Nae hat jeweils meinen Blog per Google auf Englisch übersetzt und gelesen und möchte meine Eindrücke vom japanischen Bildungssystem etwas erweitern. Sie meint, dass ich in Nara und Fukushima sehr gute öffentliche Schulen gesehen habe – Schulen allerdings, die ihre Schülerinnen und Schüler auslesen konnten, weil die „affiliated schools“ der Universitäten begehrt seien. Die Gemeindeschulen, die nicht auslesen können, hätten mit wesentlich grösseren Problemen zu kämpfen. Auch sie nennt die Probleme des Absentismus, des Mobbings, das sehr verbreitet sei und des sozialen Rückzugs, weil die Kinder und Jugendlichen Mobbing und/oder ständigen Wettbewerb und Druck nicht mehr aushielten. Die „affiliated schools“ der Universitäten hätten gute Lehrpersonen und könnten solchen Problemen begegnen, an verschiedenen öffentlichen Schulen sei das aber wenig der Fall. Sie ist nicht so sicher, ob die Präfekturen bei ihren Selektionsverfahren zur Anstellung der Lehrpersonen immer die richtigen einstellen. Häufig würden wohl Empfehlungen sehr stark gewichtet und Söhne oder Töchter von einflussreichen Eltern erhielten dann eine Stelle, auch wenn sie bei den verschiedenen Assessments nicht so gut abgeschnitten hätten.
Die Versetzungen von Schulleitenden und Lehrpersonen, die die Präfekturen anordnen können und auch häufig anordnen bewirkten oft Motivationsknicke sowohl bei Lehrpersonen wie bei Schülerinnen und Schülern. So könne es dann z.B. vorkommen, dass eine Musiklehrperson, die die Freude an der Musik gefördert und eine entsprechende Schulhauskultur aufgebaut habe, plötzlich durch jemanden ersetzt würde, der einfach verlangte, dass man die Lebensdaten von Beethoven und anderen Komponisten auswendig lerne.
Nae möchte mir eine Schule zeigen, die versucht, das Übel an der Wurzel zu packen, mit einem Schulprogramm, dass sich gegen Wettbewerbsdenken wendet, dafür Kreativität, Kooperation und Eigenverantwortung fördert. Die private Jiyonomori-Schule, die heute einen Tag der offenen Türe hat, liegt etwa eineinhalb Stunden von ihrem Wohnort entfernt. Hier hat ihr Sohn die High School besucht. Sie wollte ihm nach neun Jahren Public School einen freiheitlichen Mittelschulbesuch ermöglichen, der Kreativität und eigenständiges Denken fördert und nicht ständig diszipliniert. Ich habe den 25-jährigen fröhlichen jungen Mann, der in der Modebranche arbeitet kurz gesehen und denke, dass sie richtig entschieden hat.
So fahren wir am frühen Samstagmorgen durch Vororte und Wälder, an Sushi-Restaurants, Caterpillar-Vermietungen, Shinto-Schreinen, Bowling-Bahnen, Wasserreservoirs und Love-Hotels vorbei in die nächste Präfektur.
Direktor und Vizedirektor begrüssen die Angereisten in ihrer am Waldrand sehr schön gelegenen Schule. Die Besucherinnen und Besucher sind meist Eltern mit ihren Sechstklässlerinnen und Sechstklässern, die eine Schule für ihr Kind suchen. Einerseits wie mir scheint kreative und unkonventionelle, häufig etwas ältere Eltern, die aus Weltanschauungsgründen eine Schule mit Selbstverwirklichungspotenzial für ihr Kind suchen, andererseits wohl auch Eltern, deren Kinder Schwierigkeiten in der öffentlichen Schule haben und die sich deshalb nach einer Alternative umschauen.
Die Jiyonomori-Schule wurde 1985 gegründet. Sie verbindet Junior High School und High School, kann also sechs Jahre besucht werden, 3 Jahre während der obligatorischen und 3 Jahre während der nachobligatorischen Schulzeit. Das Schulteam empfiehlt denn auch, nicht erst in die High School einzutreten, sondern die Schule sechs Jahre zu besuchen – ihr Konzept brauche viel Zeit, da sei es wichtig, sechs Jahre zu haben. Es gibt Dormitories für Schülerinnen und Schüler, die unter der Woche dort wohnen, die meisten pendeln aber und verbringen bis zu zwei Stunden pro Weg (d.h. vier Stunden pro Tag) in Bahn und Bus.
Der Schulleiter geht auf die Gründung durch Yutaka Endo ein, der sich an der Bildungsphilosophie des Mathematikers Toyoma Kei (die ich beide nicht kenne) orientiert habe. Die Schule möchte bewusst ein Gegengewicht zu den andern wettbewerbs- und vergleichsorientierten Schulen setzen. Schülerinnen und Schüler sollen Zeit haben, sie sollen sich an sich selbst und ihrem Potenzial und nicht an anderen messen, und sie sollen nicht ständig mit Tests, Prüfungen, Ranglisten konfrontiert sein. Ausser der Eintrittsprüfung gibt es deshalb keinerlei Prüfungen. Ausser einmal im Jahr am Sporttag wird nie eine Rangliste erstellt.
