zugewiesenes Gebiet. Entsprechend lief praktisch der ganze Überseehandel Japans in den Jahren 1635 – 1854 über Nagasaki. Nach dem Verbot des Christentums 1635 waren die Portugiesen, die vorher mit Spanien den Handel dominiert hatten, in Japan nicht mehr geduldet. Die Konzession erhielten die protestantischen Niederländer, denen man eher zutraute, keine Mission zu betreiben.
Erst 220 Jahre später, 1854 verloren Dejima und Nagasaki ihre bisherige Bedeutung, weil die erzwungene Öffnung Japans auch die Öffnung anderer Häfen mit sich brachte.
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Ich habe in letzter Zeit David Mitchells „The Thousand Autumns of Jacob de Zoet“ zu lesen begonnen. Er beschreibt das Leben auf Dejima anschaulich. Der Rowohlt-Verlag hat einen Blog dazu geführt.
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Die Museen auf Dejima und das Museum für Geschichte und Kultur, die ich heute besuche, widmen sich schwergewichtig diesen 200 „goldenen Jahren“. Die Bibliothek der Diet (des japanischen Parlaments) hat zusammen mit der königlichen Bibliothek der Niederlande eine interessante Website mit vielen Quellen aus ihren Beständen gestaltet. Interessant ist auch ein Blick in die englische Wikipedia, die Rangaku beschreibt, die „Holländischen Studien“ bzw. das durch Japan zusammengetragene Wissen, das aus Kontakten zum Westen entstand.
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Zwischen den Museumsbesuchen schlendere ich zum Hafen und staune nicht schlecht, dort ein Kriegsschiff mit der Flagge, die die japanischen Streitkräfte im 2. Weltkrieg benutzt haben, zu sehen. Offenbar wurde die Flagge von der Marine der japanischen Selbstverteidigungskräfte übernommen, was begreiflicherweise immer wieder zu Verstimmungen der benachbarten und unter dieser Flagge bekämpften und unterjochten Länder führt.
Im Auftreten unterscheiden sich die „Self Defense Forces“ in nichts von einer normalen Streitmacht, erst recht nicht im Budget. Im Moment sind die Regierungsparteien LDP und New Komeito daran, sich jeden Dienstag zu treffen und einen Konsens zu suchen, ob der japanische Verfassungsartikel, der Japan Militäreinsätze verbietet, auch anders interpretiert werden könne…
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Im Gegensatz zu Dejima gibt es die damalige chinesische Niederlassung, die sich auf dem Festland befand und von der aus die Chinesen einen viel grösseren Spielraum, sich zu bewegen hatten, nicht mehr. Ein Chinatown mit einer recht grossen chinesischen Population existiert aber noch, Japanerinnen und Japaner schätzen Chinatown vor allem wegen des Essens. Der Einfluss Chinas auf Japan war aber kulturell sehr gross. Auch ein Konfuziustempel mit chinesischem Museum steht in Nagasaki. Man wird vor allem in den neuen Konfuzianismus eingeführt, in die Verbreitung der Lehre durch die Schüler von Konfuzius und dann die Ausbreitung nach Japan. Ihr sind verschiedene – leider nur japanisch beschriftete – Ausstellungsteile gewidmet. Es wird auch darauf hingewiesen, dass die Fähigsten (und nicht diejenigen mit der richtigen Abstammung oder den richtigen Beziehungen) gemäss der Lehre von Konfuzius Ämter im Staat übernehmen sollen. Vgl. zum japanischen Konfuzianismus auch eine Zusammenfassung von Klaus Antoni, Uni Tübingen)
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Zurück in Saga holt mich Noriko wieder ab. Sie hat auch bereits gewaschen und gekocht – es ist mir nicht ganz Recht, mich so zu bewirten zu lassen. Wir unterhalten uns dank Google-Übersetzer gut und kommen auf Themen, die mir hier immer wieder begegnen: Gender Gap, Männer, die sich praktisch nicht um die Familie kümmern, enorm hohe Schul- und Studienkosten der Kinder, kaum Freiheiten. Life in Japan is very strict. Aber die Frauen, denen ich begegne sind stark, sie haben Lebensfreude und Schalk.

