Visible Cities

Leonard Blussé hat im November 2017 an der Universität Zürich einen Vortrag über «The maritime prohibitions of China und Japan during the seventeenth century: a reassessment» gehalten. Er bezog sich dabei häufig auf sein Buch «Visible Cities: Canton, Nagasaki, and Batavia and the Coming of the Americans»1

Die drei Städte waren nicht nur durch Handelsrouten über das Südchinesische Meer miteinander verbunden, sondern auch durch den Umstand, dass sie alle stark von den globalen Transformationen Ende des 18. Jahrhunderts betroffen waren. Alle drei Städte beherbergten – bei aller kulturellen Verschiedenheit – Einwohner aus den Niederlanden und Fujian (S. x).

Blussés Buch entstand aus seinen «Edwin O. Reischauer Lectures» in Harvard. Er lehnte sich dabei wie auch in Zürich an die Braudels (Wikipedia) Dramaturgie an: Zuerst den Appetit mit einer Langzeitperspektive anregen, dann einen Hauptgang mit konjunkturellen Entwicklungen und schliesslich zum Dessert das Tun und Lassen von Individuen.

Ich fasse hier die Publikation von 2008 «Visible Cities» zusammen, alle Seitenzahlen beziehen sich darauf.
Den Titel borgte Blussé einerseits bei Italo Calvino. In seinem Roman «Invisible Cities» (deutsch: Die unsichtbaren Städte, Amazon) schildert der Erzähler Marco Polo dem mongolischen Grosskhan und chinesischen Kaiser Kublai Khan (Ostasieninstitut Hochschule Ludwigshafen) die verschiedensten Formen von Stadtleben in seinem grossen Reich. Im Grunde sind aber all die Erzählungen Marco Polos nur Variationen seines Heimwehs nach Venedig.

Andererseits gibt es über drei Städte Batavia (heute Jakarta), Kanton (Guangzhou) und Nagasaki so viel Archivmaterial und zahlreiche Bilder, dass man sie gut als «visible cities» bezeichnen kann. Von den Hafenstädten, in denen Ost und West aufeinandertrafen sind sie wohl die meist porträtierten.

Kapitel 1: Three Windows of Opportunity
Die maritime Sphäre

Handelsstädte entlang der Land- und Seewege waren Orte, an denen das Leben kosmopolitisch geprägt war, Orte, wo Reisende von weit weg sich trafen, um Güter und Gerüchte zu tauschen.

Blussé will in seinem Buch auch aufzeigen, dass die traditionellen Beziehungen Chinas und Japans zum maritimen Bereich bis heute geschichtsmächtig sind. Man muss sie kennen, um die globalen Auswirkungen der chinesischen und japanischen Geschichte in der frühen Neuzeit und bis in die Gegenwart zu verstehen. Im Südchinesischen, Ostchinesischen und Japanischen Meer prallen die Interessen der beiden Grossmächte China und Japan bis heute aufeinander.

Batavia, Kanton und Nagasaki waren Tore zu Java, China und Japan, sie waren gleichzeitig auch wichtige Knoten im Netzwerk, der grössten Handelsmacht in der Region, der «Verenigde Oost-Indische Compagnie (VOC)» )(4).

Guangzhou, das damals im Westen als Kanton bekannt war, war zusammen mit Macao der Anlaufhafen für ausländische Kaufleute im riesigen Quing-Reich.

Kanton, zweite Hälfte 17. Jh.. Aus: Johan Nieuhof, Het gezantschap der Neêrlandtsche Oost-Indische Compagnie, aan den grooten Tartarischen Cham, den tegenwoordigen Keizer van China (Amsterdam, 1665) , nach S. 40. Download des Buches bei archive.org

Nagasaki, wurde vom Tokugawa-Shogunat als einziger Hafen in Japan bestimmt, in dem chinesische und holländische Händler Handel treiben durften.

Deshima 1669, Koninklijke Bibliotheek, Den Haag.

Batavia schliesslich war der Knotenpunkt des Handelsimperiums der VOC und völlig vom Seehandel abhängig.

Batavia, zweite Hälfte 17. Jh.. Aus: Johan Nieuhof, Het gezantschap der Neêrlandtsche Oost-Indische Compagnie, aan den grooten Tartarischen Cham, den tegenwoordigen Keizer van China (Amsterdam, 1665) , nach S. 40 Download bei des Buches bei archive.org

Chinas Küstenprovinzen schliesslich, im Speziellen Fujian waren direkt oder indirekt die treibende Kraft für den gesamten Handel im chinesischen Meer.

