Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens – 1. Teil: Wege des Wissens

osterhammeltitel_kDas Buch «Die Entzauberung Asiens – Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert» von Jürgen Osterhammel ist 1997 zum ersten Mal erschienen und wurde 2010 – versehen mit einem neuen Nachwort –neu aufgelegt.

Rezensionen finden sich in den Mitteilungen der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens bei der Uni Hamburg. und bei H-Soz-Kult

Osterhammel schreibt zum Begriff «Entzauberung»:

«Im Laufe des 18. Jahrhunderts, das als ein langes, um 1680 beginnendes Jahrhundert gefaßt werden sollte, verloren die Zivilisationen Asiens in der charakteristischen Sichtweise von Europäern ihre Märchenhaftigkeit. Zwar hielt sich (…) weiterhin die Bilderwelt des phantastischen Orients, doch trat daneben die rationale Beschreibung und Analyse zeitgenössischer asiatischer Gesellschaften, die zu zeigen versuchte, wie diese Gesellschaften samt ihren politischen Systemen und religiösen Praktiken „funktionierten“. Die Länder des nichtchristlichen Eurasiens wurden keineswegs einem pauschalen Oberbegriff von „Asien“ oder dem „Orient“ als dem Gegenteil von „Europa“ bzw. dem „Okzident“ unterworfen, sondern in ihren Besonderheiten vergleichend dargestellt und diskutiert. Schroffe Ost-West-Dichotomien finden sich im 18. Jahrhundert ebenso selten wie Versuche, Asien aus der Sphäre historischer Bewegung in einen Sonderraum der „Geschichtslosigkeit“ zu verdrängen, es auf ein Abstellgleis der Weltgeschichte zu schieben.» (Osterhammel 2010, Pos. 8592)1
«Wenn Max Weber an einer Stelle in seinem Spätwerk die Entzauberung der Welt als deren ‘Verwandlung in einen kausalen Mechanismus’ durch ‘rational empirisches Erkennen’ bezeichnet (Weber 1920: 564), dann war dies genau das Ziel europäischer Aufklärer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dabei wurde das «Fremde» (eine hier anachronistische Kategorie) keineswegs durch Exotisierung in ein rätselhaftes «Anderes» verwandelt. Vielmehr unterzog man es denselben Denkformen verstandesmäßiger Analyse und vernünftiger Beurteilung, die man auch auf politische und gesellschaftliche Zustände in Europa anwandte. Asien wurde entmystifiziert und innerhalb eines einheitlichen kognitiven Kontinuums begreifbar gemacht.» (Pos. 8600)

Diese Entzauberung ermöglichte im 18. Jahrhundert, andere Länder und Menschen als zwar andere, aber gleichrangige Nachbarn zu sehen:

«Die Entzauberung Asiens nahm einem Kontinent, der lange als der Ursprung aller Religion und Kultur gegolten hatte, seinen Glanz, aber auch seine Dämonie. Für eine kurze Zeit wurden Araber, Inder, Perser oder Chinesen zu entfernten Nachbarn, mit denen sich trotz offensichtlicher Kommunikationsschwierigkeiten ein durch ethnologische Rücksichten kaum verzerrter Dialog führen ließ. Spätestens der im frühen 19. Jahrhundert aufkommende Rassismus, gleichsam der finstere Zwilling einfühlsamer Romantik, machte diese Chancen zunichte.» (Pos. 185)

Der erste Teil des Buches («Wege des Wissens»)

«behandelt nicht die europäischen Repräsentationen Asiens in Texten, sondern fragt danach, unter welchen Umständen Wissen – dieses Wort wird in einer sehr weiten Bedeutung verwendet – über Asien überhaupt entstehen konnte.» (Pos. 8559)
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Holländische Gesandtschaft auf dem Weg nach Edo (Kämpfer 1777-1779, 2. Band, nach S. 198)2

 

Ein Beispiel von Wissen über Asien: Der Westfälische Arzt Engelbert Kämpfer stand im Dienste der VOC und war auf der Insel Dejima vor Nagasaki stationiert. Er verfasste in den 1690er Jahren die (in der Originalsprache Deutsch erst 1777 – 1779) publizierte Geschichte und Beschreibung von Japan. Er beschreibt unter anderem die Reise zur kaiserlichen Residenz in Edo, die damals einzige Möglichkeit, einen Eindruck von Japan zu gewinnen.

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Ansicht von Muru (Kaempfer 1777-1779, 2. Band, nach S. 218)

 

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Beschreibung eines Badhauses (Kaempfer 1777-1779, 2. Band, S. 219)

Osterhammel macht deutlich, dass ein Text ein «relativ spätes Ergebnis komplexer Vorgänge» (Pos. 482) ist und er beleuchtet –anhand einer Vielzahl von Quellen, vor allem Reiseberichten aus dem 18. Jahrhundert – die komplexen Vorgänge, wie im 18. Jahrhundert Wissen über Asien konstruiert wurde. Er entwirft eine sehr umfassende Logistik der Fremdbildproduktion. «Zu dieser Logistik gehören das Reisen und die Anhäufung kolonial verwertbaren Wissens, die konkrete Begegnung und Interaktion des «handelnden Beobachters» (…) mit seiner fremdkulturellen Umwelt, die Gelehrtenwelt samt ihren eigenen Wahrnehmungsinteressen und Urteilsmaßstäben, schließlich der literarische Markt, der den Gesetzen der Verwertung und des Wettbewerbs folgt.» (Pos. 483)

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Informationssammlung in Ägypten (Niebuhr 1779, S. 199)3

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Kommunikationsschwierigkeiten in Korea (Hall 1820, 19f.)4
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Schlechte Übersetzungen können zur verzerrten Fremdbildproduktion beitragen (Schwabe 1747, Vorrede der englischen Verfasser)5

