Schamanenberg und Banja

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Am frühen Morgen spaziere ich etwas durch das noch sehr verschlafene Dorf. Es ist sibirisch kalt so kurz vor Sonnenaufgang, wird im Laufe des Tages aber frühlingshaft warm werden. Gestern Abend hatten wir die letzten Teigtaschen der Saison gegessen. Eine Art Tortellini, die im Herbst zubereitet und dann den ganzen Winter über in einem Schrank aufbewahrt werden. Da das Thermometer nie über null Grad klettert, halten die Vorräte vom Herbst so den ganzen Winter.
Früher hat man dann im Frühling eine Grube oder eine kleine Hütte im Hof mit Eis gefüllt, sie mit Sägespänen isoliert und die Esswaren über den Sommer darin aufbewahrt. Bis im Herbst sei nie alles Eis geschmolzen gewesen. Seit der Elektrifizierung benutzt man aber elektrische Kühlschränke.
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Nach dem Frühstück machen wir uns auf den Weg auf den „Schamanenberg“. Schamanismus war bei den Turkvölkern Sibiriens und der Mongolei verbreitet. Er wurde in der Sowjetunion verboten, sei aber, meint Ivan, noch lange im Geheimen praktiziert worden. Der letzte Schamane von Bolschoje Goloustnoje und damit auch all das Wissen sei irgendwann während der Sowjetzeit gestorben. Schamanenrituale werden zwar unterdessen wieder praktiziert, durch die Rekonstruktion der Traditionen haben aber z.T. deutliche inhaltliche Veränderungen stattgefunden. Es gibt eine 2012 an der Uni Wien geschriebene ethnologische Diplomarbeit darüber: „Der Wandel des Schamanismus in Burjatien.“
Die Burjaten glaubten, dass Tiere und Bäume ebenso wie die Menschen beseelt seien. Der Wald, die Berge, die Seen, Flüsse, Felsen und Bäume besitzen alle ihre Geister (Seelen), und sollen dafür geachtet werden, dass sie den Menschen Geschenke in Form von Nahrung und Schutz bieten. Der Schamane kennt die Welt dieser Geistwesen, seine Aufgabe ist, das Gleichgewicht in dieser Welt zu wahren bzw. wieder herzustellen. Er vermittelt zwischen Menschen und den anderen Geistwesen (vgl. face-music.ch) bzw. gemäss Ivan schaut er z.B. dazu, dass diese zu ihrer Nahrung kommen (früher musste sie weiss sein, d.h. Reis und Milch, heute wird auch Wodka als weiss akzeptiert). Ivan erzählt auch, dass ein Schamane ebenfalls einen Geist besitze, der in einer bestimmten Hierarchie verortet sei. Je nach dem bitte er also – falls sein Geist hierarchisch unterlegen ist – Geister, die z.B. eine Krankheit verursacht haben, doch diesen Menschen zu verlassen bzw. – falls sein Geist hierarchisch überlegen ist – befiehlt er ihnen, wegzugehen.
Das Ganze ist natürlich ungleich komplexer. Aber beim Hinaufklettern auf den Weissen Berg, der einen ziemlich mächtigen Geist besitzt (allerdings nicht so mächtig wie derjenige der Olchon-Insel im Baikalsee), kann ich mich nicht nur auf den Schamanismus, sondern muss mich auch noch etwas auf den Weg konzentrieren, der zum Teil auf dem Grat verläuft.
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Die Bergwanderung lohnt sich sehr – von hier oben ist klar, warum das Dorf „nackte Mündung“ heisst und man sieht weit über den Baikalsee. Es gibt auch wieder eine Fichte mit farbigen Bändern. Früher riss man etwas von seiner Kleidung ab und knüpfte sie an diese „heiligen Bäume“, wenn man dem Geist des Berges sonst nichts opfern konnte.

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Danach wandern wir durch den Nationalpark, die ersten Schmetterlinge fliegen, wir sehen Rebhühner und hören verschiedene andere Vögel. Zu weit möchte Ivan allerdings nicht wandern. Im letzten Herbst ist er hier zwei Bären begegnet und er meint, jetzt im Frühling könne das sehr gefährlich werden, die Bären seien noch schläfrig und aggressiv, weil sie noch hungrig seien. Wir machen ein Feuer und braten Würste und Käse. Ich meine zu Ivan, es sei ihm eigentlich ideal gelungen, sein Outdoor-Hobby zum Beruf zu machen. Er erzählt, dass das nicht so einfach gewesen sei. Er hat Geografie und Touristik studiert. Nach der Uni hätte er als Geograf eine Stelle als Lehrer übernehmen können, aber dort verdiene man sehr schlecht. Er habe dann zwei Jahre als Verkäufer gearbeitet, bis er eine Stelle in der Touristikbranche fand. Dort gebe es aber fast nur im Sommer genügend Aufträge, so dass er sich im Winter als „Industriekletterer“ anstellen liess. Er kletterte also in Yakutien (Nordsibirien) bei -47 Grad auf Masten, um Sender für den Funkverkehr entlang der Pipeline oder Handyantennen zu montieren. Man könne bei dieser Kälte maximal 20 Minuten draussen arbeiten, danach müsse man sich im auf 50 Grad hochgeheizten Wohnmobil wieder aufwärmen, bevor man die 70 Meter erneut hochklettern und wieder 20 Minuten arbeiten könne. Hobby würde er das nicht nennen…
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Vor dem Nachtessen nehmen wir dann noch eine Banja. Ich habe heute auf den Wanderungen immer Schritt gehalten mit Ivan. Jetzt meint er wahrscheinlich, ich könne schon etwas ertragen. Im Wikipedia steht „Die russische Banja ist im Gegensatz zur finnischen Sauna wesentlich heisser. Die Temperaturen in einer russischen Banja können deutlich über 100° C betragen.“ Das kann ich nur bestätigen.

