Die letzten 1400 Kilometer meiner Bahnreise legt der chinesische Hochgeschwindigkeitszug in genau fünf Stunden zurück, der Tachometer über der Wagentüre zeigt konstant 302 km/h an, nur bei der Einfahrt in die vier Bahnhöfe, in denen wir anhalten, wird die Geschwindigkeit reduziert. Sogar die über 300 Meter lange Dashengguan-Brücke, auf der sechs Bahngeleise parallel verlaufen überqueren wir mit dieser Geschwindigkeit. Unten ein breiter, gelber Fluss mit unzähligen Lastschiffen, die durch den Dunst fahren. Die Strecke wurde völlig neu gebaut, man merkt im Zug nichts von der hohen Geschwindigkeit. 80 Millionen Menschen pro Jahr sollen laut Forum China auf dieser Strecke transportiert werden. (Foto wikimedia/alancrh).
Ich lese im Zug ein altes „Magazin“ (No. 34/2013). Finn Canonica und Birgit Schmid beschreiben im Artikel „Alles über Lindsey“ das Leben und die Schwierigkeiten einer jungen Frau in Beijing sehr gut. Ein Leben zwischen westlichen Werten und dementsprechend individualistischen Vorstellungen über die eigene Zukunft (ein eigenes Appartement, einen Mann, den man sich selbst aussucht und den man liebt) und ostasiatischen Werten wie der starken Verbundenheit mit der Familie, dem Respekt ihren Wünschen gegenüber. Ein grosser Graben besteht auch zwischen der Stadtbevölkerung und den Zugewanderten vom Land, über die man lächelt und die man als ungebildet einschätzt. In Hans Jakob Roths interkulturellem Ratgeber überfliege ich die bereits markierten Texte nochmals: „Der Versuch hingegen, die Fremdkultur mit unserem bereits vorhandenen Erfahrungsschatz zu verstehen, ist grundsätzlich falsch“ (S. 18). Ich denke, er hat Recht und versuche das, ganz leicht fällt es mir aber nicht. Und übrigens: Wie ich nach der Magazinlektüre jetzt weiss, habe ich im Park in Beijing tatsächlich einen Heiratsmarkt beobachtet.
Der Bahnhof der Hochgeschwindigkeitszüge befindet sich am Flughafen Shanghai Hongquiao. Von hier aus gelange ich per Metro bequem direkt zu meinem Hotel am People’s Square. Ich bin froh um die zentrale Lage und den Metroanschluss, beides hat mir in Beijing gefehlt. Mein erster Eindruck von Shanghai: eine Weltstadt, ich könnte auch in Hongkong oder New York sein. Auch die Beschreibungen von ganz neuen, futuristischen Wolkenkratzern neben alten Garküchen in Quartieren mit älteren Häusern finde ich bestätigt. Sehr viele, sehr schicke Leute, sehr viele, sehr teure Autos (Lamborghinis, Ferraris, Range Rovers, Porsche Cayennes und hochklassige Mercedes). Sehr viele, sehr teure Restaurants und gerade nebenan kann man zum Bruchteil ihrer Preise auch sehr gut essen. Mein Abendessen schmeckt hervorragend und kostet weniger als der Cappuccino bei Starbucks am Nachmittag. Zu meinem ersten Eindruck gehört auch die Erkenntnis, dass ich offenbar zur Zielgruppe all der hübschen Frauen gehöre, die eine „Massatschi“ verkaufen wollen. 100 Yuan one hour, 200 Yuan full service, please come…