Letzter Tag. Morgen fliege ich in die Schweiz zurück. 106. und letzter Blogeintrag zu dieser Reise. Vielen Dank euch allen, die ab und zu oder regelmässig mitgelesen haben. Ich habe mich über diese virtuelle Begleitung gefreut und sie war mir Ansporn, mich jeden Abend wieder hinzusetzen.
Heute fahre ich auf den Hausberg Seouls, den Namsan, um mir nochmals einen Überblick zu verschaffen. Es ist allerdings ziemlich dunstig, vielleicht noch nicht ganz Zeit für den Überblick – aber doch für einige Eindrücke.
Gestern in der Ausstellung ging mir bei einem Bild durch den Kopf, dass mich diese Reise auch auf einen „Spring Mountain after the Rain“ geführt hat. Ich fühlte mich meist beschwingt, habe einen vertiefteren Einblick in verschiedene Bildungssysteme gewonnen und dabei viele wertvolle Begegnungen gehabt.
Vieles, das ich aus Büchern oder früheren Besuchen kannte, ist mir klarer geworden. In Asien liegt tatsächlich viel Zukunft. Ich meine aber, dass wir gegenseitig voneinander lernen können.
Hier in den verschiedenen Ländern Asiens habe ich sehr viel sehr professionelle Zielgerichtetheit, enorm viele Ambitionen und gleichzeitig auch viel Herzlichkeit in Schulen und Lehrpersonenbildung gesehen. Die Haltung, dass eigene Anstrengung zum Erfolg führt, ist weit verbreitet (auch wenn die Rahmenbedingungen natürlich überhaupt nicht für alle gleich gut sind). Aber eine Konsumhaltung, wie sie bei uns in den Bildungsinstitutionen manchmal festzustellen ist, habe ich hier nirgends gesehen. Im Gegenteil, die Energie, die Produktivität, die Lernbereitschaft sind hier mit Händen zu greifen.
Die Haltung, dass Lernen etwas Positives ist, dass Lernen während des ganzen Lebens erstrebenswert ist, ist kulturell tief verankert. Und Lernen hat immer auch eine menschenbildende, eine „moralische“ Dimension.
Beeindruckt hat mich, wie an Lehrerbildungsuniversitäten und in Schulen alle an einem Strick ziehen und wie sie mit voller Kraft an diesem Strick ziehen, wenn mal etwas beschlossen wurde. Das Alignment ist immer sehr gut.
Auch von der Haltung der Steuerungsgremien und der Lehrerschaft wissenschaftlichen Fragestellungen und Erkenntnissen gegenüber können wir lernen. Wissenschaft ist hier in vielen Ländern nicht etwas Abgehobenes, für die Schule eigentlich Unnötiges. Forschungsfragen werden aus Fragen des Schulfeldes abgeleitet und Forschungsergebnisse sind häufig das Fundament für die Weiterentwicklung der Schulen.
Von unserem System könnten die meisten Bildungssysteme hier – das mag erstaunlich klingen – Effizienz lernen. 16 und mehr Stunden am Tag für Schule oder Uni einzusetzen, wie das in Asien häufig beobachtet werden kann, ist nicht effizient, es ist wohl auch nicht kreativitätsfördernd. Die enorme Konkurrenzorientierung hier führt zwar zu einer hohen Anstrengungsbereitschaft, sie braucht aber zu viel Energie, bringt die Eltern finanziell an den Abgrund, baut bei den Kindern Schuldgefühle auf oder führt zu psychischen Erkrankungen und bringt für diejenigen, die dann nicht zu den obersten 10% gehören zu viele Enttäuschungen und zu wenig Zukunftsaussichten mit sich. Auch das System, dass ein sehr grosser Anteil der Schülerinnen und Schüler eine Mittelschule und dann eine Universität (viele verdienen den Namen allerdings nicht) besuchen muss, ist nicht zweckmässig. Eine duale Berufsbildung mit integrierter guter Allgemeinbildung, die ein Fundament für lebenslanges Weiterlernen gibt und ein durchlässiges Bildungssystem sind meines Erachtens bei weitem vorzuziehen. Das meritokratische und gleichzeitig in wichtigen Sektoren völlig privatisierte System in Asien hat viele Züge von „survival of the fittest“. Und „fittest“ heisst manchmal auch „richest“. Dass eine Gesellschaft als Ganzes Erfolg haben muss und dass jeder einzelne Mensch ein Recht auf „the pursuit of happiness“ hat, wird hier meines Erachtens in vielen Ländern zu wenig beachtet.
Ich werde diese Seite meiner Reise zu Hause in den nächsten Wochen noch genauer auswerten, meine Notizen und all die Literatur, auf die ich hingewiesen wurde durchgehen.
Die Reise war für mich vor allem auch wertvoll wegen all der Menschen, die ich in diesen 15 Wochen getroffen habe. Menschen, die mich in Rumänien mit dem Privatwagen zum Bahnhof gefahren haben, damit ich den Zug nicht verpasse. Menschen, die in den Bahnabteilen selbstverständlich ihr Essen mit mir geteilt und mit mir geplaudert haben. Menschen, die sich gefreut und gelacht haben, als ich an ihrem Schulfrühlingsfest in Samarkand teilnahm. Menschen, bei denen ich in Russland gewohnt habe, die mir ihre Stadt gezeigt und mir ihr Wissen über das Bildungssystem weitergegeben haben. Menschen, die mir an einer Pädagogischen Universität in Ostsibirien Gesprächspartner organisiert, mir in einer Jurte in der Mongolei den Ofen eingeheizt oder mir in China ein Mountainbike aufgetrieben haben. Schul- und Unileitende in China, Singapore, Japan und Korea, Lehrpersonen, Dozierende, Studierende und Schülerinnen und Schüler, die uns und mich mit grosser Gastfreundschaft empfangen haben. Die PH-Reisegruppe, die so unkompliziert und kollegial war. Die Kolleginnen und Kollegen in Hongkong, Singapore und Guangzhou, die sich gefreut haben, dass sich so viele Angehörige der PH Zürich für ihre Lehrpersonenbildung und ihre Schulen interessieren. Christine und Barbara, die die PH-Studienreise mit viel Zeit, Energie und Herzblut organisiert haben. Unsere WG in Guangzhou. Benica, die mir ihr Zimmer überliess. Nae, die mir so vieles zeigte und erklärte und deren Freundschaft über Jahrzehnte, Kulturen und Kontinente hinweg mir viel bedeutet. Ikuta, der mir eine Woche lang sein Büro und seine Infrastruktur zur Verfügung stellte. Noriko, bei der ich mich nicht als Zimmermieter, sondern als willkommener Gast fühlte. Reiko, die mir in Fukushima nicht nur in Schulen und Uni alle Türen öffnete, sondern auch jeden Abend mit mir und Freunden verbrachte. Namgi, der in Korea ein grandioses Programm für mich zusammenstellte und mich begleitete.
Und jetzt freue ich mich auf meine Familie, die mich so selbstverständlich gehen liess und mir all das ermöglicht hat.
Cho Phyungwi: Spring Mountain after the Rain