Visible Cities

Leonard Blussé hat im November 2017 an der Universität Zürich einen Vortrag über «The maritime prohibitions of China und Japan during the seventeenth century: a reassessment» gehalten. Er bezog sich dabei häufig auf sein Buch «Visible Cities: Canton, Nagasaki, and Batavia and the Coming of the Americans»1

Die drei Städte waren nicht nur durch Handelsrouten über das Südchinesische Meer miteinander verbunden, sondern auch durch den Umstand, dass sie alle stark von den globalen Transformationen Ende des 18. Jahrhunderts betroffen waren. Alle drei Städte beherbergten – bei aller kulturellen Verschiedenheit – Einwohner aus den Niederlanden und Fujian (S. x).

Blussés Buch entstand aus seinen «Edwin O. Reischauer Lectures» in Harvard. Er lehnte sich dabei wie auch in Zürich an die Braudels (Wikipedia) Dramaturgie an: Zuerst den Appetit mit einer Langzeitperspektive anregen, dann einen Hauptgang mit konjunkturellen Entwicklungen und schliesslich zum Dessert das Tun und Lassen von Individuen.

Ich fasse hier die Publikation von 2008 «Visible Cities» zusammen, alle Seitenzahlen beziehen sich darauf.
Den Titel borgte Blussé einerseits bei Italo Calvino. In seinem Roman «Invisible Cities» (deutsch: Die unsichtbaren Städte, Amazon) schildert der Erzähler Marco Polo dem mongolischen Grosskhan und chinesischen Kaiser Kublai Khan (Ostasieninstitut Hochschule Ludwigshafen) die verschiedensten Formen von Stadtleben in seinem grossen Reich. Im Grunde sind aber all die Erzählungen Marco Polos nur Variationen seines Heimwehs nach Venedig.

Andererseits gibt es über drei Städte Batavia (heute Jakarta), Kanton (Guangzhou) und Nagasaki so viel Archivmaterial und zahlreiche Bilder, dass man sie gut als «visible cities» bezeichnen kann. Von den Hafenstädten, in denen Ost und West aufeinandertrafen sind sie wohl die meist porträtierten.

Kapitel 1: Three Windows of Opportunity
Die maritime Sphäre

Handelsstädte entlang der Land- und Seewege waren Orte, an denen das Leben kosmopolitisch geprägt war, Orte, wo Reisende von weit weg sich trafen, um Güter und Gerüchte zu tauschen.

Blussé will in seinem Buch auch aufzeigen, dass die traditionellen Beziehungen Chinas und Japans zum maritimen Bereich bis heute geschichtsmächtig sind. Man muss sie kennen, um die globalen Auswirkungen der chinesischen und japanischen Geschichte in der frühen Neuzeit und bis in die Gegenwart zu verstehen. Im Südchinesischen, Ostchinesischen und Japanischen Meer prallen die Interessen der beiden Grossmächte China und Japan bis heute aufeinander.

Batavia, Kanton und Nagasaki waren Tore zu Java, China und Japan, sie waren gleichzeitig auch wichtige Knoten im Netzwerk, der grössten Handelsmacht in der Region, der «Verenigde Oost-Indische Compagnie (VOC)» )(4).

Guangzhou, das damals im Westen als Kanton bekannt war, war zusammen mit Macao der Anlaufhafen für ausländische Kaufleute im riesigen Quing-Reich.

Kanton, zweite Hälfte 17. Jh.. Aus: Johan Nieuhof, Het gezantschap der Neêrlandtsche Oost-Indische Compagnie, aan den grooten Tartarischen Cham, den tegenwoordigen Keizer van China (Amsterdam, 1665) , nach S. 40. Download des Buches bei archive.org

Nagasaki, wurde vom Tokugawa-Shogunat als einziger Hafen in Japan bestimmt, in dem chinesische und holländische Händler Handel treiben durften.

Deshima 1669, Koninklijke Bibliotheek, Den Haag.

Batavia schliesslich war der Knotenpunkt des Handelsimperiums der VOC und völlig vom Seehandel abhängig.

Batavia, zweite Hälfte 17. Jh.. Aus: Johan Nieuhof, Het gezantschap der Neêrlandtsche Oost-Indische Compagnie, aan den grooten Tartarischen Cham, den tegenwoordigen Keizer van China (Amsterdam, 1665) , nach S. 40 Download bei des Buches bei archive.org

Chinas Küstenprovinzen schliesslich, im Speziellen Fujian waren direkt oder indirekt die treibende Kraft für den gesamten Handel im chinesischen Meer.

Der zeitliche Rahmen
Portrait des 85jährigen Quianlong-Kaisers. PD, Wikimedia Commons

Die Zeit um 1790 war auch in China eine Krisenzeit mit grossen Überschwemmungen des Gelben Flusses und des Yangzi. Die Bevölkerung verdoppelte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von 140 auf 300 Millionen. Politisch war der Übergang vom sehr lange herrschenden Quianlong-Kaiser mit seiner korrupten Entourage zum Jiagquing-Kaiser schwierig.

In Japan verursachte die Eruption des Asama 1783 Missernten, Hungersnöte und Bauernaufstände. Die Nachfolger von Shogun Tokugawa Ieharu verfolgten eine strenge Austeritätspolitik, setzten moralische Normen durch und  schränkten den Überseehandel nochmals erheblich ein.

Auf dem indonesischen Archipel verlor die VOC ihre Hegemonie durch die grossen Verluste an Schiffen im vierten Englisch-Niederländischen Krieg (1780 – 1784) (Wikipedia), der Unterbruch der Verbindungen nach Asien während der napoleonischen Kriege führte dann zum Bankrott der VOC:

Aus einer globalen Perspektive betrachtet fanden in dieser Zeitperiode mit der Industriellen Revolution und der französischen Revolution simultan zwei Revolutionen statt und Adam Smith beschrieb das neue Paradigma der freien Marktwirtschaft, die zum Ende des Merkantilismus mit seinen Monopolen führen würde. Ein neues Informationszeitalter war am Entstehen, das Wissen über andere Zivilisationen auf anderen Kontinenten war in Europa an jedem Teetisch präsent. Britannien verlor sein erstes Imperium in der westlichen Hemisphäre und baute sich ein zweites in «Monsun-Asien» auf. Das russische Reich und die Vereinigten Staaten verschoben ihre «Frontier» ständig und erreichten den östlichen Rand Asiens.

Um 1800 veränderte sich der Seehandel in Südostasien und Ostasien massiv, 200 Jahre niederländische Kontrolle in den Meeren rund um den indonesischen Archipel waren zu Ende und ein spektakulärer Anstieg von Piraterie und von Eindringlingen, die nach neuen Handelsrouten suchten war zu beobachten (7).