Am Baikalsee

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Am Bahnhof Irkutsk holt mich ein weiterer Ivan (Ivan II. ?) ab. Wir fahren mit dem Minibus nach Bolschoje Goloustnoje am westlichen Ufer des Baikalsees. Rund zwei Stunden über eine Piste durch die Taiga. Es liegt kaum noch Schnee. Weil die Gegend ohnehin niederschlagsarm ist, ist die Gefahr von Waldbränden gross und wir durchfahren auch grosse Gebiete mit gespenstisch schwarzen Baumskeletten.
Bolschoje Goloustnoje, übersetzt heisst das „die grosse nackte Mündung“, weil die Gegend, in der der Fluss in einem kleinen Delta in den Baikalsee fliesst, nicht bewaldet ist. Galina, die ehemalige Dorfschullehrerin vermietet einige Zimmer an Touristen. Sie und Ivan berichten über die Vergangenheit des Dorfes und Ivan kennt sich gut in der Geografie und Geologie des Baikalsees aus. (Vgl. die Website von Robert Pudwill: Geographie, Geologie, die indigenen Burjaten). In der Gegend des Dorfes siedelten schon lange Burjaten, bevor vor 340 Jahren hier russische Siedler ein Dorf gründeten. Sie lebten weitgehend von Land- und Forstwirtschaft, in Sowjetzeiten in Kolchosen organisiert. 1961 wurde der Baikalsee gestaut, die Wasserlinie stieg, weshalb das Dorf vom Ufer weg verlegt werden musste. Problematischer war aber für die Einwohnerinnen und Einwohner, als 1986 der ganze Südwesten des Baikalsees zu einem Nationalpark umgezont wurde. Bis dahin hatte man von Landwirtschaft, Forstwirtschaft und vom Flössen über den Baikalsee gut gelebt. In der Gegend wurde viel Holz geschlagen, die Stämme wurden dann zu riesigen Flossen zusammengebunden und zur dortigen Weiterverarbeitung über den See geführt. Mit der Umzonung (noch zu Sowjetzeiten) war das jetzt nicht mehr möglich. Viele Einwohnerinnen und Einwohner zogen weg, denn der erhoffte Tourismus liess auf sich warten. Die Misere wurde durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und die anschliessende Geldentwertung massiv verschärft. Niemand hatte mehr Geld und Arbeit gab es auch keine mehr, das Dorf entvölkerte sich noch mehr.
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Die Ernährung der verbleibenden Bevölkerung konnte durch die nun selbst betriebene Landwirtschaft nur knapp gesichert werden, die Kolchosen waren ja auch aufgehoben worden, viel ehemaliges Kolchosenland ist heute noch unbebaut. Um zu etwas Geld zu kommen und Einkäufe für den täglichen Bedarf machen zu können, begann man, nicht mehr nur für den Eigenbedarf zu fischen, sondern auch für den Verkauf (und auch – bis heute – Fischarten, die man nicht in diesem Ausmass hätte fischen dürfen).
Die Lage normalisierte sich erst ab dem Jahr 2000 langsam wieder, allerdings nicht mehr auf dem Niveau von vor 1986. 20140330-205918.jpg
Wasser wird nach wie vor aus Ziehbrunnen bezogen, eine Kanalisation gibt es keine (gab es übrigens auch in Lisas Haus in Novosibirsk nicht).
20140330-205051.jpgDie Schule hatte zu Sowjetzeiten etwa 400 Schülerinnen und Schüler. Heute hat das Dorf nur noch 600 Einwohner insgesamt. Die Schule umfasst aber, wie überall, nach wie vor 11 Klassen. Sie hat noch 56 Schülerinnen und Schüler und insgesamt 15 Lehrpersonen. Notgedrungen müssen die Lehrpersonen Fächergruppen (als z.B. Mathematik, Physik und Chemie) unterrichten, was Galina und Ivan schwierig finden. Man könne doch kein Universalgelehrter sein, das gebe es nur bei Jules Verne.
Grund für die früher hohe Anzahl Schülerinnen und Schüler war auch, dass die Burjaten in der Regel sehr kinderreiche Familien hatten, 8 Kinder seien keine Seltenheit gewesen. Aber auch das habe geändert. Um die Kinderzahl wieder zu erhöhen, unterstützt der Staat deshalb bis 2016 Familien, die zwei und mehr Kinder haben mit 400’000 Rubel, die zweckgebunden (Pensionskasse der Mutter, Kauf von Wohneigentum u.a.) eingesetzt werden müssen.
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Am Nachmittag mache ich mit Ivan eine kleine Wanderung, zuerst auf die das Dorf umgebenden Hügel, dann über die gefrorene (aber ohne Begleitung heikle) Bucht zu einer kleinen Kirche auf einer Landzunge. Die Einheimischen und Ausflügler aus Irkutsk sind am Eisfischen.
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Zu dieser Jahreszeit ist das Motorrad mit Seitenwagen das bevorzugte Vehikel für das Eisfischen. Man sieht deshalb viele solche Maschinen in Bolschoje Goloustnoje. Um das nicht mehr dicke Eis zu befahren, ist es wichtig, dass sie das Gewicht relativ gut verteilen und sie bieten auch genügend Platz, um den Fischfang nach Hause zu transportieren.
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Wenn es kälter ist, fährt alles mit dem Auto auf den See, obwohl es eigentlich nur eine offizielle Strasse gibt, die dieses Jahr bereits Mitte Februar wieder geschlossen werden musste. Die Städter aus Irkutsk würden jedes Jahr mehrere Autos im See versenken, weil sie keine Ahnung hätten, wo durchfahren. Allerdings habe vor ein paar Wochen auch ein Einheimischer sein Auto so verloren, es sei halt einfach zu wenig kalt dieses Jahr. Nein, wegen der Trinkwasserreserve müsse ich mir keine Sorgen machen, der See verfüge über grosse Regenerationskräfte.
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Ivan hat an Abendkursen an der Sprachuni gut Deutsch gelernt und lernt von Touristen ständig dazu („telefonier nicht hier, das ist arschteuer“). Er ist ein Naturfreund, der es liebt, Trekkings zu machen und für den wohl so ein Warmdusch-Tourist wie ich einfach zum Broterwerb gehört. Er war bei der „Wende“ in der 3. Klasse und bedauerte es sehr, dass die Pioniere, auf die er sich gefreut hatte, abgeschafft wurden. Er bedauert, dass der Tourismus, wie er zu Sowjetzeiten selbstverständlich gewesen sei, mehr und mehr verloren geht. Damals seien alle mit ihren Zelten tagelang zu entfernten Seen oder heissen Quellen gewandert, hätten unterwegs an Feuern gekocht und erzählt und seien bei Ankunft dann in der Banja zusammengesessen. Heute werde nur noch der Komforttourismus gefördert. Die betuchten Touristen würden mit Helikoptern zu den warmen Quellen geflogen und dort seien landschaftsverschandelnde Hotels anstelle der früheren naturnahen Pionierherbergen entstanden.
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Birkenwälder und kleine Dörfer

Das erste Mal fahre ich jetzt auf der klassischen Strecke der transsibirischen Eisenbahn. Alles ist ein bisschen weniger improvisiert als auf den anderen Strecken. Auch die Geschwindigkeit des Zuges ist höher, ich schätze etwa 80 km/h.
Und es gibt – der einzige Abschnitt dieser Bahnreise – keine Zollkontrollen. Ich komme heute viel zum Lesen.
20140329-183020.jpgDer Frühling beginnt, Schneeschmelze und das Auftauen der Böden haben überall eingesetzt. Entlang der Bahnstrecke lose Birkenwälder, Fichtenwälder, viele kleine Dörfer, Forstwirtschaft.
20140329-183314.jpgGegen Mittag sind wir in Krasnojarsk, die beiden Frauen und der Mann, alle viel jünger als ich, die mit mir das Abteil geteilt haben, machen sich bereit zum Aussteigen. Der Trainingsanzug wird wieder gegen Business-Kleidung getauscht, die Frauen investieren viel Zeit in das Make-up, auch Schuhe werden geputzt und Stiefel gewichst. Mit einem до свидания! verabschieden sie sich.
20140329-183806.jpgDer neu zusteigende Mitreisende baut dann ein ganzes Medikamentenarsenal auf dem Abteiltisch auf. Dann löst er Kreuzworträtsel, trinkt Arzneien, schnäuzt und hustet. Ich hoffe, dass ich unterdessen einigermassen immun gegen sibirische Käfer bin…
Die Zeitverschiebung zu Zürich beträgt unterdessen schon acht Stunden. Morgen früh kommen wir in Irkutsk an. Danach möchte ich gleich weiter zum sicher noch gefrorenen Baikalsee. Mit einer Tiefe von 1637 Metern ist er der tiefste See der Welt und auch seine Länge von 636 km und seine Breite von 27 – 80 km sind beeindruckend. Hier liegen 20% der Süsswasservorräte der Erde.
In den ersten Jahren der Transsib wurden die Züge mit Fähren über den See gefahren.20140329-184225.jpg

