Koloniale Schweiz

«Koloniale Schweiz – Ein Stück Globalgeschichte zwischen Europa und Südostasien (1860 – 1930)»

Die 2011 bei transcript erschienene Dissertation von Andreas Zangger geht der Frage nach, wie sich Schweizer zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und 1930 in Singapur und auf Sumatra etablierten, in welchem Verhältnis die Migranten aus der Schweiz zu den kolonialen Strukturen in der Region standen und welche Rückwirkungen ihre dortige Anwesenheit auf die Schweiz hatte. (434)0

Einleitung

In der Einleitung weist Zangger u.a. darauf hin, dass die Migration aus der Schweiz nach Südostasien nicht dem Konzept «Auswandern» folgte, das immer eine Aufgabe einer Existenz im Herkunftsland beinhaltet. Schweizer Migration folgte dem Konzept «Im Ausland leben», das auf eine künftige Rückkehr hindeutet und die Kontakte mit dem Herkunftsland nicht abbrechen lässt. (20)

Zangger schreibt ein Stück «History of Entanglement» bzw. Verflechtungsgeschichte. Den grösseren Rahmen zitiert er so:

«Die Bedeutung des Nationalstaats hat zeitgleich zur Globalisierung an Bedeutung gewonnen1
Conrad bezeichnet die Geschichte der modernen Welt als eine Geschichte homogenisierender Effekte und wechselseitiger Aneignung und gleichzeitig als Geschichte der Abgrenzungen, der Brüche und des Bedürfnisses nach Partikularität2
Geschichte ist so im doppelten Sinne des Wortes geteilt: gemeinsam und getrennt3
Verflechtungsgeschichte versucht die gegenseitigen Einflüsse und die Abgrenzungen zugleich begreifbar zu machen. Die Verwobenheit der Welt impliziert dabei nicht Abwesenheit von Ungleichheit, Macht und Gewalt.»

Bei seiner Quellenarbeit kann sich Zangger auch auf Firmenarchive stützen, namentlich das Firmenarchiv der Diethelm Keller Holding, in die das Handelshaus Diethelm & Co aufgegangen ist (vgl. auch Diethelm Keller).

Teil A «Kaufleute im kolonialen Singapur: Netzwerkbildung im Handel mit Ostschweizer Geweben.»

Zangger beschreibt in wenigen Sätzen die Gründungsgeschichte Singapurs:

«Im Mittelalter stand eine Handelsstadt mit Namen Temasek auf der Insel an der Südspitze der malaysischen Halbinsel. Ihre Ruinen waren bereits wieder im Dschungel versunken, als Sir Stamford Raffles, Beamter der British East lndia Company, 1819 dort eine neue Stadt gründete, wobei er einen Erbstreit im Sultanat Johor ausnutzte (…)  Zugleich überrumpelte er seine Vorgesetzten in Calcutta, welche die Niederländer nicht mit einem Eingriff in ihre Einflusssphäre brüskieren wollten. Raffles ging es darum, die Opiumhandelsroute von Indien nach China zu schützen, ein Plan, der Unterstützung in London fand. Gleichzeitig schwebte ihm vor, mit einem neuen Handelsposten die niederländische Vorherrschaft im Handel mit dem malaiischen Archipel zu brechen. Freihandel war der Schlüssel, der zum Wachstum der Hafenstadt führen sollte. Freihandel bedeutete sowohl, dass der Handel im Hafen nicht mit Zöllen beschränkt werden sollte, als auch, dass der Hafen allen Nationen offen stehen sollte.» (51)

Die schon lange in Südostasien ansässigen chinesischen Kaufleute waren als «Mittelspersonen» zwischen Verkäufern und Endverbrauchern für die europäischen Handelshäuser absolut unerlässlich. «Die Gründung Singapurs unterstützte diesen Prozess wesentlich, da sich dort viele chinesische Kaufleute niederließen und ihre Netzwerke im Archipel von dort aus oder dorthin ausweiten und verstärken konnten.» (52)

