Am frühen Morgen spaziere ich etwas durch das noch sehr verschlafene Dorf. Es ist sibirisch kalt so kurz vor Sonnenaufgang, wird im Laufe des Tages aber frühlingshaft warm werden. Gestern Abend hatten wir die letzten Teigtaschen der Saison gegessen. Eine Art Tortellini, die im Herbst zubereitet und dann den ganzen Winter über in einem Schrank aufbewahrt werden. Da das Thermometer nie über null Grad klettert, halten die Vorräte vom Herbst so den ganzen Winter.
Früher hat man dann im Frühling eine Grube oder eine kleine Hütte im Hof mit Eis gefüllt, sie mit Sägespänen isoliert und die Esswaren über den Sommer darin aufbewahrt. Bis im Herbst sei nie alles Eis geschmolzen gewesen. Seit der Elektrifizierung benutzt man aber elektrische Kühlschränke.
Nach dem Frühstück machen wir uns auf den Weg auf den „Schamanenberg“. Schamanismus war bei den Turkvölkern Sibiriens und der Mongolei verbreitet. Er wurde in der Sowjetunion verboten, sei aber, meint Ivan, noch lange im Geheimen praktiziert worden. Der letzte Schamane von Bolschoje Goloustnoje und damit auch all das Wissen sei irgendwann während der Sowjetzeit gestorben. Schamanenrituale werden zwar unterdessen wieder praktiziert, durch die Rekonstruktion der Traditionen haben aber z.T. deutliche inhaltliche Veränderungen stattgefunden. Es gibt eine 2012 an der Uni Wien geschriebene ethnologische Diplomarbeit darüber: „Der Wandel des Schamanismus in Burjatien.“
Die Burjaten glaubten, dass Tiere und Bäume ebenso wie die Menschen beseelt seien. Der Wald, die Berge, die Seen, Flüsse, Felsen und Bäume besitzen alle ihre Geister (Seelen), und sollen dafür geachtet werden, dass sie den Menschen Geschenke in Form von Nahrung und Schutz bieten. Der Schamane kennt die Welt dieser Geistwesen, seine Aufgabe ist, das Gleichgewicht in dieser Welt zu wahren bzw. wieder herzustellen. Er vermittelt zwischen Menschen und den anderen Geistwesen (vgl. face-music.ch) bzw. gemäss Ivan schaut er z.B. dazu, dass diese zu ihrer Nahrung kommen (früher musste sie weiss sein, d.h. Reis und Milch, heute wird auch Wodka als weiss akzeptiert). Ivan erzählt auch, dass ein Schamane ebenfalls einen Geist besitze, der in einer bestimmten Hierarchie verortet sei. Je nach dem bitte er also – falls sein Geist hierarchisch unterlegen ist – Geister, die z.B. eine Krankheit verursacht haben, doch diesen Menschen zu verlassen bzw. – falls sein Geist hierarchisch überlegen ist – befiehlt er ihnen, wegzugehen.
Das Ganze ist natürlich ungleich komplexer. Aber beim Hinaufklettern auf den Weissen Berg, der einen ziemlich mächtigen Geist besitzt (allerdings nicht so mächtig wie derjenige der Olchon-Insel im Baikalsee), kann ich mich nicht nur auf den Schamanismus, sondern muss mich auch noch etwas auf den Weg konzentrieren, der zum Teil auf dem Grat verläuft.
Die Bergwanderung lohnt sich sehr – von hier oben ist klar, warum das Dorf „nackte Mündung“ heisst und man sieht weit über den Baikalsee. Es gibt auch wieder eine Fichte mit farbigen Bändern. Früher riss man etwas von seiner Kleidung ab und knüpfte sie an diese „heiligen Bäume“, wenn man dem Geist des Berges sonst nichts opfern konnte.
Danach wandern wir durch den Nationalpark, die ersten Schmetterlinge fliegen, wir sehen Rebhühner und hören verschiedene andere Vögel. Zu weit möchte Ivan allerdings nicht wandern. Im letzten Herbst ist er hier zwei Bären begegnet und er meint, jetzt im Frühling könne das sehr gefährlich werden, die Bären seien noch schläfrig und aggressiv, weil sie noch hungrig seien. Wir machen ein Feuer und braten Würste und Käse. Ich meine zu Ivan, es sei ihm eigentlich ideal gelungen, sein Outdoor-Hobby zum Beruf zu machen. Er erzählt, dass das nicht so einfach gewesen sei. Er hat Geografie und Touristik studiert. Nach der Uni hätte er als Geograf eine Stelle als Lehrer übernehmen können, aber dort verdiene man sehr schlecht. Er habe dann zwei Jahre als Verkäufer gearbeitet, bis er eine Stelle in der Touristikbranche fand. Dort gebe es aber fast nur im Sommer genügend Aufträge, so dass er sich im Winter als „Industriekletterer“ anstellen liess. Er kletterte also in Yakutien (Nordsibirien) bei -47 Grad auf Masten, um Sender für den Funkverkehr entlang der Pipeline oder Handyantennen zu montieren. Man könne bei dieser Kälte maximal 20 Minuten draussen arbeiten, danach müsse man sich im auf 50 Grad hochgeheizten Wohnmobil wieder aufwärmen, bevor man die 70 Meter erneut hochklettern und wieder 20 Minuten arbeiten könne. Hobby würde er das nicht nennen…
Vor dem Nachtessen nehmen wir dann noch eine Banja. Ich habe heute auf den Wanderungen immer Schritt gehalten mit Ivan. Jetzt meint er wahrscheinlich, ich könne schon etwas ertragen. Im Wikipedia steht „Die russische Banja ist im Gegensatz zur finnischen Sauna wesentlich heisser. Die Temperaturen in einer russischen Banja können deutlich über 100° C betragen.“ Das kann ich nur bestätigen.