Über Dazaifu nach Saga

Ich fahre auf die vierte der Hauptinseln Japans, nach Kyushu. (Hokkaido im Norden muss ich mir für einen späteren Besuch „aufsparen“). In Fukuoka, der grössten Stadt der Insel steige ich um und fahre nach Dazaifu. Daizaifu war in alten Zeiten die Hauptstadt Kyushus, sie ist umgeben von waldigen, jetzt hellgrün leuchtenden Hügeln.
Wie immer ist am Morgen noch nicht viel Betrieb, ideal um in Ruhe den Komyozenji-Tempel mit seinem herrlichen Garten anzusehen.
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Danach das Kyushu National Museum mit dem Motto „Understand Japanese culture from the point of Asian view“. Eine gute Möglichkeit, meine Reise nochmals Revue passieren zu lassen.
Daizafu ist ein guter Standort für das (nach Tokyo, Nara und Kyoto) vierte Nationalmuseum Japans. Die Stadt liegt etwa 20 km von Fukuoka entfernt und geographisch gesehen näher bei Shanghai als bei Tokyo. Von der südkoreanischen Küste trennt sie nur 200 Kilometer.
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Das Museum zeigt mit hochkarätigen Ausstellungsstücken auf, wie die Kultur Japans wesentlich von anderen Teilen Asien beeinflusst wurde. Zu sehen ist an einigen Beispielen, wie sich die die buddhistischen Figuren gewandelt haben, als sie über Indien und China nach Japan kamen.
In der Sammlung von Kaneko Kazushige werden Artefakte aus den – nach seiner Terminologie – vier „Ethno-Formen“ d.h. Kulturräumen Asiens verglichen: Westasien (zu dem er auch Zentralasien zählt), Süd-Asien mit Pakistan, Indien, Nepal und Bangladesh, Südostasien und Nordostasien mit Sibirien, der Mongolei, China, Japan.
Vieles war mir nicht bewusst, z.B. dass auch Japan 1274 und 1281 mongolische Angriffe erlebte.
Sehr interessant sind auch die vielen Zeichnungs- und Schriftrollen (Picture Scrolls), die viele Rückschlüsse auf die Alltagskultur Japans erlauben (Vgl. z.B. Kanagawa-Universität: PDF)

Audiovisuell aufbereitet ist z.B. eine Schriftrolle, die die kaiserliche Einladung an den chinesischen buddhistischen Priester Ganjin zeigt, seine von Havarien begleitete Fahrt nach Japan um 750 und schliesslich sein Wirken vor dem grossen Buddha und seine Gründung des Toshodaiji in Nara (vgl. auch den Blog Heritage of Japan oder JapaneseReference.)

Nach Dazaifu gefahren bin ich aber eigentlich wegen Tenman-Tenjin, dem Gott der Bildung. Sugawara no Michizane (845 – 903) war ein Gelehrter und hoher Beamter am Hof von Kyoto. Er kämpfte gegen Korruption und Klientelismus, verlor aber einen Machtkampf und wurde nicht Grosskanzler, sondern als Vizegouverneur nach Kyushu abgeschoben, wo er dann in Dazaifu starb. Die Rache nach seinem Tod soll schrecklich gewesen sein, seine Gegenspieler und Kyoto wurden von lange anhaltenden Unglücken heimgesucht, bis er schliesslich posthum doch noch zum Grosskanzler ernannt wurde. Heute gilt er nicht mehr als der Rachegott, sondern wieder als Gott der Bildung. Vor einem Examen wird in seinen Schreinen jeweils um Gelingen gebetet. (Vgl. Uni Wien).
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Und dann fahre ich durch eine sehr schöne, südliche Hügellandschaft nach Saga im Innern der Insel. Weil es nirgends ein Hotel zu einem vernünftigen Preis gab, habe ich via airbnb Noriko angefragt, ob sie mich drei Nächte aufnehmen könne. Sie hat etwas gezögert, weil sie kein Wort Englisch kann. Aber die 57-jährige Mutter, die zwei Söhnen die Aufnahmeprüfungsvorbereitung und das Studium finanzieren muss, steht dann lachend am Bahnhof in Saga und verfrachtet mich in ihr Auto. Findig, wie sie ist, hat sie zwei Mormonen-Missionare – der amtsältere hat eine japanische Mutter – engagiert, um beim Abendessen zu übersetzen. Ich schlucke zuerst etwas leer, aber es wird ein lustiger Abend. Die beiden sind heute nicht auf Mission aus, sondern tun Noriko den Gefallen. Und es ist für sie eine Möglichkeit, in Norikos Haus zu kommen – wenn eine Frau allein ist, dürfen sie nämlich keine Hausbesuche machen.
Noriko sieht in den beiden ein bisschen ihre Söhne, die jetzt in Tokio leben und die sie vermisst. Sie zieht sie auf, weil sie zwei Jahre lang kein „Date“ abmachen dürfen und bedauert ihre Mütter, die so lange auf sie warten müssen.
Und so schreibe ich jetzt in einem mit BMW-Plakaten tapezierten Zimmer irgendwo in Kyushu einen Blogeintrag.
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Miyajima

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Den heutigen Tag verbringe ich auf der Insel Miyajima. Der Torii des Itsukushima-Schreins, der bei Flut ganz im Wasser steht, ist eines der vertrauten Kalenderbilder aus meiner Kindheit.
Jahrhundertelang durften nur Priester die Insel betreten, deshalb steht der ganze Schrein auf Pfählen, so dass die anderen Gläubigen ihn per Boot direkt erreichen konnten.