Boat Quay Singapur 1888, Museum Volkenkunde, Leiden

Der Freihandel florierte bald und die Bevölkerung Singapurs wuchs stark. Zu einem weiteren Entwicklungsschub führten die Dampfschifftechnik und die Eröffnung des Suez-Kanals 1870. Insbesondere Deutsche und Schweizer drängten in den fünf Jahren vor und nach der Eröffnung des Suezkanals auf den Markt (57). Aus Europa wurden hauptsächlich Webstoffe und Textilwaren aus Baumwolle importiert. Mitte des 19. Jahrhunderts waren in Singapur aber Opium, Textilien, Pfeffer und Reis Haupthandelsgüter, um 1875 kam dann Zinn, ab 1910 Gummi dazu. Diese beiden Güter machten 1915 bereits 40% des Handelsvolumens Singapurs aus (57).

Textilexporte aus der Ostschweiz nach Asien, insbesondere aus der Buntweberei im Toggenburg und der Stoffdruckerei in Glarus waren eine Zeit lang sehr erfolgreich. Der Erfolg dieser Industrie beruhte auf handwerklichem Können, billiger Arbeitskraft in der Ostschweiz und einem guten Kommunikations- und Beziehungsnetz, das ein tragfähiges Vertriebssystem zwischen der Schweiz und Südostasien ermöglichte. Dieses Vertriebssystem beruhte wesentlich auf «Schweizer Kolonien», d.h. Handelsniederlassungen in Schweizer Hand oder mit Schweizer Beteiligung. Die dort arbeitenden Schweizer Kaufleute waren häufig Verwandte der Patrons in der Ostschweiz oder Angestellte, die sich zu Beginn ihrer Karriere in den Hafenstädten niederliessen.

Die erfolgreichen Exporte verdrängten die lokale Produktion mehr und mehr. Zangger zitiert aus einem Brief des Winterthurer Kaufmanns Bernhard Rieter aus Manila aus dem Jahre 1843:

«Alle diese Vortheile  [ ... ] helfen dem Indier aber nicht viel, um mit seiner gesamten Kraftanstrengung gegen die alles überwältigende & vertilgende Europäische Industrie anzukämpfen & wenn es mir [ ... ] eben nicht geziemt den Verfechter der indischen Industrie zu machen, so wünschte ich doch, man würde die armen Menschen nicht so mit fremden Waaren überschwemmen & ihnen ruhig ihren Erwerb gönnen. Allein unsere Civilisation wächst ihnen über die Köpfe [ ... ] & muss sie am Ende aus ihrer Arbeit vertreiben[ ... ]. Was wird aus diesen Leuten am Ende werden?» (60).

Dass z.B. Batik aus Glarus so guten Absatz fand, war auf ein genaues Studium der südostasiatischen Märkte, der Analyse der Nachfrage und dem Sammeln von Mustern zurückzuführen.

Musterbuch aus Glarus (Glarner Wirtschaftsarchiv)

Der Handel via Singapur als Freihandelshafen ermöglichte, die Marktkontrolle durch die europäischen Kolonialmächte zu umgehen. Ein Wettbewerbsvorteil der Schweizer Kaufleute war auch ihre «kulturelle Versatiltität», so lernten sie mindestens die auf den Bazaren übliche Umgangssprache und fanden schnell Umgang mit «Käufern aller Rassen des Ostens» (auch wenn die kolonialrassistische Hierarchie dabei immer gewahrt blieb). Zangger zitiert aus einer Beschreibung des Singapurer Kaufmanns Otto Alder, der 1849-1873 Schweizer «Überseer» war:

«Aber noch ein anderer Faktor machte sie schätzenswert, das war die Art ihres Umgangs mit den Käufern aller Rassen des Ostens. Von Hause aus schon gewohnt als Republikaner alten Schlages auch mit in bezug auf Bildung und Rang unter ihnen Stehenden leutselig zu verkehren, begegneten sie den Asiaten in gleicher Weise und erwarben sich deren Sympathie, so dass sie sich als Verkäufer vorzüglich eigneten.» (61)