«In short, the turn of the eighteenth into the nineteenth century was a period of global transition and changing overseas entanglements to which the regimes of China, Japan, and Java were forced to respond.» (8)
Chinesischer Überseehandel

Chinesische Dschunken besuchten Nanyang (d.h. die südlichen Meere) seit fast einem Jahrtausend (10), bevor Europäer in dieser Weltgegend anzutreffen waren. Die Dschunken verliessen die Küstenregionen Chinas jeweils vor dem Beginn der Monsun-Zeit um das chinesische Neujahr und kehrten nach dem Wechsel der Monsunwinde im Juni zurück. Zwischen Juli und Oktober war die Seefahrt wegen der Taifuns sehr gefährlich.

Monsun in Südostasien. Karte PD Wikimedia Commons. Monsunrichtungen: Reid 20152, S. 2

Anders als bei den europäischen Mächten üblich folgte die chinesische Flagge aber nicht dem Handel. Im Gegenteil wurden durch die Herrschenden immer wieder Verbote, für eine längere Zeit zu migrieren, ausgesprochen. Solche Verbote vermochten Handel und Migration aber jeweils nicht zu unterbinden. Die Verbote wurden in der Geschichtsschreibung zur Kenntnis genommen und auch die Tatsache, dass China keine Kolonialisierung im europäischen Sinn anstrebte führte dazu, dass die Bedeutung der schleichenden Expansion und wirtschaftlichen Durchdringung von Südostasien durch China von der westlichen Geschichtswissenschaft missverstanden und massiv unterschätzt wurde. (12)

In China selbst galt die Sorge nicht den Ausländern sondern der Tatsache, dass diese die chinesische Bevölkerung mit ihren Ideen beeinflussen könnten. Dass von den europäischen Mächten auch ganz andere Bedrohungen ausgingen, merkten die Manchu-Herrscher in China erst beim Beginn des Opiumkrieges 1839.

Der chinesische Überseehandel sollte denn nach Blussé auch nicht als ein Resultat des Tributsystems der kaiserlichen Regierungen, sondern als Resultat der Handelsmöglichkeiten, die sich für die Regionen entlang der südöstlichen chinesischen Küste ergaben, gesehen werden (14).

Die Politik der Zentralmacht in China schwankte zwischen einer Förderung des privaten Handels und des Versuchs, den Handel völlig zu monopolisieren und ins Tributsystem einzugliedern. Die Handel treibenden Chinesen wurden in diesen Zeiten als Eindringlinge, die das imperiale Ordnungssystem verletzten, gesehen.

In diesem Zusammenhang sieht Blussé auch die Flotten Zheng Hes, die unter dem Yongle-Kaiser (1403- 1424) nicht weniger als 37 «Länder» erreichten. Weil diese in der Folge regelmässig Gesandtschaften mit Tributzahlungen nach China schickten, sahen die frühen Ming-Kaiser keine Notwendigkeit zu weiteren Expeditionen. Stabilität war hergestellt, man konnte das Land wieder weitgehend isolieren, eine Politik, die haijin genannt wurde.

Verbote von Migration und Handel führten aber z.B. dazu, dass Handel treibende Chinesen aus Fujian trotz des Verbotes sich auf den sowohl Japan wie China gegenüber tributpflichtigen Ryukyu-Inseln etablieren und von dort aus einen blühenden Handel mit Südostasien und den gegeneinander mehr oder weniger abgeschotteten Reichen Japan und China treiben konnten.

Weil die Prohibitionspolitik in der Regel nicht funktionierte, versuchten die Herrscher, den privaten Handel in Bahnen zu lenken, der Hafen von Guangzhou spielte früh eine Rolle, da er Eingangstor für die Delegationen der tributzahlenden Länder war. Schliesslich wurde sogar den Portugiesen in Macao ein Handelsplatz zugewiesen.

Portugal und die VOC

Europäer sicherten sich Ende des 16. Jahrhunderts einen Anteil am Handel im südchinesischen Meer. Die Portugiesen segelten die Route nach Macao und dann weiter nach Nagasaki, die Holländer nach Batavia und die Spanier nach Manila. Seide und Porzellan aus China wurden so gegen japanisches Silber getauscht. Die Spanier brachten Silber aus Südamerika nach Manila, um damit für Europa bestimmte Güter wie Seide und Porzellan zu bezahlen.

Die 1602 gegründete VOC hatte von den Niederlanden weitreichende Privilegien bekommen, sie konnte östlich des Kaps der Guten Hoffnung Verträge schliessen und Krieg führen. Als die Holländer 1595 in Südostasien ankamen, waren die Handelsbeziehungen von China mit Spanien und Portugal schon gefestigt. Mit der Gründung von Batavia konnte aber ein wichtiger Knotenpunkt geschaffen werden, es gelang den Holländern in Monsun-Asien ein Handelsnetz zwischen den textilproduzierenden Regionen Indiens und den Gewürzinseln der Molukken aufzubauen und einen grossen Anteil am enorm profitablen Silber-für-Seide-Markt zwischen Japan und China 1639 schliesslich zu monopolisieren.

Verflochtener Handel. Beispiel des Seide-Silber-Baumwolle-Gewürzehandels. Bild: Museum Deshima, Nagasaki.

Holland stellte sich als Alternative zu den mittlerweile in Japan verhassten Portugiesen dar, in dem Holländer den Japanern z.B. versicherten, dass sie den Katholizismus genau so hassten, wie diese. Mit dem Monopol verbunden war allerdings die Schliessung des holländischen Handelspostens in Hirado und die Verschiebung des Handels auf die künstliche Insel Deshima in der Bucht von Nagasaki, auf der vorher die Portugiesen Handel getrieben hatten.

Verpacktes Porzellan mit dem Emblem der VOC (Deshima Museum, Nagasaki)

Die VOC profitierte auch sonst von der Isolierung Japans (kaikin ab 1636) , indem sie auf Handelsrouten zwischen Kambodscha, Vietnam, Siam und Formosa und Japan nun über das Handelsmonopol verfügte. Als sie schliesslich das portugiesische Malakka besetzte und so die Kontrolle über die Strasse von Malakka erhielt, wurde Holland zur dominierenden westlichen Macht in der Region.

Machtwechsel in China

Die Ablösung der Ming-Dynastie durch die das Reich erobernden Manchus brachte zwischen 1630 und 1680 ein halbes Jahrhundert Unruhen mit sich. In der gleichen Zeit führten die Versuche der VOC, China für den Handel weiter zu «öffnen» zu einer Ausbreitung von Piraterie und Schmuggel, da es nun möglich war, so gute Geschäfte mit den Holländern zu machen. In Manila, Nagasaki und Batavia entstanden wichtige «Chinatowns» . Das ursprünglich von den Portugiesen, dann den Holländern besetzte Formosa wurde, nachdem dort 1683 die letzten ausharrenden Ming-Getreuen geschlagen worden waren, Teil des chinesischen Reiches.