Shinto-Schreine und buddhistische Tempelanlagen liegen auch auf Miyajima nicht weit auseinander. Die Tempel werden von viel weniger Touristen besucht und können so ihre Ausstrahlung behalten.
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Die Insel ist landschaftlich sehr schön, ein Primärwald (er wird jedenfalls so genannt) bedeckt den Berg „Misen“. Von oben hat man einen schönen Ausblick auf die Inseln im Inlandmeer und auf Shikoku.
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Hiroshima

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Am 6. August 1945 um 08:15 wurde die Atombombe über Hiroshima abgeworfen, die Stadt wurde von einer Minute auf die andere vollständig ausgelöscht. Viele Zehntausende starben sofort beim Bombenabwurf, durch die Hitze, das Feuer, die einstürzenden Gebäude und viele Zehntausende in den Stunden danach an den Verbrennungen, in den Tagen und Wochen danach an der Schädigung durch die Strahlung und noch Jahre und Jahrzehnte später an Leukämie und anderen Krebserkrankungen.
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Die Ausstellung ist nötig, aber sie ist schwer anzusehen. Viele Schulklassen mussten damals in der Stadt beim Abbrechen von Holzhäusern helfen, da man konventionelle Bombenangriffe befürchtete. Sie alle kamen beim Bomenbenabwurf ums Leben, ebenso wie koreanische und chinesische Zwangsarbeiter mit ihren Familien, japanische Zivilisten, Kinder, Frauen, alte Menschen.
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Erschütternd sind die Berichte der überlebenden Kinder, ihre Zeichnungen. „The Children of Hiroshima“ hiessen Buch und Film, in denen ihre Erinnerungen 1951/52 zusammengetragen wurden.
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Überall im Park sind aus Papier gefaltete Kraniche aufgehängt. Sie erinnern an Sadako Sasaki, die beim Bombenabwurf zweijährig war und 1955 als Folge der Verstrahlung an Leukämie starb. Sie hatte gehofft, wenn es ihr gelänge, 1000 Kraniche (dem japanischen Symbol für Langlebigkeit) zu falten, würde sie die Krankheit überwinden. Seither wurde der gefaltete Kranich zum Friedenssymbol und Schülerinnen und Schüler aus der ganzen Welt falten solche Origami und senden sie nach Hiroshima.
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Friedensmuseen, Friedenspark und -denkmäler sind eindringliche Mahnmale gegen Krieg und atomare Bewaffnung. Es wird auch auf die Geschichte, die zum Atombombenabwurf geführt hat, eingegangen. Japan trauert nicht nur um die Toten durch die Atombombe, auf verschiedenen Tafeln ist auch das immense Leid erwähnt, das das Land durch Krieg und Kolonialisierung verursacht hat. Eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit fehlt aber – sie würde der Würde der Gedenkstätte, der Erinnerung an das durch die Bombe ausgelöste Leid keinen Abbruch tun

Im Gästebuch haben Persönlichkeiten aus der ganzen Welt ihre Friedenswünsche aufgeschrieben. Leonard Bernstein schrieb nur einen Satz: „Schon zu viele Worte – nicht genug Taten.“ Er hat Recht.20140520-232837-84517280.jpg

Pilgerweg auf Shikoku

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Shikoku, eine der vier Hauptinseln Japans, ist vor allem landschaftlich sehr schön mit seinen abgelegenen Hügelketten und der Pazifikküste. Etwas schwierig, weil ich mit der Bahn unterwegs bin. Um einen Eindruck zu bekommen, mache ich die etwa 15 km lange Wanderung zu den ersten fünf Tempeln des Shikoku-Pilgerwegs.
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Dieser buddhistische Pilgerweg verläuft durch die ganze Insel und führt an 88 heiligen Orten vorbei. Weiss gekleidete Pilger mit einem Strohhut und einem Pilgerstab sind überall unterwegs. (Diejenigen die ich antreffe allerdings fast alle per Bus). Die weisse Kleidung symbolisiert die Ernsthaftigkeit und Reinheit des Geistes, der Strohhut schützt vor Regen und Sonnenschein und der Pilgerstab ist Verkörperung des Begründers dieses Zweiges des „esoterischen“ Buddhismus Kukai/Kobo Daishi.
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Ich komme durch viele nicht wirklich schöne Dörfer, aber auch durch Reisfelder und an Bambuswäldern vorbei zu beeindruckenden Tempelanlangen. Und es tut gut, einen Tag im Freien zu sein, die Vögel, die Sprechgesänge und das Läuten der Glocken zu hören, das Leuchten der Laternen in den Tempeln zu sehen, frische Luft und Räucherstäbe zu riechen.
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Okayama und Kurashiki