Zangger schildert das Leben der Schweizer Kaufleute in Singapur, das mit einem relativ hohen Lohn verbunden war, aber gerade für Assistenten auch entbehrungsreich (Heiratsverbot, grosse soziale Kontrolle durch Einbindung in das abgesonderte soziale Leben der Europäer, in die deutschsprachigen Vereine bzw. den Schweizer Club). Ehen mit Einheimischen waren verpönt und hatten lange eine Art soziale Ächtung zur Folge, der «koloniale Rassismus», d.h. das System, das verschiedenen ethnischen Gruppen verschiedene Rollen in der Gesellschaft zuwies, verbot Beziehungen mit Einheimischen zu legalisieren. (129)

Ein interessantes Kapitel handelt vom «Branding»: Handel hatte sich anders als soziale Beziehungen natürlich über ethnische Grenzen hinweg abzuspielen. Doch waren Beziehungen über diese Grenzen hinweg prekär, da sie angesichts des kolonialen Rassismus sozial wenig abgestützt waren. Weil Handel, abgestützt auf persönliches Vertrauen so nicht möglich war und andererseits die Rechtsgrundlagen für unpersönlichen Handel fehlten, wurde der Handel mit Markenprodukten zu eine Zwischenform zwischen dem Handel aufgrund persönlicher Beziehungen und dem unpersönlichen Handel mit Gütern. Brands stiessen auf Interesse in einer Kultur, in der Authentisierung oder Autorisierung eine wichtige Bedeutung hat. Man kann also sagen, dass ,branding‘ als wirtschaftliche Praxis in Singapur als Lösung für ein kulturelles Problem, nämlich den kolonialen Rassismus, diente. (439) Branding setzte sich ausserhalb von Europa als Praxis zur Lösung eines neuen Problems, das im imperialen Kontext aufgetaucht war, durch (440).

Marken von Diethelm Keller (Firmengeschichte)

Teil B Ausländer in der Plantagenkultur Ostsumatras –  Glücksritter, Junker und Technokraten

Teil B beschäftigt sich mit der Plantagenkultur an der Ostküste Sumatras. «Erst wurde hauptsächlich Tabak angebaut, später kamen Kaffee, Rubber, Palmöl und Tee hinzu. Die Europäer organisierten – anders als auf Java – im Sultanat Deli und darüber hinaus den Anbau auf den Plantagen von Beginn an selbst. Es entwickelte sich das weltweit größte koloniale Projekt tropischer Agrikultur. (169)

Die Holländer hatten 1870 das von ihnen kaum kontrollierte relativ kleine Gebiet auch für ausländisches Kapital geöffnet. Zangger wählt den Begriff «Frontier» – im Gegensatz zur «Kontaktzone» in Singapur – um deutlich zu machen, dass die Inbesitznahme von Land durch Europäer als Zivilisationsschritt in der Wildnis angesehen und dabei die bisherige Landnutzung durch Indigene schlicht ausgeblendet wurde. Weil es sich um eine allmähliches Vordringen handelte, blieben eigentliche Kriege aus, aber lange dauernde schwelende Konflikte waren die Regel. Auch gab es (wie in anderen Frontiers in Amerika und Sibirien) nur eine sehr schwach ausgebildete staatliche Autorität bzw. Kolonialverwaltung.(172f.)

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/21/COLLECTIE_TROPENMUSEUM_Jonge_tabaksaanplant_op_helling_Deli_TMnr_10011729.jpg
Junge Tabakplantage kurz nach der Rodung (Tropenmuseum Amsterdam)

Zangger vergleicht die Schweizer (und die anderen Europäer in Sumatra) mit «kolonialen Junkern».

«Im romantischen Selbstverständnis kommt dem individuellem Erleben eine besondere Bedeutung zu, und es zeichnet sich durch rückwärts gewandte Ideen natürlicher, ständischer Ordnung aus. Das romantische Bild des kolonialen Junkerturns, wie ich es nenne, hat zwei Pole. Der eine ist die Idee gesellschaftlicher Ordnung und deutlich abgegrenzter Eliten, wie es in der militärisch und stark hierarchisch geschichteten Gesellschaft Delis besonders deutlich zum Ausdruck kam. Der andere Pol betont den Aspekt der Selbstbehauptung, sowohl ökonomisch als auch moralisch in Form einer bestimmten Idee von Männlichkeit.» (175)

Auf Sumatra herrschte unter den Pflanzern also ein ähnliches Selbstverständnis vor wie in den amerikanischen Südstaaten oder bei den preussischen Junkern.

