Innovationen im Miraikan und Schluss der Reise

kotoMit dem Monorail in den Stadtteil Koto. Das Miraikan, National Museum of Emerging Science and Innovation, ist ein hervorragendes Museum, es befasst sich allgemeinverständlich mit „neuen“ Wissenschaften und Innovation. Ich habe das Miraikan schon einmal besucht und möchte sehen, wie es sich seit etwas mehr als einem Jahr entwickelt hat. Innovationen interessieren mich ja auch berufshalber.

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Die „Science Communicators“, häufig Pensionierte sind bei mir zum Glück etwas zurückhaltend, weil wohl nicht alle gut Englisch sprechen. Dieser hier steht vor einem „Weg der Innovation“. Fünf verschiedene Methoden, wie Neues geschaffen wird, werden einleuchtend erklärt und mit Beispielen von Innovationen untermauert:
– Assoziation
– Integration
– Serendipity (d.h. die Gabe, glückliche und unerwartete Entdeckungen zu machen)
– Mimic (hier wohl etwa Transfer von anderswo Beobachtetem in ein neues Umfeld)
– Alternative Creativity („New ideas unconstrained by traditional values give us the value to create new things“. Hier wird auch auf Einstein verwiesen: der gesunde Menschenverstand sei nichts anderes als die Serie von Irrtümern, die man bis zum Alter 18 gelernt habe).
Die grösste Veränderung seit letztem Jahr findet sich bei den Robotern. Die „Androiden“ stellen die Kuscheltiere für die Pflege von Dementen in den Schatten. Sie kommunizieren schon weit fortgeschritten (soweit ich es beurteilen kann, übernehmen sie Techniken aus der humanistischen Psychologie, nicken im richtigen Moment, verändern ihre Körperstellung je nach Reaktion des Gegenübers usw.)

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Interessant auch die Sonderausstellung, mit der Kinder via Pokemon an wissenschaftliches Arbeiten herangeführt werden. Durch Beobachten, Kategorisieren und Kombinieren muss man herausfinden, welcher Pokemon sich wohl in einem Ball, den alle Besuchenden bekommen, befinden. Von insgesamt 12 Maschinen (Fussabdruck-Maschine, Silhouetten-Erkennungsmaschine, Partikelanalyse-Maschine, Höhenmess-Maschine usw.) darf man insgesamt vier brauchen. Die Mütter mit ihren Kindern sind heftig daran, zu analysieren, katerogisieren, kombinieren und packen das wirklich mit einem Forschungsplan an. So nebenher amüsieren sie sich auch über den Ausländer, der mit seinem Ball nicht mehr weiter kommt und helfen ihm…pokemon

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So, das war mein letztes Museum bei diesem Besuch. Ich fahre noch nach Asakusa, einfach, weil ich bei allen vier Reisen hierher mal in diesem Tempel vorbeigeschaut habe. Japan hat mich ein weiteres Mal fasziniert. Ich versuche nicht mehr, das Land, die Menschen nach einem Kategorisierungsplan wie in der Pokemon-Ausstellung zu verstehen, aber in der U-Bahn, einer Schule oder einem Tempel, bei Shoju oder grünem Tee, Sushi oder Miso-Suppe war ich manchmal ganz da. Herzlichen Dank.

Zwei Nationalmuseen

tokionationalDie Geschichte lässt mich dieses Mal nicht mehr los, am Sonntag besuche ich das sehr reich bestückte Tokio National Museum.

historymuseumAm Nachmittag fahre ich nach Sakura um das – leider sehr abgelegene – National Museum of Japanese History zu besuchen. Eine Aufarbeitung der Geschichte der letzten 150 Jahre sucht man auch hier vergebens, immerhin werden aber die Verherrlichung des „Imperiums“ mit Manchuko (unten) gezeigt und es sind sogar Hinweise auf das Nanjing-Massaker (in einem Life-Magazin und anderen westlichen Presseerzeugnissen) zu finden.
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kriegsplakateHeute schwer fassbar, wie der Atombombenabwurf mit all dem Grauen auf solche Schlagzeilen reduziert werden konnte:sfatomic

Auch der Volkskundetrakt ist interessant.
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Und zur Schulgeschichte – die öffentlich Schule wurde erst in der Meiji-Zeit geschaffen –  finden sich ebenfalls verschiedene interessante Ausstellungsstücke.

schule kgDreieinhalb Stunden reichen natürlich nicht aus, um sich vertiefter mit allem zu befassen. Es wird sich auf jeden Fall lohnen, ein weiteres Mal nach Sakura zu fahren.

Schulbesuch

ochanomizuTamami hat mich zu einem Besuch in ihrer Primarschule, der Ochanomizu Elementary School im Zentrum von Tokio eingeladen. Der Principal und die Vize-Schulleiterin begrüssen mich, auf dem Vorplatz findet gerade die Morgengymnastik aller Klassen statt und ich darf mit dem Mikrophon einige Worte an alle Schülerinnen und Schüler richten.morgenbesammlung
Nachdem auch der Principal etwas gesagt hat und der Sportlehrer Anweisungen, wie für den Elterntag geübt werden soll, gegeben hat, marschieren alle in ihre Klassen zurück (marschieren ist das eigentlich noch nicht; wie mir alle Lehrpersonen versichern, werden sie das bis zum Elterntag im Oktober aber mit ihren Klassen eingeübt haben und dann zu Musik auf- und abmarschieren). zurueck

Der Unterricht, den ich dann den ganzen Morgen – kurz unterbrochen von Tee mit der Schulleitung – beobachten kann, ist konventionell, wo nötig kommunikativ, aber kaum individualisiert, die Schülerinnen und Schüler sind auch bei langen Erklärungssequenzen durch die Lehrperson immer bei der Sache, die Atmosphäre ist gut. Nach jedem Kapitel im Lehrbuch findet eine Prüfung statt – das muss recht häufig sein, ich sehe heute Morgen zwei. Computer sieht man kaum.sport2
Interessant, dass in jeder Klasse entweder eine Klassenhilfe oder meist eine Studentin aus der Lehrpersonenbildung dabei ist. Die Studentinnen beobachten aber lediglich, unterstützen mal ein Kind, das nicht weiterkommt und füllen am Schluss der Stunde ihren Beobachtungsbogen aus. Eine Interaktion mit der Lehrperson findet ausser dem Dank mit Verneigung am Schluss der Lektion nicht statt. Die Studierenden erhalten von den Lehrpersonen auch keine Aufträge, sie dürfen einfach beobachten.