Der zeitliche Rahmen
Portrait des 85jährigen Quianlong-Kaisers. PD, Wikimedia Commons

Die Zeit um 1790 war auch in China eine Krisenzeit mit grossen Überschwemmungen des Gelben Flusses und des Yangzi. Die Bevölkerung verdoppelte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von 140 auf 300 Millionen. Politisch war der Übergang vom sehr lange herrschenden Quianlong-Kaiser mit seiner korrupten Entourage zum Jiagquing-Kaiser schwierig.

In Japan verursachte die Eruption des Asama 1783 Missernten, Hungersnöte und Bauernaufstände. Die Nachfolger von Shogun Tokugawa Ieharu verfolgten eine strenge Austeritätspolitik, setzten moralische Normen durch und  schränkten den Überseehandel nochmals erheblich ein.

Auf dem indonesischen Archipel verlor die VOC ihre Hegemonie durch die grossen Verluste an Schiffen im vierten Englisch-Niederländischen Krieg (1780 – 1784) (Wikipedia), der Unterbruch der Verbindungen nach Asien während der napoleonischen Kriege führte dann zum Bankrott der VOC:

Aus einer globalen Perspektive betrachtet fanden in dieser Zeitperiode mit der Industriellen Revolution und der französischen Revolution simultan zwei Revolutionen statt und Adam Smith beschrieb das neue Paradigma der freien Marktwirtschaft, die zum Ende des Merkantilismus mit seinen Monopolen führen würde. Ein neues Informationszeitalter war am Entstehen, das Wissen über andere Zivilisationen auf anderen Kontinenten war in Europa an jedem Teetisch präsent. Britannien verlor sein erstes Imperium in der westlichen Hemisphäre und baute sich ein zweites in «Monsun-Asien» auf. Das russische Reich und die Vereinigten Staaten verschoben ihre «Frontier» ständig und erreichten den östlichen Rand Asiens.

Um 1800 veränderte sich der Seehandel in Südostasien und Ostasien massiv, 200 Jahre niederländische Kontrolle in den Meeren rund um den indonesischen Archipel waren zu Ende und ein spektakulärer Anstieg von Piraterie und von Eindringlingen, die nach neuen Handelsrouten suchten war zu beobachten (7).

«In short, the turn of the eighteenth into the nineteenth century was a period of global transition and changing overseas entanglements to which the regimes of China, Japan, and Java were forced to respond.» (8)
Chinesischer Überseehandel

Chinesische Dschunken besuchten Nanyang (d.h. die südlichen Meere) seit fast einem Jahrtausend (10), bevor Europäer in dieser Weltgegend anzutreffen waren. Die Dschunken verliessen die Küstenregionen Chinas jeweils vor dem Beginn der Monsun-Zeit um das chinesische Neujahr und kehrten nach dem Wechsel der Monsunwinde im Juni zurück. Zwischen Juli und Oktober war die Seefahrt wegen der Taifuns sehr gefährlich.

Monsun in Südostasien. Karte PD Wikimedia Commons. Monsunrichtungen: Reid 20152, S. 2

Anders als bei den europäischen Mächten üblich folgte die chinesische Flagge aber nicht dem Handel. Im Gegenteil wurden durch die Herrschenden immer wieder Verbote, für eine längere Zeit zu migrieren, ausgesprochen. Solche Verbote vermochten Handel und Migration aber jeweils nicht zu unterbinden. Die Verbote wurden in der Geschichtsschreibung zur Kenntnis genommen und auch die Tatsache, dass China keine Kolonialisierung im europäischen Sinn anstrebte führte dazu, dass die Bedeutung der schleichenden Expansion und wirtschaftlichen Durchdringung von Südostasien durch China von der westlichen Geschichtswissenschaft missverstanden und massiv unterschätzt wurde. (12)

In China selbst galt die Sorge nicht den Ausländern sondern der Tatsache, dass diese die chinesische Bevölkerung mit ihren Ideen beeinflussen könnten. Dass von den europäischen Mächten auch ganz andere Bedrohungen ausgingen, merkten die Manchu-Herrscher in China erst beim Beginn des Opiumkrieges 1839.