Haus von Pflanzern „Perséverence“ in Deli, ca. 1870. (Tropenmuseum Amsterdam)

Arbeitskräfte für die Plantagen zu finden war schwierig, die Pflanzer «beschränkten sich bald weitgehend auf chinesische Arbeiter, denn diese galten als fleißig und als empfänglich für Anreizsysteme wie Geld, freie Zeit oder Akkord. Ende der 1870er Jahre übertraf die Zahl der importierten Arbeitskräfte diejenige der malaiischen Bevölkerung. 1900 waren bereits 100.000 Arbeiter aus China und Java an der Ostküste tätig (…)  Der Import von Arbeitskräften nach Sumatra ist damit Teil der globalen Arbeitsmigrationsbewegungen nach der Abschaffung der Sklaverei», sogenanntem «indentured labour»; die Kontraktarbeiter wurden meist «Kulis» genannt.

Chinesische Arbeiter und Aufsichtspersonen (Vorarbeiter) in Deli. (Tropenmuseum Amsterdam)

Misshandlungen, etwa das zu Tode geisseln von Kulis kamen vor, Untersuchungen stiessen meist auf eine Komplizenschaft des Schweigens, die weissen Farmer schwärzten einander nicht an (252).

Auch auf den Plantagen herrschte Frauenmangel, das Zusammenleben mit einheimischen Frauen, das dann nach einer Heirat im Heimaturlaub aufgelöst wurde, war für Unverheiratete die Regel (282)

Die Tabakkultur erlebte zwischen 1880 und 1887 einen Boom, brach nach der Einführung neuer Zölle in den USA aber weitgehend ein, was zum Konkurs sehr vieler Plantagengesellschaften führte. In den 1890er-Jahren setzte dann eine Erholung ein. Schweizer als Besitzer von Tabakplantagen verschwanden aber, viele Pflanzer der ersten Generation wurden durch den Verkauf ihrer zu kleinen Plantagen an grosse holländische Gesellschaften vermögend und kehrten in die Schweiz zurück. Es gab aber für einen neuen Typ «Manager» aus der Schweiz nach wie vor Arbeit und Karrierechancen. Dieser neue Typ zeichnete sich durch buchhalterische Fähigkeiten oder durch Anwendung rationaler Methoden im Landbau aus, er unterschied sich also von den alten prototypischen Pflanzern, die selbständige Unternehmer waren und stolz darauf, sich im «Kampf ums Dasein» bewährt zu haben (221).

«Die Rubber-Kultur auf Sumatra begann 1905 und nahm einen solch rasanten Aufschwung, dass Hevea innerhalb weniger Jahre zur bedeutendsten Plantagenkultur wurde.» Latex spielte als Rohstoff in der zweiten Industrialisierung mit Elektrotechnik (Isoliermaterial für Überseekabel) und dann der aufkommenden Automobilindustrie eine wichtige Rolle. Die Nachfrage übertraf das Angebot, die Preise stiegen. (221)

Die etablierten Kaufleute in Singapur betrachteten die meist jungen Landsleute auf Sumatra mit Skepsis, sprachen von «pflänzerle»:

«lm Ausdruck ,pflänzerlen' verdichtet sich die Skepsis der Kaufleute in doppelter Hinsicht: Es zeigt sich darin nicht nur die Herablassung des städtischen Kaufmanns gegenüber dem bäuerlichen Plantagenuntemehmer mit dem Geruch seiner bäuerlichen Tätigkeit, ,pflänzerlen' riecht auch nach schnellem und vergänglichem Geld, das dem langfristig planenden, vorsichtigen und auf gute Verbindungen zur Schweizer Exportwirtschaft setzenden Kaufmann anrüchig erscheint. Handelshäuser in Singapur waren in die schweizerische Exportwirtschaft eingebunden. Die Karrierewege waren mehr oder weniger transparent.»(263)