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Am Sonntagmorgen spaziere ich in Okayama durch den grossen Korakuen-Garten, er gilt als einer der drei schönsten Gärten Japans. Im 17. Jahrhundert vom Daimyo (dem lokalen Herrscher) angelegt, ist er seit Ende des 19. Jahrhunderts auch der Öffentlichkeit zugänglich.
Das 1692 erbaute Schloss des Feudalherrschers wurde im 2. Weltkrieg zerstört, danach aber wieder aufgebaut.
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Im Park beobachte ich auch eine mit grossem Ernst durchgeführte Teezeremonie. Auch einen Platz zu kaufen getraue ich mich nicht. Ich wäre krass „underdressed“ und würde durch mein Nichteingeführtsein die Zeremonie stören.
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Anschliessend fahre ich nach Kurashiki, einer Handelsstadt aus der Edo-Zeit, nur 20 Minuten von Okayama entfernt. Die Stadt kam durch die Textilindustrie (maschinelle Stickerei ab Ende 19. Jahrhundert) zu Reichtum. Viele alte Bauten in der Innenstadt sind gut erhalten, man schlendert durch die Gassen, trifft sich an den Kanälen und besucht das Ohara-Museum. Dieses Museum zeigt eine beeindruckenden Sammlung von europäischer und japanischer Moderne, die von der Besitzerfamilie der Textilfabrik gesammelt wurde. Ich staune, als ich hier eine Version von Hodlers Holzhacker und Segantinis Mittag in den Alpen finde. In der Mitte ein japanischer Künstler: Koido Narashige.
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(Bilder PD Wikimedia Commons) In der Mitte ein japanischer Künstler: Koide Narashige
Mehr interessiert mich im Moment aber, was draussen so läuft. Männer und Jungen mit Masken gehen durch die Gassen und stupsen die Leute mit einem Fächer auf den Kopf. Es scheint eine Glückwunschgeste zu sein, man bedankt sich auf alle Fälle dafür. Junge Männer tragen eine riesige Sänfte durch die Gassen und schütteln ihren Kollegen darin tüchtig durch, dazu Trommeln und ein rhythmischer Sprechgesang. Eine junge Frau wird zum Standesamt geführt (so interpretiere ich das wenigstens, ich muss mich noch kundig machen).
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Sehr interessant auch eine Kunsthandwerkmarkt, organisiert als Mitmachmarkt. Es werden nicht nur Töpfereien, Textilien, Holz- und Metallwaren, Schmuck verkauft, an jedem Stand zeigen die Kunsthandwerker Interessierten in Workshops auch, wie man die Gegenstände herstellt. Sehr viele lassen sich darauf ein, töpfern, weben, schnitzen. Auch Kinder werden angeleitet, selbst etwas zu gestalten. Sie sitzen mit ihren Müttern und Vätern in den Workshops, niemand rennt oder tobt herum. Eine ruhige, freundliche Stimmung, die Künstlerinnen und Künstler und das mitmachende Publikum konzentrieren sich aufs Anleiten und Gestalten, alle haben Freude, was dabei entsteht.
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Unterdessen verbeuge ich mich schon auch automatisch, wenn ich mich bedanke. Die Höflichkeit der Schalterangestelten, der Kondukteure, die sich, wenn sie durch den Zug gehen, am Ende jedes Wagens verbeugen, der Leute im Service und beim Putzen, der Polizistinnen und Polizisten, die mich höflich grüssen, wenn ich am Posten vorbei gehe ist wirklich beeindruckend. Man wird nicht abgeputzt, sondern alle sind bemüht, einem zu helfen, einen zu verstehen. Natürlich ist das zu einem Teil Fassade, man muss sich gegen aussen so zeigen. Aber ich habe den Eindruck, es gehe den Leuten besser dabei – besser, als wenn sie ihrer Stimmung freien Lauf lassen könnten.

Kunst auf Naoshima

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Ich fahre mit dem Zug nach Uno, wo die Fähren zu den kleinen Inseln im Inlandmeer (zwischen zwei der Hauptinseln, Honshu und Shikoku) ablegen. Auf verschiedenen Inseln hier hat das Unternehmen Benesse den Aufbau von „Artsites“ unterstützt, Kunstmuseen, Kunst in und mit der Natur, Kunstinstallationen in verschiedenen Häusern in den Dörfern. Interessant, dass Benesse 1955 als Schulbuchunternehmen angefangen hat (vgl. Geschichte)
Unterdessen ist das Unternehmen eine grosse Holding, nach wie vor im Schulmaterialien- und Schulungssektor tätig, aber auch diversifiziert in Richtung „Nursing“ für Kinder und – ein gross werdender Markt – für Seniorinnen und Senioren. U.a. gehört Benesse die Berlitz Gruppe. (Überblick über die Gesellschaften der Holding)

Mit der Fähre fahre ich auf die Hauptinsel Naoshima und von dort mit zwei Bussen zu den Museen. Sie wurden von Tadao Ando (seine Website, SRF) gebaut und sind sehr beeindruckend. „Unity with nature and merging into the landscape“ wie ich später in einer Ausstellung lese, gelingt ihm. Das Chichu Art Museum zeigt karg und gross Seerosen von Monet, eine Lichtinstallation von Turrell und einen sehr sakral wirkenden Raum mit einer Kugel von Walter de Maria. Ohne die Architektur von Ando könnten die Werke ihre Ausstrahlung nicht in dieser Form entfalten.
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Bilder CC Flickr: Telstar und tomorrowstarted.com

Ein weiteres, ebenfalls von Ando gebautes Museum ist dem Koreaner Lee Ufan gewidmet.
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In beiden Anlagen harmonieren Natur, Architektur und Skulptur. Eine wie mir scheint sehr japanische Form von Ästhetik, ein Spiel von Innen und Aussen, Licht und Schatten, Sichtbarem und Verborgenem, Kraft und Eingrenzung, Tatemae und Honne, Sein und Schein.