Die Manchu-Regierung erlaubte den privaten Handel ab 1683 wieder, was zu einem unerhörten Boom führte. Batavia und Nagasaki waren am stärksten davon betroffen und wurden von einer grossen Menge chinesischer Dschunken angesteuert.

In Batavia entband dies die Holländer davon, eigene Schiffe an Chinas Küste zu senden und dort hohe Zölle bezahlen zu müssen, die Stadt wurde nun wie von selbst mit Seide und anderen Handelsgütern beliefert. Der Boom führte aber auch zu einer grossen Migration aus den chinesischen Küstengebieten. Auch in Nagasaki wohnten bald 5000 Chinesen so dass die dortige Regierung beschloss, sie in einem Chinesischen Quartier (tojin machi) zu konzentrieren.

1717 verhängte der Kangxi-Kaiser, um der Auswanderung und der Piraterie Herr zu werden, wieder ein Überseehandelsverbot, das sich innerhalb Südostasiens aber kaum durchsetzen liess.

Tee und Kaffee

Der VOC wurde durch das Verbot aber klar, wie stark sie vom chinesischen Netzwerk abhängig war und sie begann zu «diversifizieren», in dem sie auf Java mit aus Yemen importierten Kaffeepflanzen Plantagen errichtete. Die Anpflanzung von Tee blieb vorerst ein gut gehütetes chinesisches Geheimnis. Tee konnte nur via Kanton erworben werden. Weil er möglichst frisch in Europa ankommen sollte, wurde der Handel via Batavia mehr und mehr zum Konkurrenznachteil, die VOC musste Kanton ab 1727 auch wieder direkt aus Europa anfahren.

Kapitel 2: Managing Trade across Cultures

Im zweiten Kapitel gibt uns Blussé Einblick in die drei Städte. Die Situation war für die VOC in Kanton und Nagasaki wo «the VOC was operating “among declared enemies and feigned friends.”» natürlich eine völlig andere als im unter seiner Kontrolle stehenden Batavia.

Batavia

Das von der VOC an handelsstrategisch zentraler Stelle auf Java angelegte Batavia war eine mutikulturelle Stadt, ein Mix aus europäischer Planung und lokaler Tradition, gegründet und regiert von der VOC, die mit ihren Lagerhäusern und Werften auch am meisten Platz einnahm.

Ein Schloss überragte Stadt und Hafen, holländische Segelschiffe (Dutch East Indiamen), chinesische Dschunken und Segelschiffe anderer westlicher Nationen ankerten im Hafen.

Im Handel würden häufig örtliche Gebräuche und Rituale übernommen, ansonsten hatten die Holländer für sich eine Bürgergesellschaft mit Stadthäusern, Spitälern, Gerichten, Kirchen usw. aufgebaut: Holland in den Tropen. Den für den Handel und als Arbeitskräfte wichtigen Chinesen wurden gleichartige Institutionen zugestanden.

Batavia entwickelte sich zu einem Magneten mit einer internationalen Einwohnerschaft. Holländer, asiatische Christen und Chinesen wohnten mit einer grossen Anzahl Sklaven innerhalb derselben Stadtmauer

In der Umgebung wurden «ethnic communities» mit Balinesen, Bugis, Maduresen angesiedelt, die bei Bedarf Truppen für die Holländer stellten.

Batavia 1765 mit chinesischen Dschunken. Tropenmuseum Amsterdam

Chinesische Schiffe waren bezüglich Zollgebühren stark privilegiert, der «chinesischer Korridor» brachte viele chinesische Produkte und billige Arbeitskräfte in grosser Zahl. Das Niederschlagen einer Revolte chinesischer Arbeiter auf umliegenden Zuckerplantagen weitete sich im Oktober 1740 zu einem Massaker an den in Batavia ansässigen Chinesen aus, das massive Pogrom ging unter dem Namen «Chinezenmord» in die Geschichte ein.

Chinezenmoord. Tropenmuseum Amsterdam, PD Wikimedia Commons

Weil das chinesische Kaiserreich die im Ausland lebenden Chinesen ohnehin als Verräter ansah, unterblieb eine heftige Reaktion, der für beide Seiten einträgliche Handel konnte weitergehen.

Wirtschaftlich begann der Niedergang Batavias mit der Entscheidung, VOC-Schiffe wieder direkt nach Kanton zu senden. Für die Dschunken war es dadurch nicht mehr attraktiv, mit ihrem Tee Batavia anzusteuern, der chinesichen Dschunkenhandel verlagerte sich auf Handelsplätze entlang der Küste Nanyangs wie Johor  (60).

Der Niedergang wurde aber auch durch die für die Gesundheit prekären Verhältnisse weiter vorangetrieben, kaum jemand wollte noch in der Stadt wohnen, nachdem die Sterbensrate am Ende des 18. Jahrhunderts auf über 30% gestiegen war, d.h. innert dreier Jahre starb eine ganze Stadtbevölkerung. Grösster Killer war die «Mal-aria», d.h. schlechte Luft, in der man die Ursache der Krankheit suchte. In Wirklichkeit fanden die  die Malaria übertragenden Mücken aber in den neu angelegten Fischzuchten wohl ideale Brutbedingungen vor und vermehrten sich rasant. Die «Königin des Ostens» war zum «Friedhof des Ostens» geworden.

Nagasaki

Die künstliche aufgeschüttete fächerförmige Insel Tsukishima bzw. Deshima und das chinesische Quartier tojin yashiki prägten das Bild Nagasakis

Nach Deshima waren 1636 die Portugiesen umgesiedelt worden, bevor sie 1639 völlig ausgewiesen wurden. Die Holländer konnten sie beerben, mussten ihre Faktorei aber vom in der Nähe gelegenenen Hirado auf die Insel Deshima verlegen, das so für 200 Jahre zum Fenster Japans zur westlichen Welt wurde.

Der Handel auf Deshima war relativ einseitig, indem die Japaner den Preis festlegten, umgekehrt aber auch sämtliche Waren eines Schiffes abnahmen.

Das Leben war eintönig, die Hofreise jedes Jahr nach Edo, um dem Shogun die Referenz zu erweisen war eine willkommene Abwechslung.

Deshima, 1824-1825. PD Wikimedia Commons

Auf Deshima bestand, abgesehen von Kontakten mit Kurtisanen, die nach Deshima gerufen werden konnten und dort zum Teil Jahre blieben, wenig Gelegenheit in Kontakt mit der Bevölkerung zu kommen, während der Hofreise war das einfacher, man konnte auch Abstecher z.B. nach Kyoto oder Osaka ins Theater unternehmen.

Die Beschreibung einer Hofreise durch den Leibarztes Engelbert Kaempfer3 ist die Bekannteste, es existieren aber viele weitere Beschreibungen der fast 120 Reisen.

Der Handel wurde ständig eingeschränkt, 1790 durfte nur noch ein holländisches Schiff und sieben chinesische Dschunken pro Jahr in Nagasaki anlegen. Auch der Export von Silber als wichtigstem Exportprodukt wurde schliesslich unterbunden, von den Edelmetallen wurde nur noch Kupfer exportiert.