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Auf meine Frage an Tamami, ob viele Schülerinnen und Schüler nach der Schule noch in eine Nachhilfeschule (Juku) gingen, fragt sie nach. In der vierten Klasse sind es etwas über die Hälfte der Schülerinnen und Schüler, die aufstrecken.
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Textiles Werken und Hauswirtschaft werden gemeinsam unterrichtet – die Räume sind multifunktional, man kann unter der Tischplatte hier noch die Kochplatten sehen:
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Im Korridor liegen die Sommerferienprojekte auf. In den Sommerferien bearbeitet jedes Kind eine eigene Fragestellung, erstellt eine Dokumentation und bringt alles dann in die Schule mit. In den Pausen erklärt man sich die Projekte gegenseitig.
sommerferienprojekte2Zwei Mütter erscheinen plötzlich mit Armbinden („PR-Team“), um mich zu fotografieren. Sie haben sich zur Verfügung gestellt, die Schule in Sachen PR zu unterstützen und wurden nun von der Schulleitung gebeten, Fotos zu machen:

homecoDas Rotationsprinzip gilt auch in Japan, die Präfektur als Anstellungsbehörde versetzt die Lehrpersonen nach in der Regel vier Jahren in eine andere Schule, die Schulleitung meist schon nach drei Jahren.

Der Tag der Lehrpersonen ist sehr lang, Nae hat einen Artikel aus dem Tokio Shimbun vom 24.9. ausgeschnitten, der den Tag einer Junior High School Lehrperson beschreibt. Tamami, die auch gegen die 60 geht, meint, von ihren Kolleginnen und Kollegen, die mit ihr die Ausbildung gemacht hätten, würde keine einzige Frau mehr unterrichten – es sei einfach nicht zu machen.

jrhighteacherMit „Club acitivities“ sind eine Art Wahlfächer (Sport, Mathe-Klub usw.) gemeint, die von den Lehrpersonen betreut werden müssen. Beim Lunch im Klassenzimmer sind die Lehrpersonen ebenfalls dabei, das Essen wird von Schülerinnen und Schülern ausgegeben, die Lehrperson isst ebenfalls, schöpft wo nötig nach, unterhält sich mit den Schülerinnen und Schülern, man spasst auch miteinander, tauscht sich aus. Auch das Putzen (Cleaning) durch die Klassen wird durch die Lehrpersonen begleitet, Putzpersonal braucht es praktisch nicht. Sowohl mit dem Schulhausteam (praktisch alle arbeiten Vollzeit) wie mit der Klasse (bzw. Schule)  findet ein Tagesanfang und ein Tagesabschluss statt. Beim Lehrpersonenmeeting sitzen alle im Lehrpersonenzimmer, es ist ähnlich wie ein Schulzimmer eingerichtet, einfach mit grösseren Pulten, an denen man auch vorbereitet. Die Schulleitung sitzt leicht erhöht, gibt Anweisungen oder fragt nach Besonderem. Nach dem Meeting geht man aber nicht nach Hause, sondern bereitet in der Schule weiter vor. Letztes Jahr habe ich erfahren, dass hier auch ein grosser Gruppendruck herrsche und die Schulleitung manchmal schlicht die Lichter löschen müsse, damit alle nach Hause gingen.

Uff, ich bin ganz froh, nach dem guten und unterhaltsamen Schul-Lunch dann einen Quartierrundgang mit Tamami machen zu können – ein Quartier, in dem es Dutzende von Antiquariaten hat, unter anderem mit sehr interessanten Ukiyo-e-Drucken aus der Edo- und Meiji-Zeit.

Auch in Hong Kong: ePortfolios

Christina bringt mich auch auf den neusten Stand bezüglich Arbeit mit ePortfolios. Sie zeigt mir verschiedenste, leider nicht öffentlich zugängliche Beispiele und erläutert mir, wie man hier in Hong Kong bei der Einführung vorgegangen ist.