Etwas weniger beeindruckt mich das Benesse House, vielleicht liegt das aber auch daran, dass es unterdessen Mittag geworden ist und die vielen Touristen den Blick auf Kunst und Natur etwas verstellen. Das Museum wurde eigentlich als Übernachtungsmuseum konzipiert, es ist bis 21 Uhr geöffnet und es werden viele schöne – und sehr teure – ebenfalls von Ando gebaute Unterkünfte angeboten. Allerdings ist in dieser Hauptreisezeit alles auf Wochen hinaus ausgebucht.
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Am Nachmittag dann noch das „Art House Project“, verschiedene Kunstinstallationen in einem Dorf, durch das man schlendert. Die frühere Lebensweise gibt den roten Faden vor, ich treffe z.B. in einem alten Haus auf ein Bad, in dem digitale Zahlen schwimmen. Eine Installation von Turrell „The Dark Side of the Moon“, in der man etwas 10 Minuten braucht, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben und man die dunkle Seite auch sehen kann. Oder ein altes rostiges Haus, in der eine Freiheitsstatue untergebracht worden ist.

Ein reicher Tag, ich bin froh, dass mir Ralph Schildknecht diesen Tipp gegeben hat, der Ausflug auf die Insel hat sich sehr gelohnt.20140518-224232-81752375.jpg

Schattenseiten

Nach der Sitzung mit Ikuta treffe ich mich mit Maiko Tateishi, die hier als lecturer und Forscherin arbeitet und daneben ehrenamtlich in einer NPO Kinder und Jugendliche mit Problemen betreut. Ich habe Maiko bei einem früheren Besuch in Nara kennengelernt. Meist sprüht sie nur so vor Energie, heute scheint sie auch etwas müde zu sein von der vielen Arbeit. Die Arbeit, die liegen bleibt, weil sie sich Zeit für mich nimmt, wird sie sicher über das Wochenende erledigen müssen Ich habe bis jetzt niemanden kennen gelernt in Japan, der oder die nicht m.E. ungesund viel arbeitet.
Wir sprechen denn zuerst auch über Probleme von Kindern und Jugendlichen in Japan. Konkret nennt sie Bullying in den Schulen, das ein grosses Problem sei und auch zu Absentismus, oft über sehr lange Zeit führe. In der Lehrpersonenbildung legt sie darum Wert darauf, die Studierenden auf Konflikte unter Kindern vorzubereiten. Japanerinnen und Japaner (und also auch die Lehrpersonen) sind so sozialisiert, dass Konflikte nicht sein dürfen. Lehrerinnen und Lehrer haben also weggeschaut, wenn unter Schülerinnen und Schülern Konflikte, Quälereien usw. aufkamen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Opfer wie Täter werden so allein gelassen, so dass sich das Bullying ständig weiter steigern kann. Dies kann zum vollständigen sozialen Rückzug (Hikkimori) führen, die Kinder und Jugendlichen getrauen sich nicht mehr in die Schule, oft nicht einmal aus ihrem Zimmer.
Es sei keine einfache Arbeit, das Mindset der Lehrpersonen hier zu ändern, damit sie präventiv tätig sein können, meint Maiko.
In Zusammenhang mit dem ökonomischen Knick seit den 90-er Jahren, den Japan noch nicht überwunden hat, sind auch die NEET ein grosses Thema. Jugendliche und jungen Erwachsene, die wenig Selbstwertgefühl haben, gar nicht mehr versuchen, eine Stelle zu finden, sich nur noch in einer virtuellen Welt bewegen. Hier ein paar Links zur Thematik:

Career Education
Das Erziehungsministerium will die Problematik mit „career education“ in den Griff bekommen.
The term „career development“ means the entire „process of achieving one’s own life to live by playing one’s unique role in society.“
Die Ziele wurden national folgendermassen definiert
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Quelle MEXT (PDF)

Es wurden zwölf zu erreichende Kompetenzen definiert (z.B. „Verstehen anderer Standpunkte“, „realistische Selbsteinschätzung“, „zusammenarbeiten können“, „Konflikte lösen können“, „höflich sein“) und ein Lehrplan und Unterrichtsmaterialien von der Kindergartenstufe bis zur Sekundarstufe II geschaffen.

Das „Teacher Education Center for the Future Generation“ hat diese 12 Kompetenzen geschickt aufgenommen und bei der Einführung eines Praktikums, bei dem Studierende Lehrpersonen als Assistent/innen unterstützen, erhoben, welche dieser 12 Kompetenzen dank des Praktikums gefördert werden. Es sind lediglich zwei Kompetenzbereiche, in denen die Schülerinnen und Schüler dank dieser Unterstützung signifikante Fortschritte machen (Im Bereich „Verstehen anderer Standpunkte“ und im Bereich „Höflichkeit“). Schlussfolgerung: es braucht weitere Praktika mit anderen Schwerpunkten, um die Schülerinnen und Schüler auch in den anderen Kompetenzbereichen wirksam zu fördern.