Die Schule ist überzeugt, dass sich keine Lernfreude einstellen kann, wenn man ständig für Prüfungen lernt, dass eigenständiges Denken, Kooperation, Kreativität und Gestaltungsfreude nicht entfaltet werden, wenn man ständig unter Wettbewerbsdruck steht, mit anderen verglichen wird und für Tests und Prüfungen büffeln muss.
Freiheit und Autonomie werden gross geschrieben. Schülerinnen und Schüler dürfen sich deshalb auch kleiden, wie sie wollen, es gibt keine Schuluniformen, das Färben der Haare ist erlaubt und niemand misst nach, ob der Jupe maximal eine Handbreit über dem Knie endet.
Die Schule muss sich ans nationale Curriculum halten, sonst würde sie nicht akkreditiert, sie legt das Curriculum wie mir scheint aber so grosszügig wie möglich aus.
Philosophie (c) Jiyunomori-Schule
Die Philosophie richtet sich
- gegen Wettbewerb, Rankings
- gegen Lernen für Tests, Prüfungen
Um das zu erreichen, orientiert sie sich an drei Pfeilern:
- der Unterricht verfolgt das Ziel des Verstehens, des Begreifens (nicht des Auswendiglernens). Dazu ist viel Zeit nötig
- Diese Zeit nimmt man sich beim Herstellen von „Werkstücken„, Schülerinnen und Schüler stellen etwas her, schreiben, führen etwas auf.
- Drittes zentrales Element sind die „Lernberichte„, die die Schülerinnen und Schüler verfassen. Sie beschreiben in diesen Berichten, die die Zeugnisse ersetzen für jedes Fach detailliert, was sie in diesem Jahr gelernt haben. Die Lehrpersonen lesen die Berichte eingehend durch und treten so mit ihren Anmerkungen und Anregungen in Dialog mit den Schülerinnen und Schülern.
Kooperation statt Konkurrenz
Verstehen und Begreifen
KreativitätWerkstück StuhlSchulberichte und Werkstück Auge
Der Schulleiter meint, er werde auch auf dem Rundgang nichts verstecken und das tut er auch nicht. Während viele Schülerinnen und Schüler engagiert am Lernen sind, dösen andere vor sich hin oder schlafen. Ja, alles brauche seine Zeit, meint der Schulleiter, am Anfang der sechs Jahre seien sich viele diese Freiheit nicht gewohnt und nutzten sie auch aus, manchmal sei Chaos. Aber die Klassen seien sich selbst ein gutes Korrektiv und wenn man niemanden dränge, würden bald alle mitmachen. Und wenn jemand mal nicht komme, weil er noch im Fluss am Schwimmen sei, so sei das für ihn wohl wichtig.
In einigen Räumen ist auch zu sehen, dass die Schule unter Geldmangel leidet, die Infrastruktur ist nicht so gut, wie ich sie an den Universitätsschulen gesehen habe.
Ein Werkstück zu machen, heisst im zweiten Oberstufenjahr dann z.B. einen Stuhl herzustellen. Das geht vom Fällen des Baumes bis zum fertigen Stuhl.
Auch bei den Textilien wird gleich vorgegangen, Wolle gekardet, mit Rädern und Spindeln, gesponnen, gefilzt und gefärbt, bis schliesslich ein Pullover entsteht.
Werkstück im textilen Werken. Letztes Bild (c) Jiyunomori-Schule
Das Verhältnis der Jugendlichen zu den Lehrpersonen ist gut, man arbeitet gemeinsam an Projekten, reibt sich manchmal aneinander, zieht sich auch manchmal auch auf. Der kleinere Lohn als an der öffentlichen Schule wird durch mehr Freiheiten, die die Lehrpersonen haben aufgewogen.
Beim Eintritt nach der sechsten Klasse gibt es einerseits eine konventionelle Prüfung in Japanisch und Mathematik. Wesentliche Prüfungsteile sind aber das Mitmachen in einigen Lektionen, zu denen die Schülerinnen und Schüler dann einen Bericht schreiben und mit Kolleginnen und Kollegen darüber diskutieren müssen. Eine Art Assessment-Setting. Ich bringe die Aufnahmequote nicht in Erfahrung, Nae meint aber, dass wohl ein hoher Prozentsatz aufgenommen würde.
Ein Übertritt an eine nationale Universität nach der Jionomory-Schule ist schwierig, der Schnitt von der Wettbewerbslosigkeit in die grosse Konkurrenz ist dann doch zu hart. Viele private Universitäten nehmend die Abgängerinnen und Abgänger aber gerne auf, da es sich um sehr selbständige, kreative junge Leute handelt.
Ich bin froh, dieses Gegengewicht erlebt zu haben, wieder einmal eine mit viel Idealismus geführte Reformschule gesehen zu haben.
Dann ist Zeit, selbst in eine Sushi-Restaurant zu gehen und die Fisch-Reis-Seegras-Rollen vom Förderband zu fischen – dann haben sie aber meist schon einige Runden von Tisch zu Tisch hinter sich und sind nicht mehr so frisch. Besser man bestellt sie auf einem Touchscreen. Dann kommen sie nämlich auf einem zweiten Förderband per Spielzeugferrari genau zu unserem Tisch angerast und sind frischer…
Heute ist mir das Land wieder sehr sympathisch.