Nach eingehendem Studium von Literatur , Interviews mit Expertinnen und Experten (Helen Barrett und Diane Mayer) , der Teilnahme an entsprechenden Kongressen und einem Pilotstudiengang hat man sich für die flächendeckende Einführung von ePortfolios entschieden. Von Seiten der Studierenden gab es keinerlei Widerstände, bei den Dozierenden sei der Widerstand auch eher klein gewesen, weil man ja wirklich „Evidence“ habe, dass ePortfolios wirksam seien.
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Man ist jetzt daran, ePortfolios in sämtlichen Studiengängen einzuführen.
  • Christina muss mich auch hier nicht überzeugen. Die Vorteile von ePortfolios sind offensichtlich.
  • Die Studierenden stellen nicht nur für sich selbst ein Portfolio zusammen, sondern üben damit Zusammenarbeit. Das ePortfolio entsteht über drei Jahre und wird mit Peers, Dozierenden, „Critical Friends“ diskutiert.
  • Studierende üben damit auch die Arbeit mit „Personal Learning Environments“ bzw. Personal Learning Networks“, also das Sammeln, Organisieren, Reflektieren, Miteinander-Austauschen, Publizieren bzw. Kuratieren usw. von Materialien. Eine Fähigkeit, die heute für Lehrpersonen unabdingbar ist.
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Bild: Tektab
  • Der rote Faden durch das Studium wird deutlich, weil im ePortfolio verschiedenste Leistungsnachweise als Nachweise für erreichte „Learning Outcomes“ abgelegt bzw. verlinkt werden. Sowohl Dozierende wie Studierende verlieren so die Ausbildungsziele als Ganzes nicht aus den Augen. Dozierende sehen deutlicher, was die Studierenden in anderen Bereichen lernen.
  • Teile aus dem ePortfolio können für Bewerbungen usw. öffentlich gemacht werden. E-Portfolios sind somit auch eine Möglichkeit für die Studierenden, sich öffentlich als Profis darzustellen
  • Eportfolios dürften auch in der Schule und im „lebenslangen Lernen“ eine immer grössere Bedeutung bekommen, kann man doch hier die Kompetenzen, über die man verfügt, auch die ausserschulisch erworbenen, darstellen. Ganz bestimmt wird auch die Bedeutung der computerunterstützten Zusammenarbeit, des Austausches über grosse Distanzen in Zukunft noch wichtiger. Lehrpersonen sollten darin Expertinnen und Experten sein.
In Hong Kong wird „Mahara“  für die ePortfolios genutzt, die Plattform ist aber letztlich nicht wesentlich. Das Portfolio ist in verschiedene Bereiche unterteilt:
  • Artefakte können  zunächst in einen geschützten Bereich hochgeladen werden (Lektionspläne, Arbeitsblätter, korrigierten Arbeiten von Schülerinnen und Schülern, Prüfungen, Beobachtungsnotizen, Berichte von Praktikumslehrperson und Mentor/in, Reflektionen, Entwürfe zu Leistungsnachweisen usw.) Die Studierenden bestimmen selbst, wem sie Zugang zu diesen Unterlagen geben. Meist sind das Peers, „critical friends“ also z.B. Lehrpersonen, die man kennt oder hier in Hong Kong recht verbreitet: auch Eltern oder Verwandte usw. Man übt so die Zusammenarbeit miteinander ein, macht Kommentare, Vorschläge usw.
  • In einem „Arbeitsbereich“ werden die verschiedenen mit dem Praktikum zusammenhängenden Leistungsnachweise abgelegt. Zugang haben die auftraggebenden Dozierenden aus Fachdidaktik und Erziehungswissenschaften, die Praktikumslehrperson und die Mentorin. Für jedes Praktikum werden vier solche Nachweise verlangt, die alle 10 beabsichtigten Learning Outcomes (FEILOs) abdecken. Die Studierenden können einen fünften Nachweis abgeben (d.h. ins ihr elektronisches Portfolio laden), zu dem sie sich den Auftrag selbst geben. Die geschieht vor allem, wenn sie das Gefühl haben, mit den vier Aufträgen nicht genügend darstellen zu können, wie sie alle Learning Outcomes erreicht haben.
  • Im „Showcase“ werden schliesslich die „Beweise“, dass die verschiedenen Learning Outcomes erreicht wurden, entlang der 10 „FEILOs“, in Zürich wären es wohl die 12 Standards ,dargestellt. Die wichtigsten Elemente dabei sind die Lernberichte der Studierenden.

„Come on, just introduce it – everybody will love it“ meint Christina zu Schluss.

Berufspraktische Ausbildung in Hong Kong

classhkg.jpg(Bild HKIEd)

Mit Christina Wai Mui YU Christina Wai Mui YU habe ich zusammengearbeitet, als wir an der PH Zürich, am HKIEd, in Nara  (Japan) und in Gwangju  (Südkorea) alle daran waren, unsere Studiengänge neu zu gestalten. Wir hatten damals auf Einladung unseres Kollegen Ikuta in Nara eine Woche lang intensiv an Standards, Learning Outcomes, Portfolios, elektronischen Lernobjekten und Umsetzungsmöglichkeiten in der berufspraktischen Ausbildung gearbeitet.

Christina ist Direktorin des „School Partnership and Field Experience Office“  und so Mitglied der Schulleitung. Heute stellt sie mir vor, was in Hong Kong seit unserem letzten Treffen umgesetzt wurde. Beeindruckend.

Field Experience Intendended Learning Outcomes (FEILOs)
Die Berufspraktische Ausbildung wurde in Übereinstimmung mit den übergreifenden Zielen der Studiengänge gebracht (Attributes of the Graduate, Learning Framework , Generic Outcomes.
Das führte zur Definition von 10 „FEILOS“ d.h. Field Experience Learning Outcomes.
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Struktur
Das von vier auf fünf Jahre verlängerte Bachelor of Education Studium (Lehrberechtigung zwei bis drei Fächer in der Primarstufe bzw. zwei Fächer auf der Sekundarstufe I) bringt in den ersten Jahren je eine Einführung in die Schule mit Hospitationen, im dritten Jahr ein siebenwöchiges Blockpraktikum mit der Verpflichtung 6 – 8 Lektionen pro Woche z.T. im Teamteaching zu unterrichten und im letzten Jahr nochmals ein siebenwöchiges Praktikum mit der Verpflichtung, 10 – 12 Lektionen alleine zu unterrichten.
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Wir haben schon früher darüber diskutiert, aber wie die meisten meiner ausländischen Kolleginnen und Kollegen ist Christina nach wie vor der Meinung, dass Hospitationen mit Beobachtungsaufträgen, Interviews usw. in den ersten beiden Jahren wertvoller seien als bereits zu unterrichten. Man dürfe nicht unterschätzen, wie wichtig es sei, gute Lehrpersonen zu beobachten, ihnen vielleicht zu assistieren, sich mit ihnen und anderen Profis im Schulfeld auszutauschen. Man lasse ja angehende Ärztinnen und Ärzte auch nicht in den ersten Semestern schon operieren… Ich selbst neige auch immer mehr zu dieser Ansicht. All die vielen tausend Stunden, die man selbst als Schülerin oder Schüler erlebt hat, sind zu rezent, wenn man nicht einige Zeit auch heutige professionelle Lehrpersonen beobachtet, sich mit ihnen über ihr Berufsverständnis usw. unterhalten und darüber reflektiert hat.
Die Blockpraktika wurden in Hong Kong verlängert und – auch auf Grund unserer guten Erfahrungen mit dem Quartalspraktikum – auch Vor- und Nachbereitungstage eingeführt. Auch hier: In Hong Kong möchte man die Studierenden nicht verpflichten, mehr als ein halbes Pensum zu unterrichten. Das Reflektieren, das Sammeln von „Evidenz“, dass die Learning Outcomes auch erreicht worden sind für das ePortfolio sei wichtiger für die berufliche Entwicklung.
 In der Schweiz wollen die Studierenden möglichst bald möglichst viel unterrichten, die Praktikumslehrpersonen finden es wichtig und wir Dozierenden auch. Aber vielleicht würde sich die Diskussion, ob unsere Studis mehr Zeit für die Beobachtung erfahrener, guter Lehrpersonen haben sollten, doch einmal lohnen.