Freiwillige in den Schulen
Das oben erwähnte Praktikum ist geschaffen worden, weil die Studierenden sehr wenig berufspraktische Ausbildung haben (obwohl die Uni sehr gute „affiliated schools“ hat, d.h. Schulen auf jeder Stufe, die auch organisatorisch zur Uni gehören). Ausgangspunkt war der Auftrag, Freiwillige (d.h. Rentner, middle-age-Mütter, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen) auszubilden, damit diese als Assistent/innen in den aus finanziellen Gründen sehr grossen Klassen (meist gegen 40 Schülerinnen und Schüler) eingesetzt werden können. Ein solches Ausbildungskonzept mit zwei Stufen („child partner“ und „child supporter“) wurde mit anderen Hochschulen zusammen ausgearbeitet und implementiert.
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Beratungszentrum für die Freiwilligen
Man kam nun auf die Idee, auch Studierende als „Freiwillige“ einzusetzen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, etwas mehr Erfahrung in der Schule zu sammeln. Maiko organisiert diese Kurzausbildung auch für die Studierenden und erhebt die Daten, welche Kompetenzen damit gefördert werden.
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Kurzausbildungskonzept für die Freiwilligenarbeit in der Schule

Publikationen
Während die Nara University of Education in vielem – durchaus positiv – der früheren seminaristischen Ausbildung gleicht (Klassenbetrieb, Tierhaltung auf dem Gelände, gemeinsame Projekte und Studienschwerpunkte usw.), ist sie in diesem Bereich wirklich universitär. Es ist klar, dass „publish or perish“ gilt, die Hochschule und die Institute haben eigene Journals, die Dozierenden publizieren regelmässig, meist über eng mit ihrer Arbeit zusammenhängende Forschungsresultate. Das Motto könnte in etwa sein: „Without data, you are just another person with an opinion“ (wie Amanda Ripley Schleicher zitiert). The smartest kids in the world, New York: Simon and Schuster 2013, 18). Als ich erzähle, dass ich noch eine Woche an die University of Education in Fukushima fahren werde, zückt Maiko sofort das Journal der dortigen Universität und zeigt, woran sie dort gerade arbeiten.
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Publizieren ist wichtig
Freitagabend, ich muss mich von den Leuten hier und von Nara verabschieden. Die Assistentin von Ikuta schenkt mir noch einen Fächer und ein Pack Bonbons für die Reise und lässt mich sichtlich ungern ziehen. Ich fahre auch nicht gerne weg, hier in Nara haben sie eine ähnliche Wellenlänge, ähnliche Vorstellungen davon, was gute Lehrpersonenbildung ist. Dazu gehören auch – und das habe ich hier die ganze Woche immer wieder gespürt – Herz und Humor.

Lehrer/innenbildung – Debriefing in Nara

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Praktisch alle Studierenden kommen mit dem Velo von den Dorms zu den Lehrveranstaltungen
Gemeinsamkeiten – Unterschiede
Die Woche hier an der Nara University of Education geht dem Ende entgegen. Ikuta Shuji kommt für ein Abschlussbriefing vorbei.
Ein grosser Unterschied zwischen unseren beiden Institutionen ist, dass in Nara die Zahl der Aufgenommenen der Zahl der verfügbaren Studienplätze entspricht. Dies macht die Planung um vieles einfacher.
Obwohl in Japan in der Primarschule das Klassenlehrerprinzip vorherrscht (Ausnahmen Musik, Künste, Hauswirtschaft), wählen die Studierenden ein Hauptfach, für das sie einen Grossteil ihrer Studienzeit benötigen. Drei Nebenfächer kommen hinzu. Für die Sekundarstufen I und II studiert man lediglich ein Fach.
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Quelle: Nara University of Education (PDF)
Es gelingt der Uni recht gut, Ihre Abgängerinnen und Abgänger in der Schule zu platzieren, allerdings sind unter „Teacher“ subsummiert auch viele temporäre und v.a. viele Teilzeitstellen. Wer keine Stelle in einer Volksschule findet, weicht häufig in den florierenden Juku-, d.h. Nachhilfebereich aus.
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Quelle: Nara University of Education (PDF)
Auch die Masterstudiengänge sind eine Möglichkeit, sich nicht sofort um eine Stelle kümmern zu müssen. Die Graduate School ist allerdings eher ein Sorgenkind für Ikuta. Neben den Masterstudiengängen wurden für die amtierende Lehrerschaft eigens „Professional Degree“-Studiengänge eingeführt, die teilzeitlich und berufsbegleitend besucht werden können. Diese Möglichkeit wird aber den Lehrpersonen von der Präfektur nur sehr zögerlich gewährt (gerade drei Studierende sind amtierende Lehrpersonen). Ikuta muss nach dem Debriefing an eine weitere Sitzung mit der Präfektur zu diesem Thema eilen.
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Zusammenarbeit mit anderen Hochschulen
Neueren Datums ist auch die Zusammenarbeit mit anderen Lehrer/innenbildungshochschulen. An den mittlerweile über 50 Online-Angeboten beteiligen sich sehr viele Hochschulen. Im Angebot hat es nicht nur e-Learning-Einheiten, sondern auch klassische Seminare und Vorlesungen, die von einer Hochschule angeboten und live an die anderen Hochschulen übertragen werden. Ein Vorlesungsraum wurde in Nara eigens mit der entsprechenden Technik ausgerüstet, so dass auch Fragen direkt Fragen gestellt werden können und man einander sieht.
Die Zusammenarbeit funktioniert aber auch im Forschungsbereich. Mit Kyoto und Osaka gemeinsam wurde ein „Teacher Education Center for the Future Generation“ gegründet.
Die Arbeitsteilung unter den Unis wurde so festgelegt, dass man sich in Nara schwergewichtig mit undergraduate studies, in Osaka mit graduate studies (Master und PhD) und in Kyoto mit Weiterbildung beschäftigt.
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Die Science-Dozierenden haben beschlossen, Ziegen zu halten. Diese werden sowohl von Studierenden wie von Primarschülerinnen und -schüler gehätschelt. Neckischerweise haben sie sie nach Primarlehrerpersonen getauft. So kann man problemlos sagen, Okubo sei heute wieder bockig…
Wir verabschieden uns nach dieser interessanten Diskussion. Ich hoffe, Ikuta wieder zu sehen, sei es in Nara, Hongkong oder Zürich. Wir sind aber beide nicht sicher, wann es das nächste Mal sein wird, seine Funktion erlaubt ihm kaum mehr, ins Ausland zu reisen und auch ich werde wohl in nächster Zeit nicht gerade wieder nach Nara reisen kommen. Schade.
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Schülerinnen auf dem Heimweg von der „affiliated school“ auf dem Campus