Kunstmuseen, Ballett, Hochschulen

Der Novosibirsker Morgen ist grau in grau. Lisa macht Blinis, erzählt von der Ukraine, aus der sie kommt und wo Bruder und Eltern noch leben. Ausser Galizien, das früher zu Österreich-Ungarn gehörte, habe das Land praktisch die gleiche Kultur und Sprache wie Russland. Da gebe es keine Unterschiede. Was sich abspiele, sei ein Machtkampf der Eliten. Als Julia Timoschenko inhaftiert wurde, habe ihr das damals Leid getan, aber falls Julia die Wahlen gewonnen hätte, hätte sie einfach die Gegenseite unter Arrest gesetzt. Mit den Einwohnern des Landes habe dieser Konflikt herzlich wenig zu tun. Die hätten wirtschaftliche Probleme, weil diejenigen, die gerade am Ruder seien, ohnehin nur für sich schauten.
Dann balanciere ich zwischen Eisfeldern, Matsch und riesigen Dreckpfützen ins Zentrum. Wer etwas gebrechlich ist, kann sich hier im öffentlichen Raum nicht bewegen, auch wegen der vielen Treppen, hart schliessenden Türen zu den Metrostationen, wegen ihrer Höhe nicht überwindbaren Einstiege in die Eisenbahnwagen.
Die Museen öffnen erst um elf, vorher lese ich in einem der vielen – und teuren – Kaffees mit WiFi über das Bildungssystem – so ganz den Durchblick habe ich noch nicht.
Das Kunstmuseum ist gut bestückt mit russischen Gemälden, von Ikonen bis in die heutige Zeit. Es gibt viele Parallelen zu den westeuropäisch-amerikanischen Epochen und auch Zeitabschnitte mit kulturraumspezifischen Stilen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind auch historisch interessant. 20140329-140724.jpg20140329-140947.jpg
Roerich ist wieder gut vertreten, er sei ein rechter Gauner gewesen, meint Lisa und erst noch Vegetarier.
Die verschiedenen Kulturabteilungen der Botschaften unterstützen ebenfalls Ausstellungen. Im Moment finanziert Israel eine Ausstellung mit Grafiken des Holocaust-Überlebenden und durch den Film „Schindlers Liste“ bekannt gewordenen Joseph Baum (Nachruf im Guardian). Österreich bringt eine Ausstellung über die Malerin Hermine Kracher, die den Seewinkel im Grenzgebiet zwischen Oesterreich und Ungarn malt, eigentlich die erste zentralasiatische Steppe.
20140329-141145.jpgAm späteren Nachmittag hellt es etwas auf, das Lenindenkmal vor dem Wahrzeichen der Stadt, dem staatlichen Theater für Oper und Ballett sieht freundlicher aus. Ich besuche den Zentralmarkt, unzählige Händler verkaufen hier an fest installierten Ständen und in kleinen Butiken alles. Die sehr vielen Fruchtstände und Stände mit getrockneten Früchten geben dem Markt eine sehr farbige Note.
In der Nähe liegt auch die Dreifaltigkeitskirche.20140329-141557.jpg
Am frühen Abend gehe ich ins staatliche Theater für Oper und Ballett, um dieses grösste Theater Russlands, auf das alle stolz sind, auch von innen zu sehen. Das Theater wurde knapp vor dem zweiten Weltkrieg gebaut, es diente zunächst der Aufbewahrung all der aus Moskau evakuierten Kulturgüter und wurde als Theater deshalb erst 1945 eröffnet: Junona und Avos, eine Art Rockballett aus den frühen 1980-er Jahren: ein russischer Hochseekapitän, der in Kalifornien 35 Jahre lang eine Geliebte sitzen lässt, bis sie schliesslich Nonne wird. Eine eindrucksvolle Choreographie mit viel Kerzen und Farben, soweit ich das beurteilen kann auch gut getanzt. Die Zuschauer, auch die vielen Schülerinnen und Schüler haben sich alle schön angezogen und freuen sich, im Theater zu sein.
Bevor das Taxi mich abholt, sitze ich nochmals mit Lisa und Ivan zusammen. Ivan hat meinen Blogeintrag über das Bildungssystem gelesen, wo ich auch eine Bemerkung über die Gefahr von korruptionsnahen Praktiken bei Wiederholungsprüfungen gemacht habe. Ich habe mich dabei an einen Beitrag in den von der Uni Bremen publizierten Russlandanalysen (PDF) erinnert, den ich heute Morgen im Kaffee runtergeladen habe. Ivan betont, dass er während seiner ganzen Zeit als Student nie so etwas erlebt und auch nie davon gehört habe. An den Unis, die er kenne, komme das nicht vor. Es sei ein Problem, dass durch solche Berichte russische Studienabschlüsse im Westen abgewertet würden. In Unternehmerforen im Internet würde z.B. vor Doppelabschlüssen gewarnt, obwohl ein Doppelabschluss für Studierende eine enorme Anforderung bedeute. Lisa meint, sie möchte nicht zurück ins sowjetische System, aber damals sei es eindeutig gewesen, dass nur die leistungsmässig sehr guten Schülerinnen und Schüler einen Studienplatz bekommen hätten. Unterdessen sei der Studienzugang ja auch mit weniger guten Leistungen und dem Bezahlen von Studiengebühren möglich. Einige solche Studierenden hätten dann z.B. null Interesse, eine Fremdsprache zu lernen, wie es das Curriculum für die ersten beiden Studienjahre vorsehe. Ihr habe auch darum – und wegen der ganzen Bürokratie (kommt mir irgendwie bekannt vor…) – das Unterrichten an der Uni keinen Spass mehr gemacht. Ein Problem ist sicher die sehr hohe Studienquote (die beiden schätzen etwa 80% eines Jahrgangs). Ein duales Berufsbildungssystem kennt man wenig. Ausnahmen sind längere Praktika während der Masterphase oder die „Mittelhochschulen“, die auch mit praktischer Arbeit gekoppelt sind.
Aber Ivan hat sicher Recht. Ich nehme mir vor, vorsichtiger zu sein mit solchen Aussagen. Pauschalisierungen, die man (d.h. auch ich) halt gerne vornimmt, um sich in einem unbekannten System zurecht zu finden, führen auf Abwege und können diskreditierende Wirkungen haben.
Kurz nach 22 Uhr klingelt der Fahrer und bringt mich zum Bahnhof. Zug 12, Wagen 7, Liege 13. Zwei Nächte wird die Fahrt nach Irkutsk dauern. Ich tausche Lisas Stube nicht so gern gegen meinen Nachtzug. 20140329-142548.jpg