Der chinesische Überseehandel sollte denn nach Blussé auch nicht als ein Resultat des Tributsystems der kaiserlichen Regierungen, sondern als Resultat der Handelsmöglichkeiten, die sich für die Regionen entlang der südöstlichen chinesischen Küste ergaben, gesehen werden (14).

Die Politik der Zentralmacht in China schwankte zwischen einer Förderung des privaten Handels und des Versuchs, den Handel völlig zu monopolisieren und ins Tributsystem einzugliedern. Die Handel treibenden Chinesen wurden in diesen Zeiten als Eindringlinge, die das imperiale Ordnungssystem verletzten, gesehen.

In diesem Zusammenhang sieht Blussé auch die Flotten Zheng Hes, die unter dem Yongle-Kaiser (1403- 1424) nicht weniger als 37 «Länder» erreichten. Weil diese in der Folge regelmässig Gesandtschaften mit Tributzahlungen nach China schickten, sahen die frühen Ming-Kaiser keine Notwendigkeit zu weiteren Expeditionen. Stabilität war hergestellt, man konnte das Land wieder weitgehend isolieren, eine Politik, die haijin genannt wurde.

Verbote von Migration und Handel führten aber z.B. dazu, dass Handel treibende Chinesen aus Fujian trotz des Verbotes sich auf den sowohl Japan wie China gegenüber tributpflichtigen Ryukyu-Inseln etablieren und von dort aus einen blühenden Handel mit Südostasien und den gegeneinander mehr oder weniger abgeschotteten Reichen Japan und China treiben konnten.

Weil die Prohibitionspolitik in der Regel nicht funktionierte, versuchten die Herrscher, den privaten Handel in Bahnen zu lenken, der Hafen von Guangzhou spielte früh eine Rolle, da er Eingangstor für die Delegationen der tributzahlenden Länder war. Schliesslich wurde sogar den Portugiesen in Macao ein Handelsplatz zugewiesen.

Portugal und die VOC

Europäer sicherten sich Ende des 16. Jahrhunderts einen Anteil am Handel im südchinesischen Meer. Die Portugiesen segelten die Route nach Macao und dann weiter nach Nagasaki, die Holländer nach Batavia und die Spanier nach Manila. Seide und Porzellan aus China wurden so gegen japanisches Silber getauscht. Die Spanier brachten Silber aus Südamerika nach Manila, um damit für Europa bestimmte Güter wie Seide und Porzellan zu bezahlen.

Die 1602 gegründete VOC hatte von den Niederlanden weitreichende Privilegien bekommen, sie konnte östlich des Kaps der Guten Hoffnung Verträge schliessen und Krieg führen. Als die Holländer 1595 in Südostasien ankamen, waren die Handelsbeziehungen von China mit Spanien und Portugal schon gefestigt. Mit der Gründung von Batavia konnte aber ein wichtiger Knotenpunkt geschaffen werden, es gelang den Holländern in Monsun-Asien ein Handelsnetz zwischen den textilproduzierenden Regionen Indiens und den Gewürzinseln der Molukken aufzubauen und einen grossen Anteil am enorm profitablen Silber-für-Seide-Markt zwischen Japan und China 1639 schliesslich zu monopolisieren.

Verflochtener Handel. Beispiel des Seide-Silber-Baumwolle-Gewürzehandels. Bild: Museum Deshima, Nagasaki.

Holland stellte sich als Alternative zu den mittlerweile in Japan verhassten Portugiesen dar, in dem Holländer den Japanern z.B. versicherten, dass sie den Katholizismus genau so hassten, wie diese. Mit dem Monopol verbunden war allerdings die Schliessung des holländischen Handelspostens in Hirado und die Verschiebung des Handels auf die künstliche Insel Deshima in der Bucht von Nagasaki, auf der vorher die Portugiesen Handel getrieben hatten.

Verpacktes Porzellan mit dem Emblem der VOC (Deshima Museum, Nagasaki)

Die VOC profitierte auch sonst von der Isolierung Japans (kaikin ab 1636) , indem sie auf Handelsrouten zwischen Kambodscha, Vietnam, Siam und Formosa und Japan nun über das Handelsmonopol verfügte. Als sie schliesslich das portugiesische Malakka besetzte und so die Kontrolle über die Strasse von Malakka erhielt, wurde Holland zur dominierenden westlichen Macht in der Region.