Schule, Gesellschaft, Lehrpersonen

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Ergebnis der Schule: Unkreative Auswendiglernende oder kooperative Leistungsorientierte?
„Japanese education appears to be both first-class and uncreative. (…) At one end of the debate some observers point out, that Japanese education is geared producing students, who are good answering multiple-choice questions but who lack creativity and originality of thinking. (…)
At the other end, ethnographic researchers tend to point out its high standards, egalitarianism and meritocratic orientation (…) Some take a positive view of what they regard as the harmonious, group-cohesive and collectivist emphasis.“ meint Sugimoto in seiner Introduction to Japanese Society (2011, 151).
In Schulen gesehen habe ich eher das zweite, positive. Allerdings sind die Kooperationsschulen der Nara University of Education ja sicher gute Beispiele von Schulen. In Gesprächen ausserhalb der Uni bin ich auch viel mit der unkreativen, disziplinierenden und drillorientierten Seite der Schule konfrontiert worden.

Lehrpersonen als ausführende Beamte?
Im „Global Teacher Status Index“ der Varkey Gems Foundation (PDF), den mir ein koreanischer Kollege gemailt hat, wurde eine Stichprobe aus der Bevölkerung verschiedener Länder u.a. auch gefragt, welcher Beruf mit dem Lehrberuf am vergleichbarsten sei: Sozialarbeiter, Bibliothekar, Arzt, Krankenschwester, Lokaler Beamter. Während in der Schweiz und verschiedenen anderen Ländern der Lehrberuf am häufigsten in die Nähe der Sozialarbeit gesehen wurde, wurde er ausschliesslich in Japan in die Nähe von lokalen Beamten und ausschliesslich in China in die Nähe von Ärzten gesehen. Das zeigt sicher auch, dass bei der starken zentralen Steuerung Lehrpersonen in Japan häufig einfach als Ausführende angesehen werden. (PDF)

Gesellschaftliche Segmente und ihre Vorstellungen von Schule
Sugimoto (152) unterteilt vier „competing educational orientations“. Ich lehne mich im Folgenden an ihn an. (Kursiv sind Erfolge des jeweiligen Segmentes aufgezeigt):
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A: Marktorientierung, Neoliberalismus
Die Schulen sollen sich stärker am Markt orientieren und z.B. auch Elitebildung ermöglichen. Gefordert sind einerseits eine starke Leistungsorientierung, andererseits auch mehr Schülerzentriertheit, Problemlösungsorientiertheit, Kreativität, Individualität. Nur so kann man im globalen Wettbewerb, in der Wissensgesellschaft bestehen.
Das interdisziplinäre Fach „Integrierte Studien“ wurde auch auf Betreiben dieses Segments geschaffen. Schulleitende werden neu auch aus der Privatwirtschaft, nicht mehr zwingend aus dem Lehrberuf angestellt. Innerhalb von gewissen Grenzen wurde in den Städten das Wohnsitzprinzip für die Einteilung in die Schulen aufgehoben, Eltern haben z.T. auch bei den öffentlichen Schulen eine Wahl. Englisch beginnt häufig schon in den Primarschulen.