HK Institute of Education während der Proteste

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Am Montagmorgen, 6. Oktober fahre ich an unsere Partnerhochschule, ans Hong Kong Institute of Education (HKIEd). Der Campus in den New Territories ist schön und idyllisch wie eh und je. Die Weigerung der Beijinger Zentralregierung, wirklich freie Wahlen zuzulassen, beschäftigt aber auch die angehenden Lehrerinnnen und Lehrer. Überall gelbe Bänder. Durch den ganzen Hauptkorridor ein langes schwarzes Band mit Botschaften. Transparente.
meinekommen.jpgIch bin gespannt, wie das an der Konferenz am Mittwoch und Donnerstag aussehen wird. Man hat die Konferenz wegen der Occupy-Bewegung zu Gunsten eines Meetings (zu dem lediglich die Teilnehmenden aus der Greater China Region eingeladen sind) um zwei Stunden gekürzt und das Gala Diner in ein normales Abendessen umgewandelt.
Eine Mitarbeiterin des HKIEd erklärt mir die Situation. Einerseits sei das Kollegium uneins, ob z.B. die Teilnahme an einer Demonstration ein Grund sei, zu spät an eine Lehrveranstaltung zu kommen oder gar zu fehlen. Man lasse das den Dozierenden frei, es werde aber heftig diskutiert. Solche Aushänge zeugen von den Diskussionen unter den Dozierenden.
Einig ist man sich, dass Studierende nur individuell, nicht als HKIEd-Gruppen an Protestversammlungen teilnehmen sollen.
HKIEd-Dozierende erzählen auch, dass sie momentan bei Einladungen, Familienfeiern usw. keine einfache Zeit haben. Sie werden von der älteren Generation häufig auf die Demonstrationen angesprochen und bekommen Vorwürfe zu hören, dass sie die Lehrpersonen wohl falsch ausgebildet hätten. Lehrerinnen und Lehrer hätten eine „Protestgeneration“ herangezüchtet, die zu wenig Respekt habe. Ich frage nach, wie sie solchen Vorwürfen begegneten. Sie argumentieren, dass das Gegenteil der Fall sei, die bei der Bewegung aktiven Mittelschülerinnen und -schüler und Studierenden könnten kritisch denken, partizipieren, ausgezeichnet argumentieren, sie seien höflich und äussert friedlich. Aber viele über 40-jährige sehen das nicht so, sie schätzen den „zivilen Ungehorsam“ als verheerend ein, haben Angst, Hong Kong verliere weitere Privilegien und Wohlstand. „The worst are the professors“, habe ich in einem Tweet gelesen.
crying2.jpgDie Proteste spalten aber nicht nur die Generationen, sie spalten viele Teilnehmende auch innerlich. Das konfuzianische Gedankengut, die Pflicht, den Ältern und vor allem den Eltern gegenüber respektvoll und gehorsam zu sein, ist tief verankert. Zu demonstrieren stürzt viele Junge auch im recht liberalen und offenen Hong Kong in einen Loyalitätskonflikt. Das Transparent „My parents are crying for me – I am crying for the future“, das ich gestern fotografiert habe, zeigt dieses Dilemma gut auf.
Etwas Erfahrung mit Konflikten hat man am HKIEd und den Schulen. In den letzten zwei Jahren hat man sich erfolgreich gegen die Einführung von „National Education“, d.h. Patriotismusunterricht nach festlandchinesischem Muster zur Wehr gesetzt. China hat schliesslich nachgegeben, wenn auch der der Druck, die Schule müsse „patriotischer “ zu werden, nach wie vor vorhanden ist.

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Hong Kong: Angry Mobs Turn on Protesters

keinechance.jpg(Bild Tom Grundy, Twitter)
Die Fakten kennt ihr aus den Medien. Hier einfach einige Eindrücke, was ich als Besucher in Hong Kong davon spüre.