Machtwechsel in China

Die Ablösung der Ming-Dynastie durch die das Reich erobernden Manchus brachte zwischen 1630 und 1680 ein halbes Jahrhundert Unruhen mit sich. In der gleichen Zeit führten die Versuche der VOC, China für den Handel weiter zu «öffnen» zu einer Ausbreitung von Piraterie und Schmuggel, da es nun möglich war, so gute Geschäfte mit den Holländern zu machen. In Manila, Nagasaki und Batavia entstanden wichtige «Chinatowns» . Das ursprünglich von den Portugiesen, dann den Holländern besetzte Formosa wurde, nachdem dort 1683 die letzten ausharrenden Ming-Getreuen geschlagen worden waren, Teil des chinesischen Reiches.

Die Manchu-Regierung erlaubte den privaten Handel ab 1683 wieder, was zu einem unerhörten Boom führte. Batavia und Nagasaki waren am stärksten davon betroffen und wurden von einer grossen Menge chinesischer Dschunken angesteuert.

In Batavia entband dies die Holländer davon, eigene Schiffe an Chinas Küste zu senden und dort hohe Zölle bezahlen zu müssen, die Stadt wurde nun wie von selbst mit Seide und anderen Handelsgütern beliefert. Der Boom führte aber auch zu einer grossen Migration aus den chinesischen Küstengebieten. Auch in Nagasaki wohnten bald 5000 Chinesen so dass die dortige Regierung beschloss, sie in einem Chinesischen Quartier (tojin machi) zu konzentrieren.

1717 verhängte der Kangxi-Kaiser, um der Auswanderung und der Piraterie Herr zu werden, wieder ein Überseehandelsverbot, das sich innerhalb Südostasiens aber kaum durchsetzen liess.

Tee und Kaffee

Der VOC wurde durch das Verbot aber klar, wie stark sie vom chinesischen Netzwerk abhängig war und sie begann zu «diversifizieren», in dem sie auf Java mit aus Yemen importierten Kaffeepflanzen Plantagen errichtete. Die Anpflanzung von Tee blieb vorerst ein gut gehütetes chinesisches Geheimnis. Tee konnte nur via Kanton erworben werden. Weil er möglichst frisch in Europa ankommen sollte, wurde der Handel via Batavia mehr und mehr zum Konkurrenznachteil, die VOC musste Kanton ab 1727 auch wieder direkt aus Europa anfahren.

Kapitel 2: Managing Trade across Cultures

Im zweiten Kapitel gibt uns Blussé Einblick in die drei Städte. Die Situation war für die VOC in Kanton und Nagasaki wo «the VOC was operating “among declared enemies and feigned friends.”» natürlich eine völlig andere als im unter seiner Kontrolle stehenden Batavia.

Batavia

Das von der VOC an handelsstrategisch zentraler Stelle auf Java angelegte Batavia war eine mutikulturelle Stadt, ein Mix aus europäischer Planung und lokaler Tradition, gegründet und regiert von der VOC, die mit ihren Lagerhäusern und Werften auch am meisten Platz einnahm.

Ein Schloss überragte Stadt und Hafen, holländische Segelschiffe (Dutch East Indiamen), chinesische Dschunken und Segelschiffe anderer westlicher Nationen ankerten im Hafen.

Im Handel würden häufig örtliche Gebräuche und Rituale übernommen, ansonsten hatten die Holländer für sich eine Bürgergesellschaft mit Stadthäusern, Spitälern, Gerichten, Kirchen usw. aufgebaut: Holland in den Tropen. Den für den Handel und als Arbeitskräfte wichtigen Chinesen wurden gleichartige Institutionen zugestanden.

Batavia entwickelte sich zu einem Magneten mit einer internationalen Einwohnerschaft. Holländer, asiatische Christen und Chinesen wohnten mit einer grossen Anzahl Sklaven innerhalb derselben Stadtmauer

In der Umgebung wurden «ethnic communities» mit Balinesen, Bugis, Maduresen angesiedelt, die bei Bedarf Truppen für die Holländer stellten.

Batavia 1765 mit chinesischen Dschunken. Tropenmuseum Amsterdam

Chinesische Schiffe waren bezüglich Zollgebühren stark privilegiert, der «chinesischer Korridor» brachte viele chinesische Produkte und billige Arbeitskräfte in grosser Zahl. Das Niederschlagen einer Revolte chinesischer Arbeiter auf umliegenden Zuckerplantagen weitete sich im Oktober 1740 zu einem Massaker an den in Batavia ansässigen Chinesen aus, das massive Pogrom ging unter dem Namen «Chinezenmord» in die Geschichte ein.

