Am Bahnhof Irkutsk holt mich ein weiterer Ivan (Ivan II. ?) ab. Wir fahren mit dem Minibus nach Bolschoje Goloustnoje am westlichen Ufer des Baikalsees. Rund zwei Stunden über eine Piste durch die Taiga. Es liegt kaum noch Schnee. Weil die Gegend ohnehin niederschlagsarm ist, ist die Gefahr von Waldbränden gross und wir durchfahren auch grosse Gebiete mit gespenstisch schwarzen Baumskeletten.
Bolschoje Goloustnoje, übersetzt heisst das „die grosse nackte Mündung“, weil die Gegend, in der der Fluss in einem kleinen Delta in den Baikalsee fliesst, nicht bewaldet ist. Galina, die ehemalige Dorfschullehrerin vermietet einige Zimmer an Touristen. Sie und Ivan berichten über die Vergangenheit des Dorfes und Ivan kennt sich gut in der Geografie und Geologie des Baikalsees aus. (Vgl. die Website von Robert Pudwill: Geographie, Geologie, die indigenen Burjaten). In der Gegend des Dorfes siedelten schon lange Burjaten, bevor vor 340 Jahren hier russische Siedler ein Dorf gründeten. Sie lebten weitgehend von Land- und Forstwirtschaft, in Sowjetzeiten in Kolchosen organisiert. 1961 wurde der Baikalsee gestaut, die Wasserlinie stieg, weshalb das Dorf vom Ufer weg verlegt werden musste. Problematischer war aber für die Einwohnerinnen und Einwohner, als 1986 der ganze Südwesten des Baikalsees zu einem Nationalpark umgezont wurde. Bis dahin hatte man von Landwirtschaft, Forstwirtschaft und vom Flössen über den Baikalsee gut gelebt. In der Gegend wurde viel Holz geschlagen, die Stämme wurden dann zu riesigen Flossen zusammengebunden und zur dortigen Weiterverarbeitung über den See geführt. Mit der Umzonung (noch zu Sowjetzeiten) war das jetzt nicht mehr möglich. Viele Einwohnerinnen und Einwohner zogen weg, denn der erhoffte Tourismus liess auf sich warten. Die Misere wurde durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und die anschliessende Geldentwertung massiv verschärft. Niemand hatte mehr Geld und Arbeit gab es auch keine mehr, das Dorf entvölkerte sich noch mehr.
Die Ernährung der verbleibenden Bevölkerung konnte durch die nun selbst betriebene Landwirtschaft nur knapp gesichert werden, die Kolchosen waren ja auch aufgehoben worden, viel ehemaliges Kolchosenland ist heute noch unbebaut. Um zu etwas Geld zu kommen und Einkäufe für den täglichen Bedarf machen zu können, begann man, nicht mehr nur für den Eigenbedarf zu fischen, sondern auch für den Verkauf (und auch – bis heute – Fischarten, die man nicht in diesem Ausmass hätte fischen dürfen).
Die Lage normalisierte sich erst ab dem Jahr 2000 langsam wieder, allerdings nicht mehr auf dem Niveau von vor 1986.
Wasser wird nach wie vor aus Ziehbrunnen bezogen, eine Kanalisation gibt es keine (gab es übrigens auch in Lisas Haus in Novosibirsk nicht).
Die Schule hatte zu Sowjetzeiten etwa 400 Schülerinnen und Schüler. Heute hat das Dorf nur noch 600 Einwohner insgesamt. Die Schule umfasst aber, wie überall, nach wie vor 11 Klassen. Sie hat noch 56 Schülerinnen und Schüler und insgesamt 15 Lehrpersonen. Notgedrungen müssen die Lehrpersonen Fächergruppen (als z.B. Mathematik, Physik und Chemie) unterrichten, was Galina und Ivan schwierig finden. Man könne doch kein Universalgelehrter sein, das gebe es nur bei Jules Verne.
Grund für die früher hohe Anzahl Schülerinnen und Schüler war auch, dass die Burjaten in der Regel sehr kinderreiche Familien hatten, 8 Kinder seien keine Seltenheit gewesen. Aber auch das habe geändert. Um die Kinderzahl wieder zu erhöhen, unterstützt der Staat deshalb bis 2016 Familien, die zwei und mehr Kinder haben mit 400’000 Rubel, die zweckgebunden (Pensionskasse der Mutter, Kauf von Wohneigentum u.a.) eingesetzt werden müssen.
Am Nachmittag mache ich mit Ivan eine kleine Wanderung, zuerst auf die das Dorf umgebenden Hügel, dann über die gefrorene (aber ohne Begleitung heikle) Bucht zu einer kleinen Kirche auf einer Landzunge. Die Einheimischen und Ausflügler aus Irkutsk sind am Eisfischen.
Zu dieser Jahreszeit ist das Motorrad mit Seitenwagen das bevorzugte Vehikel für das Eisfischen. Man sieht deshalb viele solche Maschinen in Bolschoje Goloustnoje. Um das nicht mehr dicke Eis zu befahren, ist es wichtig, dass sie das Gewicht relativ gut verteilen und sie bieten auch genügend Platz, um den Fischfang nach Hause zu transportieren.
Wenn es kälter ist, fährt alles mit dem Auto auf den See, obwohl es eigentlich nur eine offizielle Strasse gibt, die dieses Jahr bereits Mitte Februar wieder geschlossen werden musste. Die Städter aus Irkutsk würden jedes Jahr mehrere Autos im See versenken, weil sie keine Ahnung hätten, wo durchfahren. Allerdings habe vor ein paar Wochen auch ein Einheimischer sein Auto so verloren, es sei halt einfach zu wenig kalt dieses Jahr. Nein, wegen der Trinkwasserreserve müsse ich mir keine Sorgen machen, der See verfüge über grosse Regenerationskräfte.
Ivan hat an Abendkursen an der Sprachuni gut Deutsch gelernt und lernt von Touristen ständig dazu („telefonier nicht hier, das ist arschteuer“). Er ist ein Naturfreund, der es liebt, Trekkings zu machen und für den wohl so ein Warmdusch-Tourist wie ich einfach zum Broterwerb gehört. Er war bei der „Wende“ in der 3. Klasse und bedauerte es sehr, dass die Pioniere, auf die er sich gefreut hatte, abgeschafft wurden. Er bedauert, dass der Tourismus, wie er zu Sowjetzeiten selbstverständlich gewesen sei, mehr und mehr verloren geht. Damals seien alle mit ihren Zelten tagelang zu entfernten Seen oder heissen Quellen gewandert, hätten unterwegs an Feuern gekocht und erzählt und seien bei Ankunft dann in der Banja zusammengesessen. Heute werde nur noch der Komforttourismus gefördert. Die betuchten Touristen würden mit Helikoptern zu den warmen Quellen geflogen und dort seien landschaftsverschandelnde Hotels anstelle der früheren naturnahen Pionierherbergen entstanden.