Während sich die Kaufleute in Singapur meist aus dem Umfeld der Ostschweizer Textilexportindustrie rekrutierten, war Sumatra attraktiv für junge abenteuerlustige Kaufleute, die in ihrem Beruf keine Karrieremöglichkeiten sahen, aber auch für ein in der Schweiz verschwindendes bürgerliches Milieu, das sich an Wertvorstellungen von adeligen Grossgrundbesitzern orientierte (265)

Bildergebnis für TropenspiegelEinige Pflanzer haben ihre Erfahrungen in Sumatra literarisch umgesetzt, verschiedene mehr oder weniger getreue Tatsachenromane wie «Tropenspiegel», «Mein Mörder auf Sumatra», «Nachtwache» (alle G. Rudolph Baumann», «Unter malayischer Sonne: Reisen, Reliefs, Romane»  (Paul Naef)  und «Die Unverbindlichen» (Alfred Keppler) sind entstanden.

Teil C: Vernetzungen und Verflechtungen – Die Schweiz in Südostasien – Südostasien in der Schweiz

In diesem Teil geht Zangger auf einige Verflechtungen zwischen der Schweiz und Kolonien ein. Er zeigt z.B. auf, wie die Versicherungsbranche über Transportversicherungen für Transporte aus und von Kolonien gross wurde und sich dabei auf die Handelsnetze der Textilimporteure stützen konnte (299). Auch zeichnet er das Verhältnis zwischen Kapitalgebern (in der Schweiz bzw. anderen europäischen Ländern) und den Managern in den Tropen nach. Dies macht er u.a. am Beispiel von Seminardirektor und Naturforscher Heinrich Zollinger, der schon früh im Auftrag der niederländischen Regierung in Java tätig gewesen war und nach seinem Rücktritt als Seminardirektor in Küsnacht eine Plantagengesellschaft für Kokos in Ostjava gründete und weitere Forschungen unternahm (324).

Auch die Verflochtenheit der Familie von Generalstabschef Theophil von Sprecher mit ihren Plantagengesellschaften wird berührt, die Sprechers konnten in Sumatra ihren Ideen von Grossgrundbesitz und militärischer Disziplin verwirklichen (330).

Der Zirkulation von Forschern, Objekten und Wissen ist ein weiteres Kapitel in diesem Teil gewidmet

«Das niederländische Kolonialreich war traditionellerweise durchlässig für Europäer anderer Nationen und rekrutierte viele Schweizer als Soldaten, Chirurgen und später als Wissenschaftler» (351). Die Kooperation mit Forschern in den Kolonien förderte auch die Forschung in der Schweiz, die naturforschenden und die ethnographischen Gesellschaften waren dabei wichtig für Forschung und Verbreitung. Andreas Zangger berichtet unter anderem von Fritz und Paul Sarasin, deren Biographien und Wirken ja dann 2015 von Bernhard C. Schär in «Tropenliebe» sehr detailliert dargestellt worden sind. Die Botanik in der Schweiz stand in regem Austausch mit dem botanischen Garten Buitenzorg in Java, ansonsten waren meistens im Ausland lebende Schweizer aufgerufen, Objekte für Sammlungen von Hochschulen und für Museen zusammenzutragen, da die Schweiz ja im Unterschied zu den Staaten mit Kolonien keine staatlichen Möglichkeiten hatte, in den Tropen Material zu sammeln.

Schlusswort

Villa Patumbah, Zürich. Erbaut mit dem mit einer Tabakplantage in Sumatra erzielten Gewinn. (Wikipedia)

In seinem Schlusswort schreibt Zangger, dass die offizielle Schweiz tatsächlich nur am Rande in den Kolonialisumus involviert war, dass eine Geschichte der Schweiz jedoch über die politischen Institutionen hinausgehe und die Gesellschaft als Ganzes betreffe. «Unter den Eliten in der Schweiz bestand offenbar ein Konsens, dass der Anschluss an Gebiete in Übersee, über die Exportwirtschaft und zivilgesellschaftliche Institutionen organisiert werde.» (433). Die Schweizer befanden sich im wirtschatlichen Verhältnis zu den Kolonialisatoren in einer Aussenseiterposition, da die profitabelsten Unternehmungen meist in den Händen der imperialen Mächte waren, sie also Nischen finden mussten.