Tauwetter

20140328-000957.jpgManchmal staune ich, dass ich jetzt diese Reise mache. Als Jugendlicher hatte ich eine grosse Weltkarte über meinem Bett hängen. Oft verfolgte ich darauf die Route von Europa in den Fernen Osten. Novosibirsk, das lag etwa in der Mitte – ich sehe es noch vor mir auf der Karte. 1979 verunmöglichte mir die sowjetische Invasion in Afghanistan dann, auf dem Landweg nach Asien zu reisen und ich flog direkt nach Indien. Und jetzt bin ich wirklich hier, Novosibirsk, es nennt sich auch das Zentrum Asiens. Schön. Ein Privileg. Und irgendwie unwirklich.
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Die „wegelose Zeit“ nannte man das Tauwetter in Sibirien. Wenn all die Naturwege zu Matsch werden, das Eis auf den Seen nicht mehr überquert werden kann, dann kommt man kaum noch von einem Ort zum anderen. Aber auch in der Grossstadt herrscht ein grosser Matsch und Dreck. Die Leute balancieren zwischen riesigen Pfützen, Eisflächen und Dreck.

20140328-001356.jpg20140328-001448.jpgIch besuche das Museum der Transsibirischen Eisenbahn. Der Mann an der Eingangstür, dessen einziges Fremdwort das deutsche „Ausweis!“ ist, lässt es meinetwegen extra öffnen, auch wenn ich lediglich eine Passkopie dabei habe und er mir meine Erklärung, der Pass sei im „Hotel Lisa“ nicht wirklich abnimmt. Aber – die Rolle ist für mich neu – die komischen Vögel kurz vor dem Rentenalter halten zusammen und lachen miteinander, als die Angestellte das Museum aufschliesst. Einige interessante Ausstellungsstücke vom früheren Transport mit dem Schlitten über Brückenbau bis zu den verschiedenen Uniformen, die das Bahnpersonal trug.

20140328-001638.jpgAm Nachmittag komme ich am Roerich-Zentrum (Website, russisch) vorbei. Nicolas Roerich (Wikipedia), sein Frau Helena (do.) und ihre beiden Söhne (do.) kannte ich nicht. Mir scheint, ihm gelingt in seinen Bildern eine Synthese der hier aneinander grenzenden Kulturen aus dem Zentralasien, dem Himalaya, Indien und Russland. Ob das auch für den philosophischen Unterbau gilt, kann ich schwer beurteilen. Die Familie hat durch diese Weltgegend mehrjährige Expeditionen unternommen. Auch in diesem Museum bin ich der einzige Besucher, ein Mitarbeiter nimmt sich zwei Stunden Zeit, um mir alles zu zeigen.

20140328-002226.jpgAm Abend nehmen mich die ältere Tochter Lisas, Aleksandra und Ivan mit zu einem Konzert mit keltischer Musik in einem verrauchten Klub. Die jüngere Tochter spielt Dudelsack und die verschiedensten Flöten. Etwa vier Gruppen, die Formationen wechseln ständig, spielen vom Irischen Folk bis zu ziemlich hartem Irischen Rock ein sehr gutes Programm. Viel Spielfreude und sehr hohes Niveau, man vergisst völlig, dass wir in Novosibirsk und nicht in Skibereen oder Dublin sind.