Chinezenmoord. Tropenmuseum Amsterdam, PD Wikimedia Commons

Weil das chinesische Kaiserreich die im Ausland lebenden Chinesen ohnehin als Verräter ansah, unterblieb eine heftige Reaktion, der für beide Seiten einträgliche Handel konnte weitergehen.

Wirtschaftlich begann der Niedergang Batavias mit der Entscheidung, VOC-Schiffe wieder direkt nach Kanton zu senden. Für die Dschunken war es dadurch nicht mehr attraktiv, mit ihrem Tee Batavia anzusteuern, der chinesichen Dschunkenhandel verlagerte sich auf Handelsplätze entlang der Küste Nanyangs wie Johor  (60).

Der Niedergang wurde aber auch durch die für die Gesundheit prekären Verhältnisse weiter vorangetrieben, kaum jemand wollte noch in der Stadt wohnen, nachdem die Sterbensrate am Ende des 18. Jahrhunderts auf über 30% gestiegen war, d.h. innert dreier Jahre starb eine ganze Stadtbevölkerung. Grösster Killer war die «Mal-aria», d.h. schlechte Luft, in der man die Ursache der Krankheit suchte. In Wirklichkeit fanden die  die Malaria übertragenden Mücken aber in den neu angelegten Fischzuchten wohl ideale Brutbedingungen vor und vermehrten sich rasant. Die «Königin des Ostens» war zum «Friedhof des Ostens» geworden.

Nagasaki

Die künstliche aufgeschüttete fächerförmige Insel Tsukishima bzw. Deshima und das chinesische Quartier tojin yashiki prägten das Bild Nagasakis

Nach Deshima waren 1636 die Portugiesen umgesiedelt worden, bevor sie 1639 völlig ausgewiesen wurden. Die Holländer konnten sie beerben, mussten ihre Faktorei aber vom in der Nähe gelegenenen Hirado auf die Insel Deshima verlegen, das so für 200 Jahre zum Fenster Japans zur westlichen Welt wurde.

Der Handel auf Deshima war relativ einseitig, indem die Japaner den Preis festlegten, umgekehrt aber auch sämtliche Waren eines Schiffes abnahmen.

Das Leben war eintönig, die Hofreise jedes Jahr nach Edo, um dem Shogun die Referenz zu erweisen war eine willkommene Abwechslung.

Deshima, 1824-1825. PD Wikimedia Commons

Auf Deshima bestand, abgesehen von Kontakten mit Kurtisanen, die nach Deshima gerufen werden konnten und dort zum Teil Jahre blieben, wenig Gelegenheit in Kontakt mit der Bevölkerung zu kommen, während der Hofreise war das einfacher, man konnte auch Abstecher z.B. nach Kyoto oder Osaka ins Theater unternehmen.

Die Beschreibung einer Hofreise durch den Leibarztes Engelbert Kaempfer3 ist die Bekannteste, es existieren aber viele weitere Beschreibungen der fast 120 Reisen.

Der Handel wurde ständig eingeschränkt, 1790 durfte nur noch ein holländisches Schiff und sieben chinesische Dschunken pro Jahr in Nagasaki anlegen. Auch der Export von Silber als wichtigstem Exportprodukt wurde schliesslich unterbunden, von den Edelmetallen wurde nur noch Kupfer exportiert.

Japanische Verbindungen nach Korea (über Tsushima) und mit Ryukyu existierten immer. Deshima war aber der einzige Hafen, an dem regelmässig Nachrichten aus der ganzen Welt gesammelt werden konnten. Befragungen der Neuankömmlinge ermöglichten Japan, von der amerikanischen und französischen Revolution zu erfahren. Die französische Invasion Hollands konnte lange Zeit verborgen gehalten werden: in Batavia wurden amerikanische, deutsche und dänische Schiffe gechartert, so wurde auf Deshima als einzigem Ort der Welt während der ganzen napoleonischen Phase die Fahne der Niederlande gehisst.