B: Geregelter Pluralismus
Eine gewisse Liberalisierung, die den Schulen mehr Freiheiten gibt, soll ermöglicht werden – bei gleichbleibend starker staatlicher Steuerung. Stärkere Betonung einer „ganzheitlichen Erziehung“, die auch soziale Erziehung und kritisches Denken mit einschliesst anstatt Überbetonung des mechanischen Auswendiglernens und sehr hohe zeitliche Belastung der Schülerinnen und Schüler
Ab 2002 erfolgte eine Senkung der Anzahl Lektionen um bis zu 30% und eine Verringerung der Hausaufgaben. Man wollte ein Schule mit weniger Druck und mehr Entwicklungsmöglichkeiten ausserhalb der Schule ermöglichen und führte deshalb auch die Fünftagewoche ein.
Leistungen sollten nicht mehr nur nach der Sozialnorm beurteilt werden, sondern anhand der Lernziele und der Lernfortschritte der Kinder und Jugendlichen.
Schulen konnten jetzt in gewissen Gebieten selbst Schwerpunkte setzen (Englisch u.a.). NPO konnten Privatschulen mit eigenen Schwerpunkten eröffnen.

C: Demokratische, egalitäre Ausrichtung, Ablehnung der Regierungspolitik
Hier sind meist auch die Lehrergewerkschaften positioniert. Gleichheit der Schulen ist eine Voraussetzung für Chancengerechtigkeit. Die Fixiertheit auf Prüfungen (Aufnahmeprüfungen usw.) soll überwunden werden, weil dadurch die Chancen sehr ungleich verteilt werden (Wer sich die Unterstützung der „Nachhilfeindustrie“ kaufen kann, hat bessere Chancen bei den Aufnahmeprüfungen).
Kreativität, Individualität, Problemlösefähigkeiten sollen für alle gefördert werden.
Man ist gegen teure Privatschulen, mit deren Hilfe man sich – bei entsprechenden finanziellen Mitteln – den Eintritt in eine gute Universität sichern kann.
Auch diese Fraktion kann teilweise Erfolge verbuchen, z.B. in dem Universitäten bei der Aufnahme nicht nur auf Prüfungsresultate und den zentralen Test (PDF) achten, sondern auch weitere Kriterien anwenden. Auch curricular und methodisch hat die Lehrerschaft immer wieder Erfolge und kann Neues einführen (Transferorientierung, Projekte u.a.)

D: Bewahrender Konservatismus
Die staatlich gesteuerte, gleiche Schulung für alle soll bewahrt werden, damit Staat und Gesellschaft möglichst homogen bleiben. Gleichheit wird durch das (nicht durch neoliberale und pluralistische Tendenzen gestörte) meritokratische System, durch Verpflichtung, Respekt, Arbeitsdisziplin ermöglicht. Dieses System hat – bevor es verwässert wurde – Japan etwa zwischen 1960 und 1980 grossen wirtschaftlichem Erfolg gebracht.
Die zu grossen Freiheiten, die Schülerinnen und Schüler heute haben, sind mit ein Grund, warum die Schulleistungen zurückgehen und Japan weniger Erfolg hat als früher.
Es braucht wieder mehr Kontrolle, Disziplin und Heimatliebe.
Erreicht werden konnte z.B., dass in den Schulen der Fahnenaufzug und bei festlichen Anlässen das Absingen der Nationalhymne wieder eingeführt wurde. Diese Fraktion hatte auch Erfolge bei der Zulassung von Geschichtslehrmitteln, in denen Japans Rolle im zweiten Weltkrieg krass beschönigt wird.
Die letzte curriculare Reform nahm vieles, das ab 2002 eingeführt worden war, wieder zurück und stärkte damit dieses gesellschaftliche Segment. Das Erziehungsministerium geht in seiner Zusammenfassung der neusten Reformen explizit darauf ein, dass einige frühere Projekte gescheitert sind (MEXT, PDF)

Mein Kollege muss das Nachtessen absagen, er wurde mit so vielen dringlichen Geschäften eingedeckt, dass ihm nichts anderes übrig bleibt als bis in alle Nacht zu arbeiten… Die Arbeitslast, die sehr viele – von Schülerinnen und Schülern bis zu Angestellten auf jeder Hierarchieebene – auf sich nehmen müssen, ist sehr gross. Entsprechend müde sehen die Leute im öffentlichen Verkehr und in den Bibliotheken der Unis aus.
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Jä nu, ich habe etwas ein schlechtes Gewissen, dass ich einen solchen Urlaub machen kann, während in Japan der soziale Druck so stark ist, dass kaum jemand mehr als eine Woche Ferien am Stück bezieht. Das National Museum, in dem ich noch nie war, besuche ich dann aber trotzdem über Mittag. Es zeigt eine Ausstellung über buddhistische Ikonen während der Kamakura-Zeit. Leider darf man nicht fotografieren, aber es ist umwerfend, wie den Künstlern des 13. Jahrhunderts Charakterisierungen von z.B. Zen-Meistern gelungen sind. Und es ist sehr interessant, zu sehen, welche Veränderungen der Buddhismus bei seinem Weg von Indien über China nach Japan erfuhr.
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