Akademgorodok

He Gans! meint Samir in der Nacht und gibt mir zu verstehen, dass wir jetzt wieder das Abteil wechseln müssen, weil Neueinsteigende auf ihrem Abteil beharren. Das H können die Russen kaum aussprechen und Hans-Jürg finden sie auch ziemlich schwierig, ich bin also meist „Gans“. Und Gans zügelt natürlich bereitwillig auch mitten in der Nacht seine Siebensachen ins nächste Coupé.
Wenn sich das Licht im Abteil verändert und ich erwache, ist das meist, weil wir einen langen Containerzug kreuzen. Computer und andere Waren aus China auf dem Weg nach Europa. Diesen Weg muss vor einigen Monaten auch mein iPad von China in die Schweiz genommen haben (vgl. das interessante Feature der New York Times über die New Silk Road)
Novosibirsk, die Hauptstadt Sibiriens empfängt mich am Morgen mit Schneetreiben und Schneematsch. Die Stadt zählt rund 1.5 Mio Einwohner. Sie wurde beim Bau der Transsibirischen Eisenbahn westlich des Ob‘ gegründet, weil man das Gebiet als für die Brücke über den Ob‘ geeignet ansah. Östlich hätten, wie mir heute Ivan, ein Indigener aus Nordsibirien erzählt, schon immer „Ureinwohner“ („ja, wir nennen uns so“) gewohnt.
Untergebracht bin ich bei Lisa, Deutschlehrerin und Fremdenführerin, in einem der letzten kleinen Holzhäuser im Zentrum von Novosibirsk. 20140326-222947.jpgIvan wohnt auch hier, er studiert an der hiesigen Technischen Universität Elektroingenieur, hat kürzlich ein jähriges Praktikum in Regensburg abgeschlossen und spricht besser Deutsch als ich.
Seine Mutter ist Direktorin einer Schule in Yakutsk, vier Flugstunden entfernt, im Norden Sibiriens. Er kennt Hochschulwesen und Volksschule bestens, begleitet mich den ganzen Tag und gibt mir unermüdlich Auskunft.
Mit Metro und Bus fahren wir Richtung Akademgorodok, übersetzt dem „Städtchen der Wissenschaft“.
Auf dem Weg sehen wir uns aber noch das Eisenbahnmuseum an, in dem Lokomotiven und Rollmaterial aus allen Zeiten der russischen Eisenbahngeschichte stehen.
20140326-223059.jpgAuch ein Gefängniswagen ist zu sehen, mit dem bis 1969 Gefangene in den Gulag transportiert wurden.
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Danach bringt uns der Bus nach Akademgorodok. Es ist weit mehr als ein Städtchen, sondern eine Universitätsstadt, etwas Dreiviertelstunden von Novosibirsk entfernt. Wenn man sich die – nie höher als die Birken gebauten – Plattenbauten wegdenkt und Backsteingebäude hinzu, könnte man auch an einer Ostküstenuni der USA sein.
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Akademgorodok entstand 1957 als sibirischer Standort der Akademie der Wissenschaften. Hier sind unterdessen vierzehn wissenschaftliche Institute und die Novosibirsker Universität angesiedelt. Der Campus steht in einem Birkenwald am Rand des riesigen Stausees, der Obsker Meer genannt wird. Etwa 70’000 Einwohner leben in diesem Wissenschaftsstädtchen, das eine offene, internationale Atmosphäre mit vielen Kaffees mit WiFi, kulturellen Veranstaltungen, studentischen Treffpunkten ausstrahlt. Die Institute und die Uni hier haben einen guten Ruf, man spricht vom Silicon Valley des Ostens.20140326-223707.jpg
Ivan erklärt mir das Hochschulsystem aus seiner Sicht. Mit 17/18 Jahren endet die für alle obligatorische 11-jährige Schulzeit mit einer Schulabschlussprüfung, auf die man sich die zwei Jahre vor Abschluss in der Schule und mit Nachhilfestunden intensiv vorbereitet. Die Abschlussprüfung entscheidet darüber, an welche Hochschulen man zugelassen wird und vor allem auch, ob man die Hochschule gebührenfrei besuchen kann oder eine für viele prohibitive Studiengebühr bezahlen muss. Sie beträgt etwa 500 Euro pro Semester, ist für die meisten Einkommen also sehr hoch. Die Elitehochschulen wie die Lomonosov-Universität in Moskau haben das Privileg, diese Schulabschlussprüfungen nicht anzuerkennen (weil die Lehrpersonen ja geholfen haben könnten, abschreiben möglich ist usw.), diese Unis dürfen eigene Aufnahmeprüfungen durchführen. Neben den Hochschulen kann man auch eine „Mittelhochschule“ absolvieren, die z.B. Krankenpflegende, Handwerker/innen usw. ausbilden und von denen Passerellen in die Universitäten bestehen.
20140326-223812.jpgBei den Zwischenprüfungen an der Uni besteht immer die Gefahr, dass man sein Stipendium (das mit der Gebührenbefreiung einhergeht) oder im schlechtesten Fall sogar die Gebührenbefreiung verliert. Man kann die Zwischenprüfungen aber wiederholen, die Professoren legen den Wiederholungstermin jeweils autonom fest. (Solche Wiederholungen, davon sagt Ivan nichts, können natürlich eine Eingangstüre für an Korruption grenzende Nachhilfestunden sein, die dann zur Vorbereitung der Wiederholungsprüfung genommen werden müssen).
Interessant ist, dass die Ergebnisse der Zwischenprüfungen in der Regel einen Tag später bekannt sind. Ivan konnte es in Deutschland kaum glauben, dass die Korrekturen drei bis vier Wochen dauerten.
Momentan werden auch in Russland ECTS- und Bolognasystem eingeführt. An der Technischen Uni wurde der Diplomstudiengang zu Gunsten von Bachelor- (4 Jahre) und Masterstudiengängen (2 Jahre) abgeschafft.
Bologna heisst aber nicht, dass ein dreistufiges System von Studienabschlüssen eingeführt würde, das vierstufige System mit dem Titel „Kandidat“, für den auch 3 – 5 Jahre investiert werden müssen und erst dann dem Doktorat soll beibehalten werden.
Die Lehrpersonen werden an Pädagogischen Universitäten ausgebildet. Nach dem Mittelschulabschluss dauert das in der Regel 5 Jahre. Weil auch in Russland eher Lehrpersonenmangel herrscht, könne man „nicht richtig streng sein“. Schon in den unteren Klassen gibt es ein Fachlehrersystem. In den Naturwissenschaften ist es sehr schwierig, überhaupt Lehrpersonen zu finden, man macht deshalb bei den Anstellungen verschiedenste Kompromisse.
Besondere Schwierigkeiten haben die ländlichen Gebiete wie z.B. Nordsibirien, man versucht deshalb die Lehrpersonen mit Prämien in solche Gebiete zu ziehen und sie dort zu halten. Es gibt z.B. einen „nördlichen Koeffizient“, d.h. je schwieriger die Lebensbedingungen, desto höher der Lohn. Zusätzlich gibt es weitere Prämien, wer es z.B. 5 Jahre als Lehrerin oder Lehrer in Nordsibirien ausgehalten hat, bekommt einen erheblichen Zuschuss, um sich dort eine Wohnung zu kaufen.
Auch in anderen Berufen ist es schwierig, die Leute auf dem Land zu halten. Obwohl z.B. Fachleute für „Mining“ gesucht sind (Kohle, Gas, Erdöl, Diamanten) findet eine Wanderbewegung Richtung grosse Städte wie Novosibirsk statt.

Nach unserer Besichtigungstour durch Akademgorodok trinken wir einen Kaffee. Ivan erzählt, wie schwierig es mit der Bürokratie an seiner Uni gewesen sein, bis er das Praktikum in Deutschland habe machen können. Und dann erzählt er auch noch ein Müsterchen über die Schweiz. Er hätte auch noch die Möglichkeit eines Praktikums in einer Firma in Basel gehabt. Dort hätte er freie Unterkunft gehabt und 500 Franken pro Monat verdient. Um die Stempel der kantonalen und eidgenössischen Migrationsbehörden zu bekommen, hätte er aber 2000 Franken verdienen müssen. Er habe dann die Firma angefragt, ob sie ihn bei den Ämtern unterstützen könnten, damit er die Bewilligung trotzdem bekomme. Die Auskunft lautete: Nein, wir setzen auf Eigeninitiative. Es ist ihm dann gelungen, den Nachweis zu erbringen, dass er über genügend Mittel verfügt, aber jetzt hätte die Firma gemäss einem Stagiere-Abkommen beweisen müssen, dass sie keinen gleichwertigen Kandidaten aus dem Inland (bzw. damals wohl aus dem EU-Raum) hatte. Ivan hat sich dann für das Praktikum in Bayern entschieden, er hat dort mehr verdient und wurde in jeder Beziehung von Firma und Ämtern bestens unterstützt. Unser Bild im Ausland gibt mir schon zu denken, die einen lachen, wenn sie Schweiz hören und sagen „Oh, Bank, Bank“ oder „Milliarda“, die anderen machen solche Erfahrungen.

Anschliessend sehen wir uns das Obsker Meer an, das Kraftwerk generiert zwar viel Strom, aber das Ökosystem wurde durch viele Überschwemmungen, Klimawechsel usw. gehörig durcheinander gebracht.
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Interessant auch die russische Tagesschau – für einmal übersetzt durch Ivan. Es ist eine fast hundertprozentig andere Geschichte, die über die Ukraine erzählt wird als diejenige, die ich in den Schweizer Zeitungen lese. Ivan, der auch denkt, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt, versteht nicht, dass die westlichen Sender so personifizieren. Man höre immer nur Putin, Putin, Putin. Es sie aber überhaupt nicht nur der Präsident, der so denke und die Richtung vorgebe.

