Schattenseiten

Nach der Sitzung mit Ikuta treffe ich mich mit Maiko Tateishi, die hier als lecturer und Forscherin arbeitet und daneben ehrenamtlich in einer NPO Kinder und Jugendliche mit Problemen betreut. Ich habe Maiko bei einem früheren Besuch in Nara kennengelernt. Meist sprüht sie nur so vor Energie, heute scheint sie auch etwas müde zu sein von der vielen Arbeit. Die Arbeit, die liegen bleibt, weil sie sich Zeit für mich nimmt, wird sie sicher über das Wochenende erledigen müssen Ich habe bis jetzt niemanden kennen gelernt in Japan, der oder die nicht m.E. ungesund viel arbeitet.
Wir sprechen denn zuerst auch über Probleme von Kindern und Jugendlichen in Japan. Konkret nennt sie Bullying in den Schulen, das ein grosses Problem sei und auch zu Absentismus, oft über sehr lange Zeit führe. In der Lehrpersonenbildung legt sie darum Wert darauf, die Studierenden auf Konflikte unter Kindern vorzubereiten. Japanerinnen und Japaner (und also auch die Lehrpersonen) sind so sozialisiert, dass Konflikte nicht sein dürfen. Lehrerinnen und Lehrer haben also weggeschaut, wenn unter Schülerinnen und Schülern Konflikte, Quälereien usw. aufkamen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Opfer wie Täter werden so allein gelassen, so dass sich das Bullying ständig weiter steigern kann. Dies kann zum vollständigen sozialen Rückzug (Hikkimori) führen, die Kinder und Jugendlichen getrauen sich nicht mehr in die Schule, oft nicht einmal aus ihrem Zimmer.
Es sei keine einfache Arbeit, das Mindset der Lehrpersonen hier zu ändern, damit sie präventiv tätig sein können, meint Maiko.
In Zusammenhang mit dem ökonomischen Knick seit den 90-er Jahren, den Japan noch nicht überwunden hat, sind auch die NEET ein grosses Thema. Jugendliche und jungen Erwachsene, die wenig Selbstwertgefühl haben, gar nicht mehr versuchen, eine Stelle zu finden, sich nur noch in einer virtuellen Welt bewegen. Hier ein paar Links zur Thematik:

Career Education
Das Erziehungsministerium will die Problematik mit „career education“ in den Griff bekommen.
The term „career development“ means the entire „process of achieving one’s own life to live by playing one’s unique role in society.“
Die Ziele wurden national folgendermassen definiert
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Quelle MEXT (PDF)

Es wurden zwölf zu erreichende Kompetenzen definiert (z.B. „Verstehen anderer Standpunkte“, „realistische Selbsteinschätzung“, „zusammenarbeiten können“, „Konflikte lösen können“, „höflich sein“) und ein Lehrplan und Unterrichtsmaterialien von der Kindergartenstufe bis zur Sekundarstufe II geschaffen.

Das „Teacher Education Center for the Future Generation“ hat diese 12 Kompetenzen geschickt aufgenommen und bei der Einführung eines Praktikums, bei dem Studierende Lehrpersonen als Assistent/innen unterstützen, erhoben, welche dieser 12 Kompetenzen dank des Praktikums gefördert werden. Es sind lediglich zwei Kompetenzbereiche, in denen die Schülerinnen und Schüler dank dieser Unterstützung signifikante Fortschritte machen (Im Bereich „Verstehen anderer Standpunkte“ und im Bereich „Höflichkeit“). Schlussfolgerung: es braucht weitere Praktika mit anderen Schwerpunkten, um die Schülerinnen und Schüler auch in den anderen Kompetenzbereichen wirksam zu fördern.

Freiwillige in den Schulen
Das oben erwähnte Praktikum ist geschaffen worden, weil die Studierenden sehr wenig berufspraktische Ausbildung haben (obwohl die Uni sehr gute „affiliated schools“ hat, d.h. Schulen auf jeder Stufe, die auch organisatorisch zur Uni gehören). Ausgangspunkt war der Auftrag, Freiwillige (d.h. Rentner, middle-age-Mütter, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen) auszubilden, damit diese als Assistent/innen in den aus finanziellen Gründen sehr grossen Klassen (meist gegen 40 Schülerinnen und Schüler) eingesetzt werden können. Ein solches Ausbildungskonzept mit zwei Stufen („child partner“ und „child supporter“) wurde mit anderen Hochschulen zusammen ausgearbeitet und implementiert.
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Beratungszentrum für die Freiwilligen
Man kam nun auf die Idee, auch Studierende als „Freiwillige“ einzusetzen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, etwas mehr Erfahrung in der Schule zu sammeln. Maiko organisiert diese Kurzausbildung auch für die Studierenden und erhebt die Daten, welche Kompetenzen damit gefördert werden.
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Kurzausbildungskonzept für die Freiwilligenarbeit in der Schule

Publikationen
Während die Nara University of Education in vielem – durchaus positiv – der früheren seminaristischen Ausbildung gleicht (Klassenbetrieb, Tierhaltung auf dem Gelände, gemeinsame Projekte und Studienschwerpunkte usw.), ist sie in diesem Bereich wirklich universitär. Es ist klar, dass „publish or perish“ gilt, die Hochschule und die Institute haben eigene Journals, die Dozierenden publizieren regelmässig, meist über eng mit ihrer Arbeit zusammenhängende Forschungsresultate. Das Motto könnte in etwa sein: „Without data, you are just another person with an opinion“ (wie Amanda Ripley Schleicher zitiert). The smartest kids in the world, New York: Simon and Schuster 2013, 18). Als ich erzähle, dass ich noch eine Woche an die University of Education in Fukushima fahren werde, zückt Maiko sofort das Journal der dortigen Universität und zeigt, woran sie dort gerade arbeiten.
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Publizieren ist wichtig
Freitagabend, ich muss mich von den Leuten hier und von Nara verabschieden. Die Assistentin von Ikuta schenkt mir noch einen Fächer und ein Pack Bonbons für die Reise und lässt mich sichtlich ungern ziehen. Ich fahre auch nicht gerne weg, hier in Nara haben sie eine ähnliche Wellenlänge, ähnliche Vorstellungen davon, was gute Lehrpersonenbildung ist. Dazu gehören auch – und das habe ich hier die ganze Woche immer wieder gespürt – Herz und Humor.