Die PH Zürich wurde an die dritte  Konferenz der „Presidents of Normal Universities in the Greater China Region: Educators for the 21st Century“ am Hong Kong Institute of Education eingeladen. Ein Vertrauensbeweis, eine Gelegenheit für Networking und eine Gelegenheit, über kommende Innovationen nachzudenken. Neben Hong Kong zählen Taiwan, Macao und natürlich „Mainland China“ zur Greater China Region. Eingeladen wurden zwei weitere europäische Hochschulen (PH Linz und Stranmillis, Belfast), eine Hochschule aus Japan (Gakugei Tokio) und eine aus Südkorea (Gwangju). Ich hatte schon an zwei vorangegangenen Konferenzen teilgenommen und unser „President“ fragte mich freundlicherweise, ob ich ihn vertreten könne. A​ls ich zusagte, hätte ich nicht gedacht, dass eine Bewegung wie „Occupy Hong Kong“ entstehen könnte.
arroganz3.jpg(Bildquellen: Twitter, HKE)
Bei meiner Ankunft am Freitag, 3. Oktober sind einige neuralgischen Punkte in der Stadt besetzt, am Wochenende zuvor ist die Polizei gewaltsam gegen die Demonstrierenden vorgegangen. Eine Angst, die Zentralregierung in Beijing werde ihre Hong Konger Statthalter anweisen, Exempel zu statuieren, liegt in der Luft. Von Demonstrierenden friedlich besetzt sind Strassen im Regierungsviertel um „Admirality“ und um das Einkaufsviertel „Causeway Bay“. Aber auch Strassen im bei Kurztouristen und Grenzgänger/innen aus „Mainland China“ sehr beliebten Mong Kok. Hier gibt es für Festlandchinesinnen und -chinesen günstige und sonst schwierig erhältliche Ware, hier bezahlen die Ladenbesitzer den Triaden, mafiaähnlichen Organisationen, Schutzgelder.
Tränengas, Pfefferspray und Schlagstöcke am Wochenende zuvor haben in breiteren Kreisen Solidarität we1.jpgmit der Occupy-Bewegung bewirkt, einer Bewegung die vorerst aus Studierenden und Intellektuellen, bald auch aus Mittelschülerinnen und -schüler bestand. (Bildquelle Occupy, Twitter)
Am Flughafen wird man darauf aufmerksam gemacht, dass wegen „Incidents“ der Verkehr nicht normal funktioniere und mit Staus und Verspätungen zu rechnen sei. Tatsächlich sind viele Buslinien und die Trams eingestellt, einige Hauptverkehrsachsen sind gesperrt, die U-Bahn funktioniert aber normal.
Ich treffe mich mit Nae, die sich ein Wochenende freinehmen konnte, in einer Bar. Alles schaut Fernsehen und es zeigt sich, dass die – freie Nominationen für die Wahlen 2017 fordernden – Demonstrierenden nicht mehr lediglich Regierung und Polizei gegen sich haben. Die Stimmung ist weitgehend gekippt. In Mong Kok, zwei, drei Kilometer von unserer Feierabend-Bier-Bar entfernt, gehen von den Triaden angeheuerte Schläger gegen die friedlich Demonstrierenden vor. Jede Schlägerei wird von einem Heer von mit Smartphones Fotografierenden festgehalten und sofort via Social Media in Umlauf gebracht. Auch Ladenbesitzer und andere Hongkonger haben offenbar die Geduld verloren, sie beschimpfen die Demonstrierenden und reissen ihre Zelte nieder – was soll ein bisschen mehr oder weniger Demokratie, wenn der Wohlstand in Gefahr ist. Die Presse macht m.E. entsprechend Stimmung: Umsatzeinbussen und die Tränen der Leute, die wegen der Besetzung um ihren Taglohn kommen, werden in der South China Morning Post ausführlich zitiert.
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(South China Morning Post)
In der Bar, in der wir etwas erschrocken unser Bier trinken hat man zwar noch Sympathien für die Demonstrierenden, aber Angst, ihr Insistieren werde Hong Kong schaden und noch mehr Angst vor einer Eskalation. Man bittet uns, auf keinen Fall nach Mong Kok zu gehen.
Die Polizei ist in Mong Kok in kurzärmligen Hemden, ohne Helme und Schutzschilder präsent und versucht die Parteien auseinanderzuhalten. Beide Seiten haben sich farbige Bänder angesteckt. Tragen die Demonstrierenden für mehr Demokratie schon länger einen „Yellow Ribbon“, so tragen die „Besorgten Bürger“ bzw. die „Pro-China“-Leute (und die Schläger) jetzt eine blaue Schleife.
Über hundert Verletzte werden gemeldet, immerhin keine Schwerverletzten.
Am Quai flanieren unterdessen die Touristen aus China und Europa.

Spring Mountain after the Rain

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Letzter Tag. Morgen fliege ich in die Schweiz zurück. 106. und letzter Blogeintrag zu dieser Reise. Vielen Dank euch allen, die ab und zu oder regelmässig mitgelesen haben. Ich habe mich über diese virtuelle Begleitung gefreut und sie war mir Ansporn, mich jeden Abend wieder hinzusetzen.

Heute fahre ich auf den Hausberg Seouls, den Namsan, um mir nochmals einen Überblick zu verschaffen. Es ist allerdings ziemlich dunstig, vielleicht noch nicht ganz Zeit für den Überblick – aber doch für einige Eindrücke.

Gestern in der Ausstellung ging mir bei einem Bild durch den Kopf, dass mich diese Reise auch auf einen „Spring Mountain after the Rain“ geführt hat. Ich fühlte mich meist beschwingt, habe einen vertiefteren Einblick in verschiedene Bildungssysteme gewonnen und dabei viele wertvolle Begegnungen gehabt.

Vieles, das ich aus Büchern oder früheren Besuchen kannte, ist mir klarer geworden. In Asien liegt tatsächlich viel Zukunft. Ich meine aber, dass wir gegenseitig voneinander lernen können.
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Hier in den verschiedenen Ländern Asiens habe ich sehr viel sehr professionelle Zielgerichtetheit, enorm viele Ambitionen und gleichzeitig auch viel Herzlichkeit in Schulen und Lehrpersonenbildung gesehen. Die Haltung, dass eigene Anstrengung zum Erfolg führt, ist weit verbreitet (auch wenn die Rahmenbedingungen natürlich überhaupt nicht für alle gleich gut sind). Aber eine Konsumhaltung, wie sie bei uns in den Bildungsinstitutionen manchmal festzustellen ist, habe ich hier nirgends gesehen. Im Gegenteil, die Energie, die Produktivität, die Lernbereitschaft sind hier mit Händen zu greifen.
Die Haltung, dass Lernen etwas Positives ist, dass Lernen während des ganzen Lebens erstrebenswert ist, ist kulturell tief verankert. Und Lernen hat immer auch eine menschenbildende, eine „moralische“ Dimension.
Beeindruckt hat mich, wie an Lehrerbildungsuniversitäten und in Schulen alle an einem Strick ziehen und wie sie mit voller Kraft an diesem Strick ziehen, wenn mal etwas beschlossen wurde. Das Alignment ist immer sehr gut.
Auch von der Haltung der Steuerungsgremien und der Lehrerschaft wissenschaftlichen Fragestellungen und Erkenntnissen gegenüber können wir lernen. Wissenschaft ist hier in vielen Ländern nicht etwas Abgehobenes, für die Schule eigentlich Unnötiges. Forschungsfragen werden aus Fragen des Schulfeldes abgeleitet und Forschungsergebnisse sind häufig das Fundament für die Weiterentwicklung der Schulen.