Durch Kasachstan nach Sibirien

20140325-220112.jpgWieder in der kasachischen Eisenbahn. Mit mir im Abteil fahren eine junge, rundliche Kasachin, die die eher störende Angewohnheit hat, auch mitten in der Nacht sehr laut zu telefonieren und Adlet, ein 28-jähriger – auch etwas rundlicher – Banker. Er hilft mir, das Bett zu machen, es sei eine kasachische Tradition, den alten Leuten zu helfen…
Adlet ist eigentlich aus Almaty, muss jetzt aber, um bei seiner russischen Bank Karriere zu machen, zwei, drei Jahre auf dem Aussenposten in Semey, nahe der russischen Grenze arbeiten. Frau und Kinder (ein- und siebenjährig) bleiben in Almaty, er besuche sie so alle zwei Monate. Ferien habe man in der Privatwirtschaft 24 Tage, Regierungsangestellte hätten zwei Monate.
Am Morgen ist die Steppe wieder leicht schneebedeckt. Viel Schnee fällt aber nie, die Gegend ist sehr niederschlagsarm und das Wasser verdunstet schnell.
Weil es draussen kalt aussieht, lässt sich der Wagenbegleiter nicht lumpen und heizt den Wagen auf 36 Grad hoch. Die Bahnwagen werden einzeln geheizt mit einem Kohlenofen pro Wagen, an den Ofen sind die Zentralheizungsröhren für die Abteile und der Samowar angeschlossen. Ich bin pflotschnass. scheine aber der einzige zu sein, der diese Hitze ungemütlich findet.20140325-220246.jpg
In Semey steigen meine Mitreisenden aus, Samir aus Tatarstan, der auch so aussieht, wie man sich einen Tataren vorstellt, steigt zu und begrüsst mich mit sehr kräftigem Handschlag. Er reagiert wie die meisten Menschen, denen ich in den Zügen begegne: sie meinen, ich hätte ein ähnliches Schicksal wie sie und die Arbeit verschlage mich in so unwirtliche Gegenden. Dass ich Tourist bin, können sie nicht recht verstehen (falls sie Ferien haben und es sich leisten können, fliegen sie an einen Strand in der Türkei oder Malaysia). Dass ich alleine unterwegs bin, finden sie erst recht unverständlich.
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Richtung Grenze wird die Steppe ab und zu unterbrochen durch lichte Föhren- und Birkenwälder.
Unser Zug braucht gegen 5 Stunden für das Passieren der Grenze zwischen Kasachstan und Russland. In Kasachstan schnüffeln Hunde durch den Zug, alle Deckenverkleidungen werden wieder abgeschraubt und mit Teleskoptaschenlampen wird in alle Winkel geleuchtet. Die Pässe werden gescannt (Windows XP…), schliesslich fahren wir weiter zum russischen Grenzbahnhof, wo die gleichen Kontrollen nochmals vorgenommen werden. Schweizer scheinen hier sehr selten vorbeizukommen. Der nette Grenzbeamte kommt aus Kaliningrad, dem früheren Königsberg und kann recht gut Deutsch. Er muss mich nach Grund und Zielen dieser Reise befragen. Das dauert – aber er freut sich, dass mich der Osten interessiert. Den Schweizer Pass mit all den Kantonswahrzeichen findet er sehr schön und er bittet darum, ihn zu Weiterbildungszwecken auch den Kollegen zeigen zu dürfen. Dann verschwindet er damit und nach etwa einer Stunde beginne ich nervös zu werden – aber er bringt ihn dann mit guten Wünschen zurück.
Samir und ich müssen jetzt noch das Abteil wechseln, in unserem hat die Elektroinstallation das Aschrauben der Deckenverkleidung nicht überstanden, es brennt deshalb kein Licht mehr und unterdessen ist es dunkel geworden. Schliesslich fahren wir los, wir sind jetzt im Oblast Altay, in Sibirien.
20140325-220602.jpg Sibirien, dieses riesige Gebiet war ursprünglich sehr lose von einheimischen Völkern besiedelt. Von Russland aus erfolgte über viele Jahrhunderte eine „Sickerwanderung“ (zwischen 1670 und 1870 etwa 6 Millionen Einwanderer). Ab Mitte 19. Jh. wurden Bauern gezielt nach Sibirien umgesiedelt, um den Bevölkerungsdruck in den Schwarzerdegebieten zu begegnen (1871 – 1916 mehr als 9 Mio).
Mit der Transsib (erbaut 1892 – 1905) wurden solche Umsiedlungen einfacher – die Bahn ermöglichte aber auch den ab 1920 durch das Sowjetregime forcierten Abbau der Bodenschätze und die Industrialisierung. Die nächste Welle Umsiedler waren dann auch Bergleute, Bau- und Fabrikarbeiter, 8 Mio zwischen 1926 und 1956 (vgl. Goehrke, Strukturgeschichte S. 34 – 53, 217f.)
Noch etwa 13 Stunden bis Novosibirsk – es scheint eine kalte Nacht bevorzustehen, das Wagenpersonal ist schon wieder am Einheizen…

Bildung in Kasachstan

Vor meiner Abreise nach Russland versuche ich, mir einen Überblick über das kasachische Bildungssystem zu verschaffen. Einen Überblick geben das Osteuropa-Asienportal oder die kasachische Botschaft in Berlin.
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Ein Artikel in der Zeit entspricht allerdings eher den Eindrücken, die ich heute habe. Es ist zwar tatsächlich ein Anliegen des Regimes, Bildung zu fördern. Aufwind haben aber weniger die öffentlichen Einrichtungen als elitäre und teure Privatschulen, Nachhilfestudios usw.
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Die Privatschule Kekil, bei der ich vorbeigehe, gibt (per Google auf Deutsch übersetzt) einen guten Einblick in ihre Programme.

20140324-151911.jpgMit einer Abschlussklasse eines Gymnasiums fahre ich mit einer abenteuerlichen Seilbahn auf den Kok-Tobe, den Hausberg Almatys. Alle wollen nach Abschluss der obligatorischen 12 Schuljahre studieren, an möglichst prestigeträchtigen Universitäten, aber niemand will Lehrer werden. Mein Ansehen sinkt, als sie erfahren, dass ich Lehrpersonen ausbilde. „Ah, only education“, meint sogar ihr Lehrer. Neben dem geringen Ansehen des Lehrberufs liegt das Problem auch bei der Geringschätzung der beruflichen Ausbildung, wie z.B. die deutsche Fachstelle für internationale Jugendarbeit schreibt:
„Was jedoch fehlt ist eine entsprechende Wertschätzung und Anerkennung der beruflichen Ausbildung. Sie wird nicht als gleichwertig angesehen, sondern ist aktuell ein wenig attraktives „Nebengleis“ der Bildungsbemühungen.“
Man versucht zwar Gegensteuer zu geben (vgl. Deutsches Bundesinstitut für Berufsbildung BIBB, PDF), meine Gespräche mit den Mittelschülern und ihrem Lehrer stimmen mich aber skeptisch.