Rangaku, die «holländische Wissenschaft» war eine Folge dieses Fensters zum Westen. 1640 aus Neugier an der westlichen Medizin gestartet weitete sich im 18. Jahrhundert der Wissenstransfer aus, es bestand ein grosses Interesse an der westlichen Wissenschaft und Technologie. Martin Dusinberre hat 2017 während einer Ringvorlesung aufgezeigt, wie die holländische Wissenschaft Japan auch ermöglichte, sich aus der «Sinosphäre» zu lösen und z.B. durch die Annäherung an die westliche Medizin ein vom chinesischen unterschiedliches Welt- und Menschenbild zu entwickeln.

Utagawa Kunisada: Dietary Life Rules, 1850s, Lyon Collection. Der Künstler bezieht sich sowohl auf die traditionelle chinesische wie auf die westliche Medizin.
Kanton

Kanton präsentierte sich als befestigte Stadt am Pearl River. Es konnte von fremden Schiffen nur via den Fluss mit einem Lotsen erreicht werden, die Fahrt dauerte ein bis zwei Wochen, der Verkehr war also sehr gut kontrollierbar.

Ein Hong-Händler, der vom Kapitän angeheuert wurde, übernahm die Abwicklung aller Fomalitäten und wurde dafür auch verantwortlich gemacht. Daneben waren Lingos, d.h. Übersetzer unumgänglich.

Im Gegensatz zu Nagasaki spielte in Kanton die Konkurrenz. Das «Kanton-System» liess Raum für Konkurrenz unter den Handelsnationen und auch unter den chinesischen Händlern, die mit den Fremden handelten. Der Handel funktionierte einwandfrei, was auch seinen Preis hatte. In mexikanischen Dollars waren sehr hohe Hafengebühren zu bezahlen

Die Faktoreien (Handelsniederlassungen) der Handelsnationen waren luxuriös ausgestattet, in den 1780er Jahren waren die Faktoreien von Dänemark, Österreich, Schweden, Frankreich, Grossbritannien und Holland nebeneinander angesiedelt und man hatte trotz der Konkurrenz regen sozialen Austausch.

Auch sonst war das Leben für Ausländer recht angenehm, die Faktoreivorsteher (Supercargoes) hatten in der Regel von Februar bis Juli nichts zu tun und verbrachten die Zeit mit ihren Frauen oder Konkubinen in Macao.

William Daniell: View of the Canton Factories (1805 – 1810), PD, Wikimedia Commons

Der Handel in Kanton war wenig diversifiziert, sondern völlig von Tee dominert, da der Durst der Europäer und Amerikaner nach dem nur hier erhältlichen Tee sehr gross war. Diese Gier sollte nicht nur die Geschichte Asiens verändern, der Profit aus dem Tee-Handel sollte auch die englische Eroberung Indiens ermöglichen und mit der Boston Tea Party einer der Auslöser des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges sein.

Tee wurde ursprünglich mit Silber bezahlt, weil China an keinen anderen westlichen Waren interessiert was. Die sich so ständig verschlechternde Aussenhandelsbilanz der westlichen Handelsnationen, vor allem Grossbritanniens führte zum massenhaften Anbau von Opium in Bengalen und schliesslich zu den Opiumkriegen, der Erniedrigung Chinas durch das Aufzwingen des Importes von Opium und den ungleichen Verträgen. Die damaligen Geschehnisse wirken bis heute nach.

It is indeed ironic that Britain, the nation that prided itself on having first exposed the excrescences of the American slave trade (in which it had been by far the greatest participant) after it had lost the American colonies, from the moment that its so-called second empire in India was taking shape, was engaged in the master planning of another kind of enslavement in Asia: opium addiction. (65)

Mit dem Teehandel verknüpft war auch der Porzellanhandel. Durch den Tee vor Stössen geschützt konnte das in Europa beliebte chinesische Porzellan nach Europa und in die USA verschifft werden.

Während der Besetzung der Niederlande durch Frankreich konnten holländische Schiffe nicht mehr nach Kanton fahren – ihr Platz wurde nur zu gerne von den Vereinigten Staaten eingenommen, die mit ihren kleineren aber schnellen Segelschiffen Kanton bald in grosser Zahl ansteuerten. (62)

Kanton war aber nicht nur für den Überseehandel wichtig, es war auch Umschlagplatz für die Dschunken, die Reis aus Siam und viele andere tropische Produkte aus ganz Südostasien brachten.