Von unserem System könnten die meisten Bildungssysteme hier – das mag erstaunlich klingen – Effizienz lernen. 16 und mehr Stunden am Tag für Schule oder Uni einzusetzen, wie das in Asien häufig beobachtet werden kann, ist nicht effizient, es ist wohl auch nicht kreativitätsfördernd. Die enorme Konkurrenzorientierung hier führt zwar zu einer hohen Anstrengungsbereitschaft, sie braucht aber zu viel Energie, bringt die Eltern finanziell an den Abgrund, baut bei den Kindern Schuldgefühle auf oder führt zu psychischen Erkrankungen und bringt für diejenigen, die dann nicht zu den obersten 10% gehören zu viele Enttäuschungen und zu wenig Zukunftsaussichten mit sich. Auch das System, dass ein sehr grosser Anteil der Schülerinnen und Schüler eine Mittelschule und dann eine Universität (viele verdienen den Namen allerdings nicht) besuchen muss, ist nicht zweckmässig. Eine duale Berufsbildung mit integrierter guter Allgemeinbildung, die ein Fundament für lebenslanges Weiterlernen gibt und ein durchlässiges Bildungssystem sind meines Erachtens bei weitem vorzuziehen. Das meritokratische und gleichzeitig in wichtigen Sektoren völlig privatisierte System in Asien hat viele Züge von „survival of the fittest“. Und „fittest“ heisst manchmal auch „richest“. Dass eine Gesellschaft als Ganzes Erfolg haben muss und dass jeder einzelne Mensch ein Recht auf „the pursuit of happiness“ hat, wird hier meines Erachtens in vielen Ländern zu wenig beachtet.

Ich werde diese Seite meiner Reise zu Hause in den nächsten Wochen noch genauer auswerten, meine Notizen und all die Literatur, auf die ich hingewiesen wurde durchgehen.
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Die Reise war für mich vor allem auch wertvoll wegen all der Menschen, die ich in diesen 15 Wochen getroffen habe. Menschen, die mich in Rumänien mit dem Privatwagen zum Bahnhof gefahren haben, damit ich den Zug nicht verpasse. Menschen, die in den Bahnabteilen selbstverständlich ihr Essen mit mir geteilt und mit mir geplaudert haben. Menschen, die sich gefreut und gelacht haben, als ich an ihrem Schulfrühlingsfest in Samarkand teilnahm. Menschen, bei denen ich in Russland gewohnt habe, die mir ihre Stadt gezeigt und mir ihr Wissen über das Bildungssystem weitergegeben haben. Menschen, die mir an einer Pädagogischen Universität in Ostsibirien Gesprächspartner organisiert, mir in einer Jurte in der Mongolei den Ofen eingeheizt oder mir in China ein Mountainbike aufgetrieben haben. Schul- und Unileitende in China, Singapore, Japan und Korea, Lehrpersonen, Dozierende, Studierende und Schülerinnen und Schüler, die uns und mich mit grosser Gastfreundschaft empfangen haben. Die PH-Reisegruppe, die so unkompliziert und kollegial war. Die Kolleginnen und Kollegen in Hongkong, Singapore und Guangzhou, die sich gefreut haben, dass sich so viele Angehörige der PH Zürich für ihre Lehrpersonenbildung und ihre Schulen interessieren. Christine und Barbara, die die PH-Studienreise mit viel Zeit, Energie und Herzblut organisiert haben. Unsere WG in Guangzhou. Benica, die mir ihr Zimmer überliess. Nae, die mir so vieles zeigte und erklärte und deren Freundschaft über Jahrzehnte, Kulturen und Kontinente hinweg mir viel bedeutet. Ikuta, der mir eine Woche lang sein Büro und seine Infrastruktur zur Verfügung stellte. Noriko, bei der ich mich nicht als Zimmermieter, sondern als willkommener Gast fühlte. Reiko, die mir in Fukushima nicht nur in Schulen und Uni alle Türen öffnete, sondern auch jeden Abend mit mir und Freunden verbrachte. Namgi, der in Korea ein grandioses Programm für mich zusammenstellte und mich begleitete.
Und jetzt freue ich mich auf meine Familie, die mich so selbstverständlich gehen liess und mir all das ermöglicht hat.
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Cho Phyungwi: Spring Mountain after the Rain

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Frühmorgens mit dem Zug zurück nach Seoul. Meine Reise geht bald zu Ende, ich werde etwas nachdenklich. Ich denke, dass ich das Richtige gemacht habe in meinem Weiterbildungsurlaub. Eine Verbindung von unterwegs sein, Asien einerseits und Bildung, Lehrpersonenbildung, Schulen andererseits. Beides hat mich, zusammen mit all den Menschen, denen ich begegnet bin, die mich ein Stück begleitet haben, sehr beflügelt.