Japanische Verbindungen nach Korea (über Tsushima) und mit Ryukyu existierten immer. Deshima war aber der einzige Hafen, an dem regelmässig Nachrichten aus der ganzen Welt gesammelt werden konnten. Befragungen der Neuankömmlinge ermöglichten Japan, von der amerikanischen und französischen Revolution zu erfahren. Die französische Invasion Hollands konnte lange Zeit verborgen gehalten werden: in Batavia wurden amerikanische, deutsche und dänische Schiffe gechartert, so wurde auf Deshima als einzigem Ort der Welt während der ganzen napoleonischen Phase die Fahne der Niederlande gehisst.

Rangaku, die «holländische Wissenschaft» war eine Folge dieses Fensters zum Westen. 1640 aus Neugier an der westlichen Medizin gestartet weitete sich im 18. Jahrhundert der Wissenstransfer aus, es bestand ein grosses Interesse an der westlichen Wissenschaft und Technologie. Martin Dusinberre hat 2017 während einer Ringvorlesung aufgezeigt, wie die holländische Wissenschaft Japan auch ermöglichte, sich aus der «Sinosphäre» zu lösen und z.B. durch die Annäherung an die westliche Medizin ein vom chinesischen unterschiedliches Welt- und Menschenbild zu entwickeln.

Utagawa Kunisada: Dietary Life Rules, 1850s, Lyon Collection. Der Künstler bezieht sich sowohl auf die traditionelle chinesische wie auf die westliche Medizin.
Kanton

Kanton präsentierte sich als befestigte Stadt am Pearl River. Es konnte von fremden Schiffen nur via den Fluss mit einem Lotsen erreicht werden, die Fahrt dauerte ein bis zwei Wochen, der Verkehr war also sehr gut kontrollierbar.

Ein Hong-Händler, der vom Kapitän angeheuert wurde, übernahm die Abwicklung aller Fomalitäten und wurde dafür auch verantwortlich gemacht. Daneben waren Lingos, d.h. Übersetzer unumgänglich.

Im Gegensatz zu Nagasaki spielte in Kanton die Konkurrenz. Das «Kanton-System» liess Raum für Konkurrenz unter den Handelsnationen und auch unter den chinesischen Händlern, die mit den Fremden handelten. Der Handel funktionierte einwandfrei, was auch seinen Preis hatte. In mexikanischen Dollars waren sehr hohe Hafengebühren zu bezahlen

Die Faktoreien (Handelsniederlassungen) der Handelsnationen waren luxuriös ausgestattet, in den 1780er Jahren waren die Faktoreien von Dänemark, Österreich, Schweden, Frankreich, Grossbritannien und Holland nebeneinander angesiedelt und man hatte trotz der Konkurrenz regen sozialen Austausch.

Auch sonst war das Leben für Ausländer recht angenehm, die Faktoreivorsteher (Supercargoes) hatten in der Regel von Februar bis Juli nichts zu tun und verbrachten die Zeit mit ihren Frauen oder Konkubinen in Macao.

William Daniell: View of the Canton Factories (1805 – 1810), PD, Wikimedia Commons

Der Handel in Kanton war wenig diversifiziert, sondern völlig von Tee dominert, da der Durst der Europäer und Amerikaner nach dem nur hier erhältlichen Tee sehr gross war. Diese Gier sollte nicht nur die Geschichte Asiens verändern, der Profit aus dem Tee-Handel sollte auch die englische Eroberung Indiens ermöglichen und mit der Boston Tea Party einer der Auslöser des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges sein.

Tee wurde ursprünglich mit Silber bezahlt, weil China an keinen anderen westlichen Waren interessiert was. Die sich so ständig verschlechternde Aussenhandelsbilanz der westlichen Handelsnationen, vor allem Grossbritanniens führte zum massenhaften Anbau von Opium in Bengalen und schliesslich zu den Opiumkriegen, der Erniedrigung Chinas durch das Aufzwingen des Importes von Opium und den ungleichen Verträgen. Die damaligen Geschehnisse wirken bis heute nach.

It is indeed ironic that Britain, the nation that prided itself on having first exposed the excrescences of the American slave trade (in which it had been by far the greatest participant) after it had lost the American colonies, from the moment that its so-called second empire in India was taking shape, was engaged in the master planning of another kind of enslavement in Asia: opium addiction. (65)

Mit dem Teehandel verknüpft war auch der Porzellanhandel. Durch den Tee vor Stössen geschützt konnte das in Europa beliebte chinesische Porzellan nach Europa und in die USA verschifft werden.

Während der Besetzung der Niederlande durch Frankreich konnten holländische Schiffe nicht mehr nach Kanton fahren – ihr Platz wurde nur zu gerne von den Vereinigten Staaten eingenommen, die mit ihren kleineren aber schnellen Segelschiffen Kanton bald in grosser Zahl ansteuerten. (62)

Kanton war aber nicht nur für den Überseehandel wichtig, es war auch Umschlagplatz für die Dschunken, die Reis aus Siam und viele andere tropische Produkte aus ganz Südostasien brachten.

Schliesslich war Kanton auch Ausgangspunkt für viele chinesische Migranten. Die gegen die Migration gerichteten Regeln des Quing-Hofes waren immer schwieriger durchzusetzen. Um die schnelle Ausbreitung von Chinatowns in der ganzen Region zu verhindern, wurde noch versucht, Frauen an der Auswanderung zu hindern. Hakka-Frauen, deren Füsse nicht, wie sonst in China üblich, gebunden waren, gelang es aber immer häufiger, durch die Kontrollen zu schlüpfen (57) und chinesische Männer heirateten in Südostasien einheimische Frauen.

From this point on, migrants and sojourners became South China’s most important export product. Carl Trocki has pointed out that this led to the birth of a system of offshore production that included the financing and transportation of settlers and the subsequent management of the trade in items produced and consumed by the Chinese migrants to Southeast Asia. (57)

Dirk Hoerder schreibt über die chinesische «Diaspora»:

Ihre Erfahrung in Südostasien reichte vom Ghetto-Leben in Batavia und Manila bis hin zur leichten Mischehe und zum Aufkommen philippinischer mestizos und indonesischer peranakan. Wenn die Präsenz von Frauen zunahm, setzte in den nanyang Gemeinschaftsbildung und Re-Sinisierung ein, während die Rückwanderung abnahm. Die wichtige oder gar beherrschende Rolle ethnisch-chinesischer Zwischenhändler in bestimmten Wirtschaftssektoren führte wiederholt zu Antisinismus und gewalttätigen Übergriffen.(Hoerder 2012 Pos 10565) 4 .
Kapitel 3: Bridging the Divide

Im letzten Kapitel, dem «Dessert» bringt Blussé «Human Touch» in seine Vorlesung, etwa in dem er über das Schicksal der «Pinda chinezen» (Erdnuss-Chinesen) in Rotterdam erzählt, chinesische Seeleute, die während der grossen Rezession in den 1930er-Jahren mitten auf einer Reise entlassen worden waren, so in Rotterdam strandeten, ein «Chinatown» gründeten und sich mit dem Verkauf von Erdnüssen durchschlugen. Bis heute gibt es in Rotterdam ein Vielzahl von chinesischen Restaurants, die von den Nachfahren dieser Chinesen gegründet wurden.