Mir wird auch wieder bewusst, wie wichtig internationale Anerkennung ist. Wenn Miss Universum den Kok-Tobe besucht, man die Winteruniversidade 2017 ausrichten kann, wird das überall stolz vermerkt.
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Ich nehme an, dass bis spätestens zur Universidade die Menschen in den ärmlichen Behausungen unter der Seilbahn weiter an den Stadtrand verdrängt werden.
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Und jetzt also wieder nach Russland. Ich verlasse Kasachstan mit einem eher optimistischen Gefühl, es scheint mir möglich, dass die Transition nach Naserbajew gelingt, die Gesellschaft ist verhältnismässig offen und inklusiv, Geld ist dank der Rohstoffe vorhanden, die junge Generation hat grossen Arbeitseifer und den Willen, das Land weiterzubringen.
In Usbekistan sehe ich das weniger optimistisch, dort ist bei einem Machtwechsel die Möglichkeit von weiteren und erheblichen Unruhen und/oder noch grösserer Unterdrückung und/oder religiös motivierten Zusammenstössen m.E. durchaus vorhanden. Es täte mir sehr Leid, ich wünsche diesen netten, fröhlichen, fleissigen Menschen eine schöne Zukunft mit Partizipation und Menschenrechten.
Aber solche Einschätzungen nach so kurzer Zeit und so punktuellen Eindrücken abzugeben, ist natürlich vermessen.
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Almaty

20140323-215502.jpgDas Hotel liegt in einem Wohnquartier. Vom Balkon aus sieht man die Gebirgsketten rund um Almaty, russisch Alma Ata, gut. Die Stadt wurde erst 1854 als Grenzfestung von Russland gegründet. Die auf Schlammlawinen folgenden Überschwemmungen zerstörten 1963 einen Grossteil der Stadt. Almaty war früher die Hauptstadt Kasachstans und wurde dann durch das im Norden des Landes in der Steppe neu (und geht man von den Fotos aus: kitschig-pompös) gebaute Astana abgelöst. Vermutlich ein richtiger Schachzug, damit sich auch der Norden des Landes mit Kasachstan identifiziert und nicht Verhältnisse wie in der Ostukraine entstehen.
20140323-220116.jpgIch gehe zur Kathedrale, die anfangs 20. Jahrhundert erbaut wurde. Es ist gerade ein Gottesdienst im Gang, goldene Messgewänder, Weihrauch, Einzug und dann wieder Auszug von Priestern und Diakonen. Kerzen, die von Messdienern auf hohen goldenen Stangen getragen werden. Das Abendmahl wird mit langen goldenen Löffeln gereicht, die Gemeinde singt, betet, bekreuzigt sich. Im Hintergrund all die Ikonen auf goldenem Grund. „Die Orthodoxe Kirche ist eine Kult- und Mysterienkirche. [ … ] Der Umgang mit Gott vollzieht sich im sakramentalen Handeln, in der Liturgie.“ zitiert Carsten Goehrke in seiner Strukturgeschichte (S. 367).
Ich muss auch an die in vielen Reiseführern erwähnte Entscheidung Wladimirs I. denken, 988 das Christentum nach byzantinischem Ritus als Staatsreligion in Russland einzuführen. Seine Experten, die Islam, Judentum und Christentum beobachtet hatten, empfahlen das Christentum nach byzantinischem Ritus mit folgender Begründung: „Wir wussten nicht, ob wir [beim Gottesdienst in Byzanz] im Himmel waren oder auf Erden. Denn auf Erden gibt es solche Schönheit nicht, und ihr, der Griechen, Gottesdienst ist besser als der in allen andern Ländern.“ (Ingold, Felix Philipp: Russische Wege. Zürich: NZZ, 2007. S. 390)

Danach schlendere ich durch die Stadt. Sie wirkt offener als Taschkent, man sieht keine Polizisten, viel kommerzielle Werbung neben der auch hier vorhandenen Staatswerbung (Präsident Nasarbajew wünscht auf riesigen Transparenten einen schönen Frühling, auf anderen preist er seine Strategie 2050 an).

20140323-220305.jpgEinzelne Strassenzüge erinnern mich an das Glattbrugg der frühen 1960-er Jahre. Im Parterre kleine Detailhandelsgeschäfte, in den oberen Stockwerken wird gewohnt. Auf der Strasse der Bus und einige Autos. (Unsere Tochter, die dieses Semester ein Seminar über Reiseberichte belegt, hat erzählt, dass solche Berichte mehr über die Autoren und ihre Herkunft aussagen als über das Land, über das berichtet wird. Das stimmt wahrscheinlich auch für diese Beobachtung.)

20140323-215306.jpgRussisch ist auch hier auf dem Rückzug, es hat (dem Aussehen und den Statistiken nach) aber viel mehr russischstämmige und Russisch sprechende Einwohner als in Usbekistan, wo viele das Land nach 1991 verliessen. Die Stadtbevölkerung hier wirkt auch städtisch, ganz anders als die wettergegerbten Leute mit ihren zerfurchten Gesichtern, die auf der Orenburgbahnstrecke in Kasachstan ein- und ausgestiegen sind. Ich lese bei Jürgen Paul, dass entlang der Orenburger Eisenbahn (Orenburg-Taschkent) und der Turksib, die ich die nächsten Tage befahren werde (Alma Ata – Novosibirsk) die verhungernden Nomaden 1931 Nahrung suchten. Dürre und die unmenschliche Politik der Sowjetregierung, die sie sesshaft machen wollte und sie zwang, die letzten Tiere und das letzte Getreide abzugeben, forderten damals etwa 1.4 Millionen Tote (Pos. 5238). Die überlebenden Kasachen wurden sesshaft, da es keine Alternative mehr gab, Neusiedler, Verbannte und Vertriebene wurden nach Kasachstan gebracht, was eine bis heute sehr multiethnische Bevölkerung ergab. Der Präsident legt seinen Eid auf den „multinationalen Staat“ Kasachstan ab.

20140323-220517.jpgDie Frühlingssonne wärmt, die letzten Schneehaufen schmelzen, viele Leute sitzen in den Strassencafés.

Obwohl Kasachstan seit 23 Jahren autokratisch von Naserbajew und seinen Leuten regiert wird, sind hier die Berührungsängste der Hochschulen kleiner als in Usbekistan, was ich bei der offenen, fast westlich geprägten Atmosphäre nachvollziehen kann. Es gibt z.B. eine Deutsch-Kasachische Universität und eine von Tony Blair und Nursultan Naserbajew initiierte kasachisch-britische technische Universität mit einem beeindruckenden Gebäude:20140323-215409.jpg

Was Timur für Usbekistan, ist der Goldene Mann (Mitte; ein Grabfund, ca. 500 v.Chr.) für Kasachstan. Hier scheinen sich aber – den Leuten, die sich vor seinem Denkmal fotografieren lassen nach zu schliessen – verschiedene Ethnien damit identifizieren zu können.20140323-221418.jpg

Auch im Nationalmuseum ist neben einem Saal zur kasachischen Kultur mit Jurten und allem, was dazu gehört auch ein Saal den anderen Ethnien gewidmet. Ihre Geschichte wird wie mir scheint recht unvoreingenommen gezeigt. Ein weiterer Saal über die Geschichte nach der Unabhängigkeit bringt aber auch viel Personenkult um Naserbajew.20140323-215141.jpg

Die Lemoncurdtorte im Strassenkaffee scheint nicht eine so gute Idee gewesen zu sein, zum Znacht gibt’s Coci und Schoggi – und morgen nehme ich dann den Zug nach Sibirien, wo ich am Mittwoch ankommen werde. Keine Ahnung, wie es dort mit Netzverbindung aussieht, ich werde in einer Gastfamilie wohnen.

