Churchill und Europa

Die Applied History Lectures stehen im Sommersemester 2017 (PDF) unter dem Titel «War’s das? – der Westen und die Demokratie».

Felix Klos (Linkedin), Jahrgang 1992, Organizer in den 2016 gescheiterten Kampagnen für Bernie Sanders und dann für «Hillary for America» plaudert mit Stephan Klapproth über seine Erlebnisse während der Kampagne, in einem Trailerpark in Iowa etwa, in dem es zu hysterischen Anfälle gekommen sei, als er mit seinem Hillary-Button an Türen geklopft habe. Das Gespräch dreht sich um das «Age of Anger», in vielen Ländern (sie sprechen über Holland, die USA und Grossbritannien) ist ein «Backlash» gegen die Globalisierung und die EU in vollem Gange.

Die Veranstaltung findet genau ein Stockwerk unter der Aula der Universität Zürich statt, wo 1946 Churchill seine berühmte Rede «Let Europe Arise» gehalten hat. Klos hat noch vor dem Referendum über den Brexit ein Buch «Churchill on Europe» geschrieben1. Er widerspricht dezidiert den Behauptungen, Churchill habe Grossbritannien nicht in einer Europäischen Union gewünscht und belegt das mit vielen Quellen. Mit Denkern wie Graf Coudenhove-Kalergi und Politikern aus verschiedensten politischen Lagern in Grossbritannien, vielen kontinentaleuropäischen Ländern und den USA begann Churchill, Institutionen und den politischen Willen aufzubauen, die schliesslich zur Europäischen Union führen würden. Klos schreibt über sein Buch:

«(It) relies on never-before-published material to tell the true story of Churchill’s driving role in the postwar making of a united Europe. I believe it shows, and this is key to Britain’s identity, that after the war Churchill evisaged Britain leading an ever-closer union of European states. Not following, not on the edges, but leading. (Pos. 60).

Zeitungsartikel, die anlässlich des Jubiläums der Churchill-Rede in Zürich und im Zusammenhang mit dem Brexit-Referendum erschienen sind, sehen das etwas anders (vgl. Tages-Anzeiger, 15.9.2016 und 27.5.2016), am Kolloquium zum 70-Jahr-Jubiläum an der Uni Zürich wurde die Frage kontrovers diskutiert (Switch-Cast, 2 Stunden, Blog von Richard Langworth).

Es lohnen sich also ein Blick auf die Zürcher Rede und die von Klos benützten zusätzlichen Quellen.

CVCE an der Uni Luxemburg, «die digitale Forschungsinfrastruktur zur europäischen Integration» hat die verschiedenen Ressourcen zur Zürcher Rede, den Text und ein Tondokument zusammengestellt.

Das CVCE fasst die Rede folgendermassen zusammen:

«Indem er die deutsch-französische Aussöhnung fordert und „eine Art Vereinigte Staaten von Europa“ ohne die Beteiligung Großbritanniens vorschlägt, zeichnet Churchill das Bild von einer künftigen, nicht kommunistischen Föderation Westeuropas. Damit spricht er sich für einen europäischen dritten Weg zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion aus. Gleichzeitig befürwortet er die Gründung des Europarates.»

Die «akademische Jugend», zu der Churchill in Zürich sprach, befand sich eher nicht in der Aula, wie Boscovits hier im Nebelspalter illustriert2,sie hörte aber via Lautsprecher vor der Universität zu.

Bild: Julius Aichinger / Universitätsarchiv Zürich via NZZ

Die letzten Sätze der Rede Churchills in Zürich lauten

«In this urgent work France and Germany must take the lead together. Great Britain, the British Commonwealth of Nations, mighty America — and, I trust, Soviet Russia, for then indeed all would be well — must be the friends and sponsors of the new Europe and must champion its right to live. Therefore I say to you “Let Europe arise!”»