Ankunft eines holländischen Schiffes in Nagasaki, frühes 19. Jh. Kawahara Keiga (1786 – nach 1860), Museum Deshima, Nagasaki.

Er erzählt von Geliebten und gemeinsamen Kindern, die die Holländer in Nagasaki zurücklassen mussten. Von Beschreibungen der christlichen Gepflogenheiten auf Batavia, die von einem chinesischen Gelehrten «puzzled by the strange behavior» (73) beschrieben wurden. Von den japanischen Schiffbrüchigen der Kodayu, die über Irkutsk und St. Petersburg schliesslich Japan wieder erreichten, nur um dort wegen ihres Wissens von ihren Angehörigen isoliert zu werden (75). Von japanischen Versuchen, selbst grosse Segelschiffe zu bauen, von geglückten und missglückten Gesandtschaftsreisen an den Hof des Kaisers nach Peking.

Zwei Personen werden besonders dargestellt. Andreas Everardus van Braam Houckgeest (1739-1801), den Blussé mit Voltaires Candide vergleicht. Ein Lebemann und Macher zwischen den Welten. Faktoreivorsteher in Kanton, Unterstützer der amerikanischen Revolution, der in die USA übersiedelte und dort fast seine ganze Familie wegen Diphterie verlor, der dann erneut «Supercargo» in Kanton werden konnte, eine Gesandtschaftsreise zum Thronjubiläum des Quianlong-Kaisers nach Peking unternahm und darüber ein zweibändiges Werk schrieb, das nur als einbändige Raubkopie verbreitet wurde, der eine 40 Jahre jüngere Frau aus der Kapprovinz heiratete und nach einigen Reisen in Deutschland schliesslich 1801 in Holland starb.

Der zweite ausführlich Dargestellte ist Hendrik Doeff (1777-1835) der während der ganzen napoleonischen Zeit auf Deshima amtierende Faktoreivorsteher, der in dieser Zeit Respekt und Liebe für die japanische Kultur entwickelte, ein Wörterbuch verfasste und dann 1817 Geliebte und Kind in Nagasaki zurücklassen musste und seine gesamte Sammlung an Schriften und Kunstgegenständen aus Japan bei einem Schiffsuntergang verlor. Sehr spät im Leben erst, als Franz von Siebold und einer seiner Nachfolger auf Deshima ein japanisch-holländisches Wörterbuch veröffentlichten, das wohl ein Plagiat Doeffs auf Deshima zurückgelassener Notizen war, verfasste Doeff mit seinen Recollections einen Bericht über seine Erfahrungen in Japan.

In seinem Epilog spricht Blussé von der neu entstehenden Ordnung in  den südostasiatischen Meeren. Ende des 18. Jahrhundert wurde das bisherige System durch Piraten, Schmuggler und Kleinhändler zum Einsturz gebracht, ohne dass sich vorerst ein neues durchsetzte. Erst mit der Gründung von Singapur durch Raffles entstand eine neue Situation:

Thomas Stamford Raffles’s brilliant decision to articulate the changing global trade with the expanding overseas Chinese economy by establishing a new kind of emporium, the free port of Singapore, was the first step in that new direction. And when from 1842 Hong Kong, Shanghai, Yokohama, Kobe, and all the other treaty ports followed, a new situation in international trade indeed emerged. (100)

1 Blussé, Leonard. 2008. Visible Cities. Canton, Nagasaki, and Batavia and the Coming of the Americans.Cambridge MA.: Harvard University Press.
2 Reid, Anthony. 2015. A History of Southeast Asia – Critical Crossroad. Malden, MA.
3Kämpfer, Engelbert. 1777-1779. Engelbert Kämpfers weyl. D.M. und hochgräfl. Lippischen Leibmedikus Geschichte und Beschreibung von Japan. http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-48618 (ZB Zürich, e-rara, PD NC)
4 Hoerder, Dirk. 2012. Migration und Zugehörigkeiten. In: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege“ von Jürgen Osterhammel, Emily S. Rosenberg, Akira Iriye, Andreas Wirthensohn, Thorsten Schmidt, Thomas Atzert, Annabel Zettel.

 

 

Koloniale Schweiz

«Koloniale Schweiz – Ein Stück Globalgeschichte zwischen Europa und Südostasien (1860 – 1930)»

Die 2011 bei transcript erschienene Dissertation von Andreas Zangger geht der Frage nach, wie sich Schweizer zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und 1930 in Singapur und auf Sumatra etablierten, in welchem Verhältnis die Migranten aus der Schweiz zu den kolonialen Strukturen in der Region standen und welche Rückwirkungen ihre dortige Anwesenheit auf die Schweiz hatte. (434)0

Einleitung

In der Einleitung weist Zangger u.a. darauf hin, dass die Migration aus der Schweiz nach Südostasien nicht dem Konzept «Auswandern» folgte, das immer eine Aufgabe einer Existenz im Herkunftsland beinhaltet. Schweizer Migration folgte dem Konzept «Im Ausland leben», das auf eine künftige Rückkehr hindeutet und die Kontakte mit dem Herkunftsland nicht abbrechen lässt. (20)

Zangger schreibt ein Stück «History of Entanglement» bzw. Verflechtungsgeschichte. Den grösseren Rahmen zitiert er so:

«Die Bedeutung des Nationalstaats hat zeitgleich zur Globalisierung an Bedeutung gewonnen1
Conrad bezeichnet die Geschichte der modernen Welt als eine Geschichte homogenisierender Effekte und wechselseitiger Aneignung und gleichzeitig als Geschichte der Abgrenzungen, der Brüche und des Bedürfnisses nach Partikularität2
Geschichte ist so im doppelten Sinne des Wortes geteilt: gemeinsam und getrennt3
Verflechtungsgeschichte versucht die gegenseitigen Einflüsse und die Abgrenzungen zugleich begreifbar zu machen. Die Verwobenheit der Welt impliziert dabei nicht Abwesenheit von Ungleichheit, Macht und Gewalt.»

Bei seiner Quellenarbeit kann sich Zangger auch auf Firmenarchive stützen, namentlich das Firmenarchiv der Diethelm Keller Holding, in die das Handelshaus Diethelm & Co aufgegangen ist (vgl. auch Diethelm Keller).

Teil A «Kaufleute im kolonialen Singapur: Netzwerkbildung im Handel mit Ostschweizer Geweben.»