WMYEIAOSUTR steht auf dem Dach der Seouler Fililale des National Museum of Modern and Contemporary Art (MOMCA) in Seoul. Eine Lichtinstallation, die sich in der Nacht als MY EAST IS YOUR WEST liest. Die Frage, ob ich alles mit zu westlichen Augen gesehen habe, beschäftigt mich seit einiger Zeit. Kann man Kultur und Bildung in den Ländern, die ich besucht habe mit westlichen Denkschemata verstehen? Wenn ich einfach da war, entspannt, beobachtend, mitmachend, erwartungslos und offen, hatte ich manchmal den Eindruck, Atem und Puls von Ort und Menschen zu erfühlen. Und manchmal haben sich mein Atem und mein Puls angepasst.
Wenn ich versucht habe, das alles mit meinen westlichen Konzepten zu verstehen, war vieles einfach fremd – und ich selbst habe mich auch fremd gefühlt.

Ich verbringe den Tag im Museum of Education und im MOMCA in Seoul, beziehe dann mein schönes Appartement im 22.Stock in Sinchon und schlendere mit solchen Gedanken und auch zufrieden und dankbar, dass alles so gut gegangen ist, durch den Seouler Abend.

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Ahn Gyuchul, Glasses, 1991

Privatschule in Gwangyang

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Mit dem Bus fahre ich in eineinhalb Stunden an die koreanische Südküste nach Gwangyang. Herr Goe, ein Lehrer an der privaten Gwangyang Necheol Nam Elementary School erwartet mich schon am Bus. Er hat Herrn Pak mitgebracht, einen Ehemaligen der High School, der soeben in den USA seinen Master abgeschlossen hat, jetzt zwei Monate zu Hause ist und dann in den USA bei einer grossen Treuhandfirma zu arbeiten beginnt. Pak spricht natürlich perfekt Englisch und begleitet mich den ganzen Tag.

Die beiden fahren mich zuerst durch Gwangyang und zeigen mir die riesige aufgeschüttete Halbinsel mit den Posco-Werken. Posco ist einer der weltweit grössten Stahlhersteller mit Hauptsitz in Pohang und einem sehr grossen Werk hier in Gwangyang. Die Firmenstiftung POSEF (Posco Education Foundation) führt hier in Gwangyang für die Kinder ihrer Angestellten Kindergärten, Primarschulen, eine Sekundarschule (Middle School) und eine High School. (Broschüre PDF)

Eine davon, die Gwangyang Necheol Nam Elementary School werde ich jetzt besuchen.

Beim Eingang erwarten mich der Chef der Stiftung POSEF hier in Gwangyang, ein anderer „very important man“ der Stiftung und der Schulleiter. Die POSEF-Leute sind nach einer Medaillenverteilung an erfolgreiche Schülerinnen und Schüler extra hiergeblieben, um mich zu begrüssen. Ausgerechnet heute habe ich keinen Anzug an, weil ich dachte, ich besuche eine kleine Schule auf einer Insel und nicht overdressed wirken wollte.

Die POSEF-Schulen gehören zu den besten Privatschulen Koreas. Während Kindergarten und Primarschule fast ausschliesslich von Kindern von Posco-Angestellten besucht werden, können sich in die Middle- und High-School auch Absolventinnen und Absolventen anderer Schulen bewerben. In Betracht gezogen werden aber nur diejenigen, die zu den 10% besten ihres Jahrgangs gehören. Dieses Ranking wird aus den midterm- und Schuljahresabschluss-Examen berechnet, die jedes Jahr durchgeführt werden. Die Konkurrenz und das sich ständig Bewerben sind hier im ganzen Bildungssystem allgegenwärtig. Ein riesiger Wirtschaftszweig, die „Hagwon“, das „Private Tutoring“ hängt davon ab. Praktisch alle Schülerinnen und Schüler besuchen solche privaten Nachhilfeschulen. Sie schlafen deshalb sehr wenig und die Eltern tragen eine grosse finanzielle Last.
Posco nimmt z.B. mit einem extrem selektiven Auswahlverfahren jeweils 100 Bewerbende in seine „Meister“-High School auf, d.h. seine berufsorientierte High School, die eng mit der Firma zusammenarbeitet. (Pressemitteilung)
Die Selektion ist auch für Hochschulabsolvierende sehr hart, wenn sie sich in einer grossen Firma um eine Stelle bewerben. Der „Business Insider“ hat letzthin beschrieben, wie Samsung seine Angestellten auswählt.

Posco kennt ähnliche Bewerbungsverfahren, allerdings hat der Konzern in letzter Zeit in Korea nicht mehr viele neue Mitarbeitende angestellt, die Schulen haben deshalb rückläufige Schülerinnen- und Schülerzahlen.