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Hochschulen, Museen, Zöllner

20140323-000244.jpgAm Morgen komme ich an der usbekisch-deutschen Bauakademie vorbei. Eine gewisse Attraktivität, einen Hochschulableger in Usbekistan zu gründen, besteht sicherlich. Das Land hat einen starken Bedarf an gut ausgebildeten jungen Leuten und mir scheint auch ihr Wille, zu lernen, gross zu sein. Die Fremdsprachenkenntnisse vieler Menschen, denen ich begegne sind sehr gut und sie haben Freude sich in Englisch, Französisch und Deutsch zu unterhalten. Das Ganze ist aber ein Seiltanz zwischen Nutzen für die Zivilgesellschaft und Zusammenarbeit mit einem autokratischen Regime. Der Guardian fasst die Problematik (in Bezug auf UK-Universitäten) gut zusammen.

Die Schweiz hat vor allem Zusammenarbeit im Bereich der Berufsbildung gefördert (Länderfactsheet der DEZA (PDF), Infos über das Skills Development Project des DEZA (PDF) und des sdc-employment-income)

Durch die Monumentalbauten im neuen Zentrum finde ich zum Timur-Denkmal und zum bombastischen Timur-Museum. Interessant, wie an den Regierungsgebäuden Zitate (links) der unter Timur erstellten Medresen (rechts) in Samarkand angebracht sind:
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Timur wird als Nationalheld und Identifikationsfigur aufgebaut. Der Besuch des Museums ist für alle Schulklassen obligatorisch und heute am Samstag hat es viele Soldaten und Polizisten, die sich das Museum ansehen. Was hier vor sich geht, ist die Identitätskonstruktion eines noch jungen Landes, vergleichbar mit der Konstruktion der Schweiz mittels Rütlischwur-Mythos im vorletzten Jahrhundert. Jürgen Paul schreibt dazu: „Die Regierungen aller (zentralasiatischen, Ke) Länder unternehmen daher, oft mit Unterstützung der örtlichen Intelligentsja, den Versuch, die ethnischen Identifikationsprozesse durch mehr oder weniger plausible Konstruktionen zu fördern“ (Pos 6709) Diese Ansprüche „sind Mittel eines politischen Konzepts, nämlich der Ethnisierung der regionalen Kultur, der Nationalisierung der Beiträge Zentralasiens zu globalen Kulturen.“ (Pos 6756).20140323-000546.jpg
Die Zeit bis zur Fahrt zum Flughafen verbringe ich dann auf dem Basar. Hier ist mehr Leben als im Museum. Polizisten hat es allerdings auch sehr viele, in Taschkent werden sie von den Einheimischen etwas verächtlich Kakerlaken genannt, es stehen wirklich an jeder Strassenecke mehrere. Interessant zuzuschauen, wie die Bauern ihre Waren direkt ab Lastwagen verkaufen.
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Kanat, der mich gestern am Bahnhof einfach nicht abgeholt hat, weil sein Onkel beerdigt wurde, bringt mir einen usbekischen Cognac als Entschuldigung mit und fährt mich zum Flughafen. Dann brauche ich sämtliche Nerven. Beim Aussteigen aus dem Auto folgt die erste Kontrolle. Pass, Billett zeigen, durch einen Metalldetektorbogen gehen, Gepäck röntgen lassen. Jetzt bin ich auf dem Flughafengelände. Um ins Flughafengebäude zu kommen, folgt Kontrolle Nr. 2: Nochmals dasselbe Prozedere aber verschärfter. Auch sämtliche Hosen- und Jackentaschen leeren. Jacke ausziehen, weil sie einen Reissverschluss hat, Moleskin-Agenda öffnen, Brillenetui öffnen, Portemonnaie öffnen, Handy aus dem Etui nehmen. Jetzt kann ich einchecken und danach bei „Tourists and official delegates“ anstehen. Etwa zwanzig Minuten. Als ich dran bin, habe ich ein Formular zu wenig ausgefüllt, muss aber immerhin nicht nochmals hinten anstehen. Die Leute sind höflich, auch wenn sie sehr genau sind. Als ich wieder dran bin, muss ich detailliert über all mein Geld, das ich ausführen will, Auskunft geben. Das wird mit meiner Eingangsdeklaration verglichen. Mist, dort habe ich vergessen, die Singapore-Dollars, von denen ich noch einige hatte, zu deklarieren. Wenn das nur keine Probleme gibt.
Jetzt werde ich vor das Zimmer 210 zum Anstehen geführt. Dort erwarten mich ein weiterer Zöllner, ein Hündchen und meine aufgegebene Tasche. Mein Gepäck wird völlig ausgeräumt, der Zöllner, der die Tasche durchleuchtet hat, gibt dem Zöllner, der alles auspackt Aufträge, nach was er mich noch fragen soll. Nach den Speicherkarten, den Batterien, dem Geld, ob ich wirklich nichts Verbotenes habe. Schliesslich darf ich wieder einpacken. Das alles spielt sich am Boden ab, links und rechts andere Reisende, die dasselbe Prozedere durchlaufen. Dann wieder zur Vorkontrolle vor der Passkontrolle. Diesmal werde ich ins Zimmer 110 geschickt. Dort muss ich alles Geld ausräumen und ein Zöllner beginnt zu zählen. Zum Glück habe ich so viele Eindollar-Scheine, dass er schliesslich aufgibt und nicht bis zu den Singapore-Dollars vorstösst. Jetzt werde ich zur Passkontrolle vorgelassen, bekomme den Ausreisestempel und gehe Richtung Gate. Aber Stopp, jetzt kommt noch die Sicherheitskontrolle und die ganze Durchleuchterei beginnt von vorne. Als ich das alles überstanden habe und eine Bar sichte, beschliesse ich, meine restlichen Sum (die lokale Währung) in ein Glas usbekischen Wein und ein Sandwich zu investieren. Nur nehmen die nur noch harte Währung, Dollar oder Euros…
Ich verstehe jetzt, warum man mir empfohlen hat, dieses kleine Teilstück zu fliegen. Das alles mitten in der Nacht zwei Mal im Zug durchzumachen wäre dann doch etwas sehr strapazierend gewesen.
Der kurze Flug nach Almaty in Kasachstan in einem halbleeren Airbus verläuft dann problemlos.

Diese Zollerlebnisse musste ich jetzt in die Tastatur hacken (die die Zöllner auch zigmal ansahen und sich fragten, für was ein Tourist eine Tastatur brauche…) Und jetzt nehme ich einen Schluck von Kanats O’zbekistan Alkogol Mahsulotiarini…