Zangger beschreibt in wenigen Sätzen die Gründungsgeschichte Singapurs:

«Im Mittelalter stand eine Handelsstadt mit Namen Temasek auf der Insel an der Südspitze der malaysischen Halbinsel. Ihre Ruinen waren bereits wieder im Dschungel versunken, als Sir Stamford Raffles, Beamter der British East lndia Company, 1819 dort eine neue Stadt gründete, wobei er einen Erbstreit im Sultanat Johor ausnutzte (…)  Zugleich überrumpelte er seine Vorgesetzten in Calcutta, welche die Niederländer nicht mit einem Eingriff in ihre Einflusssphäre brüskieren wollten. Raffles ging es darum, die Opiumhandelsroute von Indien nach China zu schützen, ein Plan, der Unterstützung in London fand. Gleichzeitig schwebte ihm vor, mit einem neuen Handelsposten die niederländische Vorherrschaft im Handel mit dem malaiischen Archipel zu brechen. Freihandel war der Schlüssel, der zum Wachstum der Hafenstadt führen sollte. Freihandel bedeutete sowohl, dass der Handel im Hafen nicht mit Zöllen beschränkt werden sollte, als auch, dass der Hafen allen Nationen offen stehen sollte.» (51)

Die schon lange in Südostasien ansässigen chinesischen Kaufleute waren als «Mittelspersonen» zwischen Verkäufern und Endverbrauchern für die europäischen Handelshäuser absolut unerlässlich. «Die Gründung Singapurs unterstützte diesen Prozess wesentlich, da sich dort viele chinesische Kaufleute niederließen und ihre Netzwerke im Archipel von dort aus oder dorthin ausweiten und verstärken konnten.» (52)

Boat Quay Singapur 1888, Museum Volkenkunde, Leiden

Der Freihandel florierte bald und die Bevölkerung Singapurs wuchs stark. Zu einem weiteren Entwicklungsschub führten die Dampfschifftechnik und die Eröffnung des Suez-Kanals 1870. Insbesondere Deutsche und Schweizer drängten in den fünf Jahren vor und nach der Eröffnung des Suezkanals auf den Markt (57). Aus Europa wurden hauptsächlich Webstoffe und Textilwaren aus Baumwolle importiert. Mitte des 19. Jahrhunderts waren in Singapur aber Opium, Textilien, Pfeffer und Reis Haupthandelsgüter, um 1875 kam dann Zinn, ab 1910 Gummi dazu. Diese beiden Güter machten 1915 bereits 40% des Handelsvolumens Singapurs aus (57).

Textilexporte aus der Ostschweiz nach Asien, insbesondere aus der Buntweberei im Toggenburg und der Stoffdruckerei in Glarus waren eine Zeit lang sehr erfolgreich. Der Erfolg dieser Industrie beruhte auf handwerklichem Können, billiger Arbeitskraft in der Ostschweiz und einem guten Kommunikations- und Beziehungsnetz, das ein tragfähiges Vertriebssystem zwischen der Schweiz und Südostasien ermöglichte. Dieses Vertriebssystem beruhte wesentlich auf «Schweizer Kolonien», d.h. Handelsniederlassungen in Schweizer Hand oder mit Schweizer Beteiligung. Die dort arbeitenden Schweizer Kaufleute waren häufig Verwandte der Patrons in der Ostschweiz oder Angestellte, die sich zu Beginn ihrer Karriere in den Hafenstädten niederliessen.

Die erfolgreichen Exporte verdrängten die lokale Produktion mehr und mehr. Zangger zitiert aus einem Brief des Winterthurer Kaufmanns Bernhard Rieter aus Manila aus dem Jahre 1843:

«Alle diese Vortheile  [ ... ] helfen dem Indier aber nicht viel, um mit seiner gesamten Kraftanstrengung gegen die alles überwältigende & vertilgende Europäische Industrie anzukämpfen & wenn es mir [ ... ] eben nicht geziemt den Verfechter der indischen Industrie zu machen, so wünschte ich doch, man würde die armen Menschen nicht so mit fremden Waaren überschwemmen & ihnen ruhig ihren Erwerb gönnen. Allein unsere Civilisation wächst ihnen über die Köpfe [ ... ] & muss sie am Ende aus ihrer Arbeit vertreiben[ ... ]. Was wird aus diesen Leuten am Ende werden?» (60).

Dass z.B. Batik aus Glarus so guten Absatz fand, war auf ein genaues Studium der südostasiatischen Märkte, der Analyse der Nachfrage und dem Sammeln von Mustern zurückzuführen.

Musterbuch aus Glarus (Glarner Wirtschaftsarchiv)

Der Handel via Singapur als Freihandelshafen ermöglichte, die Marktkontrolle durch die europäischen Kolonialmächte zu umgehen. Ein Wettbewerbsvorteil der Schweizer Kaufleute war auch ihre «kulturelle Versatiltität», so lernten sie mindestens die auf den Bazaren übliche Umgangssprache und fanden schnell Umgang mit «Käufern aller Rassen des Ostens» (auch wenn die kolonialrassistische Hierarchie dabei immer gewahrt blieb). Zangger zitiert aus einer Beschreibung des Singapurer Kaufmanns Otto Alder, der 1849-1873 Schweizer «Überseer» war:

«Aber noch ein anderer Faktor machte sie schätzenswert, das war die Art ihres Umgangs mit den Käufern aller Rassen des Ostens. Von Hause aus schon gewohnt als Republikaner alten Schlages auch mit in bezug auf Bildung und Rang unter ihnen Stehenden leutselig zu verkehren, begegneten sie den Asiaten in gleicher Weise und erwarben sich deren Sympathie, so dass sie sich als Verkäufer vorzüglich eigneten.» (61)

Zangger schildert das Leben der Schweizer Kaufleute in Singapur, das mit einem relativ hohen Lohn verbunden war, aber gerade für Assistenten auch entbehrungsreich (Heiratsverbot, grosse soziale Kontrolle durch Einbindung in das abgesonderte soziale Leben der Europäer, in die deutschsprachigen Vereine bzw. den Schweizer Club). Ehen mit Einheimischen waren verpönt und hatten lange eine Art soziale Ächtung zur Folge, der «koloniale Rassismus», d.h. das System, das verschiedenen ethnischen Gruppen verschiedene Rollen in der Gesellschaft zuwies, verbot Beziehungen mit Einheimischen zu legalisieren. (129)

Ein interessantes Kapitel handelt vom «Branding»: Handel hatte sich anders als soziale Beziehungen natürlich über ethnische Grenzen hinweg abzuspielen. Doch waren Beziehungen über diese Grenzen hinweg prekär, da sie angesichts des kolonialen Rassismus sozial wenig abgestützt waren. Weil Handel, abgestützt auf persönliches Vertrauen so nicht möglich war und andererseits die Rechtsgrundlagen für unpersönlichen Handel fehlten, wurde der Handel mit Markenprodukten zu eine Zwischenform zwischen dem Handel aufgrund persönlicher Beziehungen und dem unpersönlichen Handel mit Gütern. Brands stiessen auf Interesse in einer Kultur, in der Authentisierung oder Autorisierung eine wichtige Bedeutung hat. Man kann also sagen, dass ,branding‘ als wirtschaftliche Praxis in Singapur als Lösung für ein kulturelles Problem, nämlich den kolonialen Rassismus, diente. (439) Branding setzte sich ausserhalb von Europa als Praxis zur Lösung eines neuen Problems, das im imperialen Kontext aufgetaucht war, durch (440).