Im ersten Teil des Morgens findet eine Einführung in die koreanische Volksmusik statt.
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Eine vom koreanischen Staat engagierte, soweit ich das beurteilen kann hervorragende, Musikerinnengruppe (Facebook) führt die Schülerinnen und Schüler in die Volksmusik, Opern, Mythen ihres Landes ein. Keine einfache Kost. Die Schülerinnen und Schüler sitzen am Boden, hören meist aufmerksam zu und rutschen zwischendurch auch mal ein bisschen hin und her oder flüstern kurz miteinander. Zu unruhig wird es im Saal aber nie.
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Klassenlehrpersonen und Schulleitung sind ebenfalls hier, geniessen den Aufritt, haben aber auch ein Auge auf das Publikum. Die Klassenlehrpersonen unterrichten hier Koreanisch, Mathematik, Geschichte und Science. Die übrigen Fächer werden von Fachlehrpersonen erteilt, wobei je nach Fach die Klassenlehrperson auch dabei ist und Teamteachingfunktionen übernehmen kann. Zusätzlich geben noch „Koryphäen“ Stunden. Für Mathematik wurde ein russischer Professor eingestellt, der zwischen den verschiedenen Schulen hin- und herpendelt.
Für die meisten Fächer stehen eigene Fachräume zur Verfügung, die eine anregungsreiche, auf das Fach abgestimmte Lernumgebung ermöglichen. Im Englisch ist ein ganzes EngLand aufgebaut, mit Fototapeten von Pubs, Telefonkabinen, Tube-Stationen usw. In Mathematik stehen all die Hilfsmaterialien zur Verfügung, die wir auch kennen, zusätzlich sind sogar die Sonnenstoren mit Euklid oder Pythagoras illustriert. Die Tische sind nicht immer eckig, die Schülerinnen und Schüler sollen ein out-of-the-box-Denken lernen und das gehe besser, wenn nicht alles viereckig sei.
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In Science sind an einer Wand Bilder von Nobelpreisträgern aufgehängt und es wird gefragt, wer wohl der erste koreanische Nobelpreisträger sein werde. It is our ambition that he comes from our school.
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Die Ziele der Schule und ihre „moralische Erziehung“ sind auch sonst überall präsent. Dass die Ansprüche hoch sind, sehen wir auch in der Bibliothek. 600 Bücher sollen in den 12 Schuljahren mindestens gelesen werden. Um das Ziel zu erreichen, finden immer wieder auch Bibliotheksnächte statt. Eine Mutter, die in der Bibliothek als Freiwillige arbeitet, ist gerade am Vorbereiten einer solchen Lesenacht.
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In Herr Goes Lektion geht es ums Debattieren. Schülerinnen und Schüler wägen zuerst in Gruppen Umweltschutz und Entwicklung gegeneinander ab, nachher diskutieren sie in der Klasse darüber. In der nächsten Lektion, sollen sie ihre Meinung dann auch mit Plakaten illustrieren. Goe gilt als Experte im Debattieren, er gibt in den Ferien jeweils auch Kurse für Lehrerinnen und Lehrer zu diesem Thema.
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Anschliessend besuchen wir den drei Jahre dauernden Kindergarten. Schöne, helle und grosse Räume. Auch im Kindergarten gibt es einen Stundenplan mit Fächern und viele Fachräume. Ob sie lesen würden? Ja, natürlich, ab zweitem Kindergartenjahr, die meisten Kinder könnten es aber schon vorher.
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Der Kindergarten hat auch viel Platz draussen, Tiere werden gehalten, jede Gruppe hat einen Garten.
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Die Kindergartenhündin hat vor fünf Tagen Junge bekommen
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Die Leiterin des Kindergartens sagt plötzlich „oh, graduates from our kindergarten“, rennt den Zweitklässlerinnen mit offenen Armen entgegen und umarmt sie
Der reguläre Unterricht ist um drei Uhr fertig, jetzt beginnen die Sitzungen der Lehrpersonen und die „extracurricular activities“. Die Kindergartenschülerinnen und -schüler können z.B. unter 16 Angeboten wählen (vom Bauchtanz über Faltarbeiten, Töpfern, Mannschaftssportarten bis zu Maskenspiel) und haben so nochmals 60 – 90 Minuten nicht Unterricht genannten Unterricht. Nachher besteht ein Auffangangebot für Kinder, die noch nicht nach Hause können.

Auch in der Schule nebenan haben die „extracurricular activities“ begonnen. Dazu gehören z.B. auch Pfadfinder, Trommeln und Fussball. Gwangyang hat ein Soccerteam, das momentan auf Platz 4 in der koreanischen Meisterschaft liegt und natürlich auch von Posco gesponsert wird. Schüler, die in der Schule im Fussball Talent zeigen, werden besonders gefördert und es ist der Stolz der Lehrerschaft, wenn einer es schliesslich in die erste Mannschaft schafft.
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Trommeln, eine „extracurricular activity“

Ich war bis jetzt nach offiziellem Schulschluss noch nie in einer Schule und es ist hochinteressant, wie der Betrieb – einfach mit anderem Personal – weitergeht, von der Schule organisierte Freizeitaktivität mit erheblichem Lerneffekt. Nach 17 Uhr gehen die Schülerinnen und Schüler dann nach Hause, machen Hausaufgaben, treiben vielleicht etwas Sport, essen und dann stehen für sehr viele noch die Hagwon auf dem Programm. Viele dieser privaten Nachhilfeschulen werben im Moment damit, dass sie besonders gut für ADHD-Schüler seien.

Auch mein Programm ist noch nicht zu Ende – ich wollte ja auf eine Insel. Das hat man hier natürlich nicht vergessen und so fahren wir eine Stunde nach Yeosu und besuchen den Expo-Park mit seinen Wasserfontänen und bei Sonnenuntergang auch noch eine Insel. Jetzt steht noch ein Nachtessen auf dem Programm und dann will mich Goe die anderthalb Stunden von Gwangyang nach Gwangju zurückfahren. Es gelingt mir mit Vermittlung von Pak, mich durchzusetzen, so dass ich den Bus nehmen kann. Ich schätze die Gastfreundschaft hier sehr, sie hat aber auch etwas sehr Verpflichtendes, für mich manchmal Beengendes. Einen Gast nach dem Nachtessen von Zürich in sein Hotel nach Bern zurückzufahren, käme mir in der Schweiz nie in den Sinn. Herr Goe willigt schliesslich ein und kauft mir dafür das Busbillett. Ganz wohl ist es ihm aber nicht, wohl auch, weil er versprochen hat, gut für mich zu schauen. (Namgi runzelt am nächsten Morgen auch etwas die Stirn, er hat natürlich bereits erfahren, dass ich mit dem Bus zurückgekommen bin. Aber Goe habe ihm gesagt „He’s got a Ph.D., so he probably will find the hotel“ und da habe er ja eigentlich Recht. Es scheint mir doch etwas interkulturelle Verständigung gelungen zu sein.)
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Beim Nachtessen mit viel Rindfleisch, Zwiebeln, Kimchi, Knoblauch haben wir viel Spass. Das dünn geschnittene Fleisch wird auf einem im Tisch eingelassenen Holzkohlegrill zubereitet und schmeckt sehr gut.

Gegen Mitternacht bin ich dann in Gwangju im Hotel. Ein 18 Stunden-Tag, das ist hier ganz normal.