Klos These, Churchill habe die Mitgliedschaft, ja sogar den «Lead» Grossbritanniens in einem vereingten Europa gewollt, stützt sich stark auf die Diplomatischen Dokumente der Schweiz3. Die Rede in Zürich bildete den Abschluss von dreiwöchigen «Ferien» Churchills in der Schweiz (Werner Vogt erläutert den ganzen Hintergrund in der NZZ vom 10.9.2016, hervorragend illustriert). In dieser Zeit wurde Churchill von zwei vom Bundesrat beauftragten Emissären, Protokollchef Jacques Albert Cuttat und Sicherheitschef Oberstleutnant Hans Wilhelm Bracher begleitet. Mit beiden hatte Churchill ein gutes Einvernehmen und beide berichteten Bundesrat Petitpierre, dem Vorsteher des Eidgenössischen Politischen Departements über den Aufenthalt Churchills. Ihre Berichte sind heute bei DODIS einsehbar.

Bracher und Cuttat hatten in der Nacht vor der Rede Gelegenheit, die damals schon fertig gestellten Teile von Churchills Rede zu hören.

http://db.dodis.ch/document/2184

Cuttat fragt ihn bei dieser Gelegenheit explizit nach der Rolle, die Grossbritannien in diesem Europa spielen würde.

http://db.dodis.ch/document/1659

Klos stützt seine These im weiteren Verlauf des Buches mit den Aktivitäten Churchills, die Churchill danach vor allem auch in Grossbritannien entfaltete, um der europäischen Idee zum Durchbruch zu verhelfen.

Die Kritik am Buch von Klos, wie sie z.B. Andrew Roberts vom Churchill Project am Hillsdale College äussert, geht dahin, dass Klos die zweite Amtszeit Churchills als Premierminister(1951 – 1955) – in der er viel weniger europafreundlich handelte – praktisch ignoriert, dass Klos Churchills Ansichten in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre zwar sehr genau recherchiert hat, aber daraus unzulässige Schlüsse zieht.

Für mich war die Lektüre inspirierend, sie hat mir auch gezeigt, welcher Fundus mit den digital aufbereiteten Diplomatischen Dokumenten der Schweiz zur Verfügung steht und wie wertvoll sie zur Kontextualisierung von anderen Dokumenten, wie hier Churchills Zürcher Rede, sein können.

 

1 Klos, Felix. 2016. Churchill on Europe. The Untold Story of Churchill’s European Project. London: Tauris. E-Book.

2 Nebelspalter (Zs.) 72. Jg. (1946), Heft 42, S.4

3 Dodis.ch. Diplomatische Dokumente der Schweiz http://dodis.ch/de

Ota Benga und die Negerdörfli

Ota Benga at Bronx Zoo
Ota Benga im Zoo der Bronx (Bild PD, nbo-press )

Dieser Tage hat sich offenbar der Todestag von Ota Benga zum 100. Mal gejährt. Der Kongolese Ota Benga wurde in den USA an einer Messe in St. Louis und im Bronx-Zoo wie ein Tier ausgestellt (siehe Scoop.it). Er musste nach der Darwinschen Theorie als als „Missing Link“ zwischen Tier und Mensch herhalten. Wenig später nahm er sich das Leben. Ann Hornaday, eine Verwandte des damaligen Zoodirektors erzählte seine Geschichte 2009 in der Washington Post.

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Blechpostkarte, die heute noch bei ex libris unter der Rubrik „Originelles“ verkauft wird.

Aussergewöhnlich waren solche Zurschaustellungen von „Negern“ nicht. Rea Brändle hat in ihrem Buch „Wildfremd.hautnah“ Zürcher Völkerschauen und ihre Schauplätze 1835-1964 aufgearbeitet und berichtet darin z.B. auch vom Negerdörfli 1925 auf dem Letzigrund. Tages-Anzeiger und NZZ haben sich beim Erscheinen des Buches der Thematik angenommen .