Marken von Diethelm Keller (Firmengeschichte)

Teil B Ausländer in der Plantagenkultur Ostsumatras –  Glücksritter, Junker und Technokraten

Teil B beschäftigt sich mit der Plantagenkultur an der Ostküste Sumatras. «Erst wurde hauptsächlich Tabak angebaut, später kamen Kaffee, Rubber, Palmöl und Tee hinzu. Die Europäer organisierten – anders als auf Java – im Sultanat Deli und darüber hinaus den Anbau auf den Plantagen von Beginn an selbst. Es entwickelte sich das weltweit größte koloniale Projekt tropischer Agrikultur. (169)

Die Holländer hatten 1870 das von ihnen kaum kontrollierte relativ kleine Gebiet auch für ausländisches Kapital geöffnet. Zangger wählt den Begriff «Frontier» – im Gegensatz zur «Kontaktzone» in Singapur – um deutlich zu machen, dass die Inbesitznahme von Land durch Europäer als Zivilisationsschritt in der Wildnis angesehen und dabei die bisherige Landnutzung durch Indigene schlicht ausgeblendet wurde. Weil es sich um eine allmähliches Vordringen handelte, blieben eigentliche Kriege aus, aber lange dauernde schwelende Konflikte waren die Regel. Auch gab es (wie in anderen Frontiers in Amerika und Sibirien) nur eine sehr schwach ausgebildete staatliche Autorität bzw. Kolonialverwaltung.(172f.)

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/21/COLLECTIE_TROPENMUSEUM_Jonge_tabaksaanplant_op_helling_Deli_TMnr_10011729.jpg
Junge Tabakplantage kurz nach der Rodung (Tropenmuseum Amsterdam)

Zangger vergleicht die Schweizer (und die anderen Europäer in Sumatra) mit «kolonialen Junkern».

«Im romantischen Selbstverständnis kommt dem individuellem Erleben eine besondere Bedeutung zu, und es zeichnet sich durch rückwärts gewandte Ideen natürlicher, ständischer Ordnung aus. Das romantische Bild des kolonialen Junkerturns, wie ich es nenne, hat zwei Pole. Der eine ist die Idee gesellschaftlicher Ordnung und deutlich abgegrenzter Eliten, wie es in der militärisch und stark hierarchisch geschichteten Gesellschaft Delis besonders deutlich zum Ausdruck kam. Der andere Pol betont den Aspekt der Selbstbehauptung, sowohl ökonomisch als auch moralisch in Form einer bestimmten Idee von Männlichkeit.» (175)

Auf Sumatra herrschte unter den Pflanzern also ein ähnliches Selbstverständnis vor wie in den amerikanischen Südstaaten oder bei den preussischen Junkern.

Haus von Pflanzern „Perséverence“ in Deli, ca. 1870. (Tropenmuseum Amsterdam)

Arbeitskräfte für die Plantagen zu finden war schwierig, die Pflanzer «beschränkten sich bald weitgehend auf chinesische Arbeiter, denn diese galten als fleißig und als empfänglich für Anreizsysteme wie Geld, freie Zeit oder Akkord. Ende der 1870er Jahre übertraf die Zahl der importierten Arbeitskräfte diejenige der malaiischen Bevölkerung. 1900 waren bereits 100.000 Arbeiter aus China und Java an der Ostküste tätig (…)  Der Import von Arbeitskräften nach Sumatra ist damit Teil der globalen Arbeitsmigrationsbewegungen nach der Abschaffung der Sklaverei», sogenanntem «indentured labour»; die Kontraktarbeiter wurden meist «Kulis» genannt.

Chinesische Arbeiter und Aufsichtspersonen (Vorarbeiter) in Deli. (Tropenmuseum Amsterdam)

Misshandlungen, etwa das zu Tode geisseln von Kulis kamen vor, Untersuchungen stiessen meist auf eine Komplizenschaft des Schweigens, die weissen Farmer schwärzten einander nicht an (252).

Auch auf den Plantagen herrschte Frauenmangel, das Zusammenleben mit einheimischen Frauen, das dann nach einer Heirat im Heimaturlaub aufgelöst wurde, war für Unverheiratete die Regel (282)

Die Tabakkultur erlebte zwischen 1880 und 1887 einen Boom, brach nach der Einführung neuer Zölle in den USA aber weitgehend ein, was zum Konkurs sehr vieler Plantagengesellschaften führte. In den 1890er-Jahren setzte dann eine Erholung ein. Schweizer als Besitzer von Tabakplantagen verschwanden aber, viele Pflanzer der ersten Generation wurden durch den Verkauf ihrer zu kleinen Plantagen an grosse holländische Gesellschaften vermögend und kehrten in die Schweiz zurück. Es gab aber für einen neuen Typ «Manager» aus der Schweiz nach wie vor Arbeit und Karrierechancen. Dieser neue Typ zeichnete sich durch buchhalterische Fähigkeiten oder durch Anwendung rationaler Methoden im Landbau aus, er unterschied sich also von den alten prototypischen Pflanzern, die selbständige Unternehmer waren und stolz darauf, sich im «Kampf ums Dasein» bewährt zu haben (221).

«Die Rubber-Kultur auf Sumatra begann 1905 und nahm einen solch rasanten Aufschwung, dass Hevea innerhalb weniger Jahre zur bedeutendsten Plantagenkultur wurde.» Latex spielte als Rohstoff in der zweiten Industrialisierung mit Elektrotechnik (Isoliermaterial für Überseekabel) und dann der aufkommenden Automobilindustrie eine wichtige Rolle. Die Nachfrage übertraf das Angebot, die Preise stiegen. (221)

Die etablierten Kaufleute in Singapur betrachteten die meist jungen Landsleute auf Sumatra mit Skepsis, sprachen von «pflänzerle»:

«lm Ausdruck ,pflänzerlen' verdichtet sich die Skepsis der Kaufleute in doppelter Hinsicht: Es zeigt sich darin nicht nur die Herablassung des städtischen Kaufmanns gegenüber dem bäuerlichen Plantagenuntemehmer mit dem Geruch seiner bäuerlichen Tätigkeit, ,pflänzerlen' riecht auch nach schnellem und vergänglichem Geld, das dem langfristig planenden, vorsichtigen und auf gute Verbindungen zur Schweizer Exportwirtschaft setzenden Kaufmann anrüchig erscheint. Handelshäuser in Singapur waren in die schweizerische Exportwirtschaft eingebunden. Die Karrierewege waren mehr oder weniger transparent.»(263)