Gesellschaftlich gehörten die Schweizer aber zur weissen kolonialen Oberschicht und rechtlich nutzten sie die Privilegien von Europäern in den Kolonien (435). Sie förderten so als Pflanzer an den Siedlungsrändern z.B. die Ausbreitung des faktischen Kolonialgebietes und unterstützten die Kontraktarbeit.

«Das System zeigt bis heute Nachwirkungen auf die Ökologie der Region, die Landnutzung und die ethnische Zusammensetzung der Gesellschaft, alles Ursachen von sozialen Spannungen.» (436)

Die im Ausland lebenden Schweizer übernahmen und reproduzierten koloniale Denkmuster.

«Dies beinhaltet unter anderem ein elitäres Selbstverständnis, soziale Abgrenzung gegenüber Asiaten in rassistischen Denkmustern sowie die Legitimation europäischer Expansion durch die Gegenüberstellung von Tradition und Modeme bzw. Natur und Zivilisation.» (436)

Zusammenfassend schreibt Zangger, dass «die Schweiz als Staat nicht imperialistisch auftrat, dass jedoch zahlreiche Institutionen der schweizerischen Gesellschaft mit der Ausgestaltung des Kolonialismus sehr wohl in vielen verschiedenen Facetten zu tun hatten.» (436)

«Zusammenfassend können also wesentliche Merkmale helvetischen Selbstverständnisses -  die Aufgabenteilung von Wirtschaft und Politik, die Bedeutung des Bildungsstandorts und die Verpflichtung zu kultureller Versatilität als Reaktionen auf die imperialen Strategien der Großmächte gelesen werden.  Es ist die Antwort eines relativ kleinen, bürgerlichen Landes ohne Kolonien auf das Verhältnis Europas zur Welt. Sie wirkt bis heute nach.» (442)

0 Die Seitenzahlen beziehen sich auf die 2011 bei transcript erschienene Fassung (gedruckte Version und e-Book)
1 Mann, Michael (2006). Globalization, Macra-Regions and Nation-States. In: G. Budde u. S. Conrad (Eds.). Transnationale Geschichte Themen, Tendenzen und Theorien, 21-31.
2 Conrad, S. (2006). Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, 11
3 Randeria, Shalini u. Sebastian Conrad (2002). Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: dies. (Eds.) (2002), 17

Fristerstreckung für die Vergangenheit (Ludwig Hasler)

Reden über die Schweiz – ein Kleinstaat und die grosse Welt
Applied History Lectures Sommersemester 2016

«Die Schweiz hat eine weltweit fast einzigartig «gute» Geschichte: Niemals war sie aggressiver Machtstaat, stets eher Mittlerin und während grosser Kriege neutral; meist weltoffen, bot sie vielen Verfolgten Asyl. Ihre innere kulturelle Vielfalt schulte in Pragmatismus und Kompromiss. Ihre Sozialsysteme suchen weithin ihresgleichen, ihr öffentlicher Nahverkehr funktioniert pünktlich. In der jüngeren Vergangenheit haben sich die Rahmenbedingungen des langwährenden eidgenössischen Glücks verändert. Swissair-Grounding und Erosion des Bankgeheimnisses sind nur zwei Stichworte. Kritiker beobachten Ausländerfeindlichkeit, einen neuen Nationalismus, deren Ausdruck Minarett-Verbot und Einwanderungsinitiative sind. Unverkennbar ist wachsende Distanz zu Grossorganisationen wie der Europäischen Union. Unsere Gesprächsreihe versucht, den Stand der Dinge zu reflektieren.» So die Ankündigung der «Applied History Lectures» der Universität Zürich im Sommersemester 2016.

Prominente Gäste aus Kultur, Politik und Wissenschaft diskutieren mit dem Politikwissenschaftler und Journalisten Stephan Klapproth.

Hasler
Bild CC mediXTv

Am ersten Themenabend unterhält sich Stephan Klapproth mit Ludwig Hasler (*1945), der Physik und Philosophie studierte und sowohl akademisch wie journalistisch (Chefredaktor St. Galler Tagblatt und der alten Weltwoche) tätig war.