In der späten Aufklärung erwarteten die Zeitgenossen

«von dem Reisenden wohlbegründete Einschätzungen fremder Verhältnisse und möglichst auch Lehren daraus für Europa. Er soll nicht schulmeistern und keine europäischen Urteilsmaßstäbe unbesehen auf ferne Länder anwenden. Aber er darf nicht unter allen Umständen neutral bleiben. Er soll Unzweckmäßigkeiten und Ungerechtigkeiten beim Namen nennen, einheimische Gewaltherrscher anprangern und die Untaten der Europäer nicht verschonen. Dieses Ideal des sachverständig und vernünftig urteilenden Beobachters ist ein Ideal der späten Aufklärung.» (Pos. 3123)
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Statt der Habgier die Wissenschaft. Mit dem unsterblichen Seemann ist Kolumbus gemeint (Forster 1784, Vorrede)6

Dieser erste Teil des Buches ermöglichte mir sowohl Einsichten in die Wahrnehmung Asiens durch Europa im 18. Jahrhundert wie in die Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts. Die Quellen, die Osterhammel zusammengestellt hat, sind unerschöpflich und äusserst anregend, ich habe hier nur ganz wenige beigezogen. Schliesslich hat mich – weil ich in einer völlig veränderten Welt und in vollkommen anderen Kontexten selbst ab und zu Reiseberichte schreibe – fasziniert, wie Osterhammel hier ungemein kenntnisreich Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens fremder Kulturen beschreibt.

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Parting Scene at Loo Choo (Ryûkyû-Inseln). Hall 1820, vor Titelblatt.

1 Osterhammel, Jürgen. 2010. Die Die Entzauberung Asiens – Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München: Beck. Neuauflage (1. Auflage 1998). E-Book.
2Kämpfer, Engelbert. 1777-1779. Engelbert Kämpfers weyl. D.M. und hochgräfl. Lippischen Leibmedikus Geschichte und Beschreibung von Japan. http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-48618 (ZB Zürich, e-rara, PD NC)
3Niebuhr, Carsten. 1779-1781. Reise und Beobachtungen durch Egypten und Arabien. http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-26125 (ZB Zürich, e-rara, PD NC)
4 Hall, Basil. 1820. Voyage to Corea, ant the Island of Loo-Choo with plates. London: Murray. urn:nbn:de:bvb:12-bsb10466947-9(Bayerische Staatsbibliothek, Digitale Bibliothek, PD NC)
5 Schwabe, Johann Joachim.  1748. Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und Lande; oder Sammlung aller Reisebeschreibungen, welche bis itzo in verschiedenen Sprachen von allen Völkern herausgegeben worden, … Erster Band. Leipzig: Arkztee und Markus. urn:nbn:de:bvb:12-bsb11062247-2(Bayerische Staatsbibliothek, Digitale Bibliothek, PD NC) Die 21 Foliobände stellen gemäss Osterhammel das grösste deutsche Reiseprojekt dar, es wurde einem Gelehrtenkreis um den Leipziger Gottsched-Schüler Johann Joachim Schwabe zwischen 1747 und 1774 herausgegeben.
6 Forster, George. 1784. Johann Reinhold Forster’s der Rechte, Medicin und Weltweisheit Doctor … Reise um die Welt, während den Jahren 1772 bis 1775 in dem von Sr. itztregierenden grosbrittannischen Majestät auf Entdeckungen ausgeschickten und durch den Capitain Cook geführten Schiffe the Resolution unternommen. Berlin: Haude und Spener. (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, PD NC)
Bd 1: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN675472741|LOG_0004
Bd 2: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN675472776|LOG_0004
Bd 3: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN675472806|LOG_0004

Die grosse Lehre, Mond, Wasserlauf und Wellen

2015-09-09_29656_ChangdeokgungklHier im Changdeokgung-Park (VisitKorea) in Seoul erzählte letztes Jahr eine Tour-Guide von Chosŏn und seinem Bild zu «Daxue» («Die grosse Lehre») (Chinese Text Project), einem Text von Konfuzius mit Auslegungen –  einem der Schlüsseltexte des Neo-Konfuzianismus1.
Chosŏn-Herrscher Chŏngjo (Jeongjo) (reg. 1776 – 1800) referierte vor seinen Beamten über diesen Text und legte ihn in seinem Sinne aus. «His objective as to the royal lecture was (…) to restore a Confucian primitive worldview that might legitimate the monarchial authority».2 Dabei legte er seine politische Philosophie dar.

«Er vergleicht darin den Herrscher mit dem Mond, der sich in allen Wasserläufen spiegelt. Die strahlende Tugend ( mingde ) des Herrschers beeinflusst das Volk direkt und kann von jedem wahrgenommen werden. Beamte, erst recht, wenn sie in verschiedene Fraktionen aufgespalten sind, können die gute Herrschaft jedoch stören und die Reflexion verhindern, wenn sie die Bevölkerung (die Wasseroberfläche) in Unruhe bringen.»3

Das lässt sich nun perfekt in das Wirken der heutigen «Herrscher“ im ostasiatischen Raum übertragen. Nur keine Wellen.

1 Kuhn, Dieter. 2014. Ostasien bis 1800. Neue Fischer Weltgeschichte Band 13. Frankfurt/Main: S. Fischer. (E-Book) Pos. 1912.
2Kim, Daeyeol. 2015. King Chŏngjo’s political strategy around the royal lecture on the Confucian classics. Contribution to the AKSE Conference 2009, Jun 2009, Leiden, Netherlands. https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-00433560 (29.7.2016)
3 Kuhn 2014, Pos. 7974