Die Nacht ist kein Genuss, es ist hart und staubig und erst noch sehr kalt. Als ich am Morgen durch andere Wagen Richtung Speisewagen gehe, empfängt mich dort eine wohlige Wärme. Nur unser chinesischer Wagenbegleiter (etwa 20, sehr hager, James Dean-Frisur, Zweitagebart) scheint sich die Zeit anderswie vertrieben haben. Zwei harte Eier und zwei Scheiben Toastbrot zum Frühstück. Die Route durch das Hangshan-Gebirge, über das hier auch die grosse Mauer verläuft, ist eindrucksvoll. Ein mongolischer Mitreisender, der (falls ich das richtig verstanden habe) in Beijing in einer Umwelttechnologiefirma arbeitet, gibt mir zwar zu verstehen, das Wasser des Yongding sei höchst verschmutzt, man könne es nicht trinken und nicht darin baden und er findet es entsprechend lustig, dass man vom Zug aus zwei Männer bis zu den Hüften darin stehen und fischen sieht.
Etwa eine Stunde vor Beijing beginnt die Agglomeration mit riesigen Hochhausüberbauungen.
Und schliesslich kommen wir an: Beijing Hauptbahnhof. Genau fünf Wochen hat die Reise von Zürich hierher gedauert. Ich starre vor Dreck, rieche nach Kohle und bin ziemlich erschöpft. Aber sehr zufrieden und um unzählige Eindrücke und Begegnungen reicher.
In der schwarzen Lexus-Limousine mit den weissen Sitzbezügen, die mich zum Hotel fährt komme ich mir ziemlich daneben vor. (Dem Fahrer wohl auch, er hat mich etwa sieben Mal gefragt, ob ich wirklich der Richtige sei, bis ich ihm schliesslich den Pass zeigte).
Ich brauche bis Sonnenuntergang, bis ich mich wieder einigermassen sauber fühle und muss mich überwinden, nochmals aus dem Haus zu gehen und nicht einfach ins Bett zu liegen. Kaum habe ich das Hotel aber verlassen, empfängt mich der warme Wind, der Duft nach Garküchen, Gewürzen, Smog und angefaultem Abfall. Ostasien zieht mich sofort wieder in seinen Bann und ich vergesse meine Müdigkeit.
Tian Tan, der Park um den „Himmelstempel“, der ganz in der Nähe des Hotels liegt, ist noch geöffnet. Das letzte Mal war ich 1980 hier. Der Tempel sah damals schon gleich aus, aber die Menschen waren völlig anders. Alle hatten noch ihre blauen oder grauen Mao-Kittel an und sahen sich Tempel und Garten diszipliniert an. Unsere Reisegruppe aus Westlern war die ganze Zeit von einer Reiseführerin und einem Reiseführer der staatlichen Reiseagentur begleitet, die uns selten mal herumschlendern liessen und die uns immer wieder in unserem umzäunten Hotelgelände für Ausländer ablieferten. Wir schenkten ihnen zum Schluss je eine Instamatic-Fotokamera, die es im Freundschaftsladen – nur für Ausländer, die dort mit Devisen zahlen mussten – zu kaufen gab. Sie waren sprachlos über dieses Geschenk, ich weiss nicht, ob sie es abliefern mussten. Heute schlendern die (privilegierteren, der Park kostet Eintritt) Chinesinnen und Chinesen alle sehr gestylt und mit westlichem Habitus durch den gleichen Park. Mao-Kittel und Instamatic-Kameras, das war eine völlig andere Zeit, eine andere Welt. Obwohl das Licht kaum mehr ausreicht, bin ich umgeben von Dutzenden mit teuren Spiegelreflexkameras oder iPhones ausgerüsteten meist jungen Chinesinnen und Chinesen, die mit mir die Frühlingsblüten im Park fotografieren und sich über den schönen Abend freuen.
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