Klapproth macht eine fulminante Einführung zum Zyklus, zitiert Heirich Heine: «Die Schweizer haben Gefühle, so erhaben wie ihre Berge, aber ihre Ansichten der Gesellschaft sind so eng wie ihre Täler.» und sein erstes journalistisches Vorbild Niklaus Meienberg: «Wo Berge sich erheben, wie Bretter vor dem Kopf» (Elegie über den Zufall der Geburt, für Blaise Cendrars).

Dann stellt er Ludwig Hasler vor, nennt ihn den «Sokrates von Zollikon».

Ludwig Hasler beginnt seine Ausführungen, damit dass die Schweiz im eben erschienenen World Happiness Report hinter Dänemark nur noch den zweiten Rang einnimmt, was ja immer noch auf ein sehr glückliches Land schliessen lässt. Aber: «Wir mögen glücklich sein, aber man sieht es uns nicht an». Oder mit Hugo Lötscher: «Wir Schweizer sind im Prinzip muff». (Die Waschküchenschüssel – oder was wenn Gott Schweizer wäre).

Hasler meint, Schweizer zu sein sei mehr eine Erinnerung als ein Faktum. Er beruft sich für diese Aussage auf John Locke (vgl. dazu einen Vortrag von Reinhardt Brandt an der Uni Marburg): Was Identität stiftet ist nur das Erinnern. Locke stellte sich vor, dass ein Fürst mit den Erinnerungen eines Schusters aufwache und der Schuster mit den Erinnerungen des Fürsten. Der Fürst wacht wie üblich in seinem Palast auf, und äusserlich ist er dieselbe Person, die er war, als er sich schlafen legte. Aber da er statt seiner eigenen Erinnerungen die des Schusters hat, meint er, der Schuster zu sein.1

Für Fragen der Identität zählt nur die psychische Identität. Es stellt sich also die Frage: Woran erinnern sich Schweizerinnen und Schweizer, wenn sie mal aufwachen… An Heidi, Schellenursli? Beide Geschichten erzählen vom glücklich Sein in den Bergen (und nur dort – in Frankfurt war Heidi ja überhaupt nicht glücklich)

Heidi
Heidi 1922, PD , Wikimedia

Johann Jakob Scheuchzer (1672 – 1733, Zürich) glaubte, er könne diese Erinnerungsqualität fixieren. Scheuchzer sah in jedem Entwicklungsschub einen göttlichen Impuls, in seiner «Jobi Physica Sacra» verfolgt er die Absicht zu zeigen, dass der Theologie nicht nur der Weg des biblischen Offenbarungsglaubens offen steht, sondern dass Naturerkenntnis zum Verständnis der Bibel führt. Die Alpen waren für ihn gleichsam pädagogische Kulisse für die Erziehung des einheimischen Geschlechts, des «homo alpinus»: redlich, gerecht, mutig und automatisch auch bescheiden.

Hinter dieser Ansicht steckte natürlich schon immer mehr Ideologie als Empirie, zu Scheuchzers Zeit waren bereits viele Hugenotten in die Schweiz eingewandert, eine Vorhut der Moderne, die auch die Uhrenindustrie und die Banken begründeten.

Aber auch war die Herkunft aus den Bergen vor allem Symbolik, der Wunsch des kompletten Übereinstimmens von Denken, Fühlen, Handeln, wie sie nur in den Bergen zu haben sein schien, in einem einfachen alpinen Dasein ohne Entfremdung.

Interessanterweise sind solche Vorstellungen in den meisten Ländern begleitet von völkischen Vorstellungen, was in der Schweiz aber nicht der Fall war. Sie brachte es fertig, den Staat auf Diversität aufzubauen: Berge statt Rasse, gegen Feinde von aussen wie gegen die Erosion durch die Moderne.

Schweizerinnen und Schweizer sehen sich gerne als Kinder einer vorgesellschaftlichen Natur, haben mit der Moderne lieber nichts zu tun. Ist das so? Oder einfach nur Erinnerung?

Scheuchzer spricht wohl von einer Teilwahrheit. In den Bergen hat es keine Bodenschätze, kein Öl. Wir müssen uns selber helfen. Nicht klein beizugeben ist eine Überlebensnotwendigkeit. In dem sich der schweizerische Mensch den Umständen anpasste, machte er sich stark.