Während sich die Kaufleute in Singapur meist aus dem Umfeld der Ostschweizer Textilexportindustrie rekrutierten, war Sumatra attraktiv für junge abenteuerlustige Kaufleute, die in ihrem Beruf keine Karrieremöglichkeiten sahen, aber auch für ein in der Schweiz verschwindendes bürgerliches Milieu, das sich an Wertvorstellungen von adeligen Grossgrundbesitzern orientierte (265)

Bildergebnis für TropenspiegelEinige Pflanzer haben ihre Erfahrungen in Sumatra literarisch umgesetzt, verschiedene mehr oder weniger getreue Tatsachenromane wie «Tropenspiegel», «Mein Mörder auf Sumatra», «Nachtwache» (alle G. Rudolph Baumann», «Unter malayischer Sonne: Reisen, Reliefs, Romane»  (Paul Naef)  und «Die Unverbindlichen» (Alfred Keppler) sind entstanden.

Teil C: Vernetzungen und Verflechtungen – Die Schweiz in Südostasien – Südostasien in der Schweiz

In diesem Teil geht Zangger auf einige Verflechtungen zwischen der Schweiz und Kolonien ein. Er zeigt z.B. auf, wie die Versicherungsbranche über Transportversicherungen für Transporte aus und von Kolonien gross wurde und sich dabei auf die Handelsnetze der Textilimporteure stützen konnte (299). Auch zeichnet er das Verhältnis zwischen Kapitalgebern (in der Schweiz bzw. anderen europäischen Ländern) und den Managern in den Tropen nach. Dies macht er u.a. am Beispiel von Seminardirektor und Naturforscher Heinrich Zollinger, der schon früh im Auftrag der niederländischen Regierung in Java tätig gewesen war und nach seinem Rücktritt als Seminardirektor in Küsnacht eine Plantagengesellschaft für Kokos in Ostjava gründete und weitere Forschungen unternahm (324).

Auch die Verflochtenheit der Familie von Generalstabschef Theophil von Sprecher mit ihren Plantagengesellschaften wird berührt, die Sprechers konnten in Sumatra ihren Ideen von Grossgrundbesitz und militärischer Disziplin verwirklichen (330).

Der Zirkulation von Forschern, Objekten und Wissen ist ein weiteres Kapitel in diesem Teil gewidmet

«Das niederländische Kolonialreich war traditionellerweise durchlässig für Europäer anderer Nationen und rekrutierte viele Schweizer als Soldaten, Chirurgen und später als Wissenschaftler» (351). Die Kooperation mit Forschern in den Kolonien förderte auch die Forschung in der Schweiz, die naturforschenden und die ethnographischen Gesellschaften waren dabei wichtig für Forschung und Verbreitung. Andreas Zangger berichtet unter anderem von Fritz und Paul Sarasin, deren Biographien und Wirken ja dann 2015 von Bernhard C. Schär in «Tropenliebe» sehr detailliert dargestellt worden sind. Die Botanik in der Schweiz stand in regem Austausch mit dem botanischen Garten Buitenzorg in Java, ansonsten waren meistens im Ausland lebende Schweizer aufgerufen, Objekte für Sammlungen von Hochschulen und für Museen zusammenzutragen, da die Schweiz ja im Unterschied zu den Staaten mit Kolonien keine staatlichen Möglichkeiten hatte, in den Tropen Material zu sammeln.

Schlusswort

Villa Patumbah, Zürich. Erbaut mit dem mit einer Tabakplantage in Sumatra erzielten Gewinn. (Wikipedia)

In seinem Schlusswort schreibt Zangger, dass die offizielle Schweiz tatsächlich nur am Rande in den Kolonialisumus involviert war, dass eine Geschichte der Schweiz jedoch über die politischen Institutionen hinausgehe und die Gesellschaft als Ganzes betreffe. «Unter den Eliten in der Schweiz bestand offenbar ein Konsens, dass der Anschluss an Gebiete in Übersee, über die Exportwirtschaft und zivilgesellschaftliche Institutionen organisiert werde.» (433). Die Schweizer befanden sich im wirtschatlichen Verhältnis zu den Kolonialisatoren in einer Aussenseiterposition, da die profitabelsten Unternehmungen meist in den Händen der imperialen Mächte waren, sie also Nischen finden mussten.

Gesellschaftlich gehörten die Schweizer aber zur weissen kolonialen Oberschicht und rechtlich nutzten sie die Privilegien von Europäern in den Kolonien (435). Sie förderten so als Pflanzer an den Siedlungsrändern z.B. die Ausbreitung des faktischen Kolonialgebietes und unterstützten die Kontraktarbeit.

«Das System zeigt bis heute Nachwirkungen auf die Ökologie der Region, die Landnutzung und die ethnische Zusammensetzung der Gesellschaft, alles Ursachen von sozialen Spannungen.» (436)

Die im Ausland lebenden Schweizer übernahmen und reproduzierten koloniale Denkmuster.

«Dies beinhaltet unter anderem ein elitäres Selbstverständnis, soziale Abgrenzung gegenüber Asiaten in rassistischen Denkmustern sowie die Legitimation europäischer Expansion durch die Gegenüberstellung von Tradition und Modeme bzw. Natur und Zivilisation.» (436)

Zusammenfassend schreibt Zangger, dass «die Schweiz als Staat nicht imperialistisch auftrat, dass jedoch zahlreiche Institutionen der schweizerischen Gesellschaft mit der Ausgestaltung des Kolonialismus sehr wohl in vielen verschiedenen Facetten zu tun hatten.» (436)

«Zusammenfassend können also wesentliche Merkmale helvetischen Selbstverständnisses -  die Aufgabenteilung von Wirtschaft und Politik, die Bedeutung des Bildungsstandorts und die Verpflichtung zu kultureller Versatilität als Reaktionen auf die imperialen Strategien der Großmächte gelesen werden.  Es ist die Antwort eines relativ kleinen, bürgerlichen Landes ohne Kolonien auf das Verhältnis Europas zur Welt. Sie wirkt bis heute nach.» (442)

0 Die Seitenzahlen beziehen sich auf die 2011 bei transcript erschienene Fassung (gedruckte Version und e-Book)
1 Mann, Michael (2006). Globalization, Macra-Regions and Nation-States. In: G. Budde u. S. Conrad (Eds.). Transnationale Geschichte Themen, Tendenzen und Theorien, 21-31.
2 Conrad, S. (2006). Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, 11
3 Randeria, Shalini u. Sebastian Conrad (2002). Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: dies. (Eds.) (2002), 17