Lange wanderten Tausende aus, aber im 20. Jahrhundert wurde die Schweiz eine globale Erfolgsstory. Mit der alpinen Mentalität konnte man also reich werden. Aber kann man auch reich bleiben?

Weil wir in der Schweiz ein so fabelhaftes Leben haben, wollen wir es auch behalten. Wir wollen keine Zukunft, sondern Fristerstreckung für die Vergangenheit. Die Erinnerung lebt weiter: Schweizer als hochflexible Kampfsäue, die durch Flexibilität, Bodenhaftung und Robustheit den Österreichern bei Morgarten die Köpfe einschlugen.

Momentan sind wir aber nicht mehr robust, sondern eine alternde Wohlstandsgesellschaft. Die Tugenden wie Fleiss, Ausdauer, Erfolgshunger haben eher die Balkankids.

Ludwig Hasler meint, wir müssten uns von dieser Identität verabschieden, sollten sie noch als Erinnerung behalten, aber das 21. Jahrhundert mit seiner Kultur der Ungereimtheit akzeptieren. Wer mit sich im Reinen sein will, kommt im 21. Jahrhundert nicht an. Die Schweizerinnen und Schweizer ertragen aber Widersprüche nicht, sie wollen Feuer ohne Rauch, Wohlstand ohne Veränderung, «Ernährungssicherheit» plus Freihandel mit der ganzen Welt. In Zollikon hängen alle ständig am Mobiltelefon, aber sie wollen keine Antenne, wir wollen fliegen ohne Flugrouten, Früchte der Arbeit ohne schmutzige Finger usw. Mit Jahrhundertprojekten wie der Energiewende kann die Gesellschaft schon gar nicht umgehen.

Also: Wie gelangen wir zu mehr Zukunft statt zu einer Fristerstreckung der Gegenwart? Die heutigen Neo-Schweizer können sich besser heidiisieren, die anderen sind zu bequem, zu ehrgeizlos, zu faul, zu satt. Die Milizidee ist abhandengekommen. Eine beliebte Frage lautet: «Was gedenkt der Bund zu tun?» Der Staat soll sich darum kümmern, dass alle Kinder schwimmen können, dass die Fresssucht abnimmt usw. Wir leben derweil immer gesünder und fühlen uns immer kränker. Wir haben uns besser im Griff, bewirken aber nichts mehr und werden depressiv. Das hat auch mit dem Wegfall der Religion zu tun. Das kulturelle Belohnungssystem für harte Arbeit, für Entbehrungen ist weggebrochen, wir sind metaphysisch obdachlos, mit dem Leiden allein. Wenn wir mit dem Leiden allein sind, dann hat es keinen Sinn. «Gott ist tot (Nietzsche) ». Darunter schrieb jemand «Nietzsche ist tot (Gott) »

Die anschliessende Diskussion dreht sich auch darum, dass der Mensch einen Gott oder eine Zukunft brauche, vielleicht sei das ja dasselbe. Heute drehe sich aber alles um «Ich, Ich, Ich». Ich-Optimierung sei der Sinn des Lebens geworden, auch die 70- und 80-Jährigen sind pausenlos damit beschäftigt, haben ihr Leben so wahnsinnig im Griff. Die Gratifikation: 5 Jahre länger dement. Dabei wird man doch glücklich, wenn man sich in etwas verlieren kann, nicht wenn man sich pausenlos im Griff hat. Der Mensch leidet daran, ständig Ich sein zu müssen, anstatt sich auch hingeben, sich verausgaben zu können.

Hasler meint, es sei schwierig Christ zu sein, aber noch viel schwieriger, nicht mehr Christ zu sein. Wenn es keine Kompensation mehr für Stillstand gibt, dann ist Stillstand nur noch Stillstand.

Und als einigermassen ernüchterndes Fazit: Wenn wir so weiter machen, brauchen wir nicht Brüssel, um unsere Freiheit zu gefährden, das schaffen wir schon selbst.

1 Warburton, Nigel. 2014. Die kürzeste Geschichte der Philosophie. Hamburg: Hoffmann und Campe. (Google)