Schliesslich war Kanton auch Ausgangspunkt für viele chinesische Migranten. Die gegen die Migration gerichteten Regeln des Quing-Hofes waren immer schwieriger durchzusetzen. Um die schnelle Ausbreitung von Chinatowns in der ganzen Region zu verhindern, wurde noch versucht, Frauen an der Auswanderung zu hindern. Hakka-Frauen, deren Füsse nicht, wie sonst in China üblich, gebunden waren, gelang es aber immer häufiger, durch die Kontrollen zu schlüpfen (57) und chinesische Männer heirateten in Südostasien einheimische Frauen.

From this point on, migrants and sojourners became South China’s most important export product. Carl Trocki has pointed out that this led to the birth of a system of offshore production that included the financing and transportation of settlers and the subsequent management of the trade in items produced and consumed by the Chinese migrants to Southeast Asia. (57)

Dirk Hoerder schreibt über die chinesische «Diaspora»:

Ihre Erfahrung in Südostasien reichte vom Ghetto-Leben in Batavia und Manila bis hin zur leichten Mischehe und zum Aufkommen philippinischer mestizos und indonesischer peranakan. Wenn die Präsenz von Frauen zunahm, setzte in den nanyang Gemeinschaftsbildung und Re-Sinisierung ein, während die Rückwanderung abnahm. Die wichtige oder gar beherrschende Rolle ethnisch-chinesischer Zwischenhändler in bestimmten Wirtschaftssektoren führte wiederholt zu Antisinismus und gewalttätigen Übergriffen.(Hoerder 2012 Pos 10565) 4 .
Kapitel 3: Bridging the Divide

Im letzten Kapitel, dem «Dessert» bringt Blussé «Human Touch» in seine Vorlesung, etwa in dem er über das Schicksal der «Pinda chinezen» (Erdnuss-Chinesen) in Rotterdam erzählt, chinesische Seeleute, die während der grossen Rezession in den 1930er-Jahren mitten auf einer Reise entlassen worden waren, so in Rotterdam strandeten, ein «Chinatown» gründeten und sich mit dem Verkauf von Erdnüssen durchschlugen. Bis heute gibt es in Rotterdam ein Vielzahl von chinesischen Restaurants, die von den Nachfahren dieser Chinesen gegründet wurden.

Ankunft eines holländischen Schiffes in Nagasaki, frühes 19. Jh. Kawahara Keiga (1786 – nach 1860), Museum Deshima, Nagasaki.

Er erzählt von Geliebten und gemeinsamen Kindern, die die Holländer in Nagasaki zurücklassen mussten. Von Beschreibungen der christlichen Gepflogenheiten auf Batavia, die von einem chinesischen Gelehrten «puzzled by the strange behavior» (73) beschrieben wurden. Von den japanischen Schiffbrüchigen der Kodayu, die über Irkutsk und St. Petersburg schliesslich Japan wieder erreichten, nur um dort wegen ihres Wissens von ihren Angehörigen isoliert zu werden (75). Von japanischen Versuchen, selbst grosse Segelschiffe zu bauen, von geglückten und missglückten Gesandtschaftsreisen an den Hof des Kaisers nach Peking.

Zwei Personen werden besonders dargestellt. Andreas Everardus van Braam Houckgeest (1739-1801), den Blussé mit Voltaires Candide vergleicht. Ein Lebemann und Macher zwischen den Welten. Faktoreivorsteher in Kanton, Unterstützer der amerikanischen Revolution, der in die USA übersiedelte und dort fast seine ganze Familie wegen Diphterie verlor, der dann erneut «Supercargo» in Kanton werden konnte, eine Gesandtschaftsreise zum Thronjubiläum des Quianlong-Kaisers nach Peking unternahm und darüber ein zweibändiges Werk schrieb, das nur als einbändige Raubkopie verbreitet wurde, der eine 40 Jahre jüngere Frau aus der Kapprovinz heiratete und nach einigen Reisen in Deutschland schliesslich 1801 in Holland starb.

Der zweite ausführlich Dargestellte ist Hendrik Doeff (1777-1835) der während der ganzen napoleonischen Zeit auf Deshima amtierende Faktoreivorsteher, der in dieser Zeit Respekt und Liebe für die japanische Kultur entwickelte, ein Wörterbuch verfasste und dann 1817 Geliebte und Kind in Nagasaki zurücklassen musste und seine gesamte Sammlung an Schriften und Kunstgegenständen aus Japan bei einem Schiffsuntergang verlor. Sehr spät im Leben erst, als Franz von Siebold und einer seiner Nachfolger auf Deshima ein japanisch-holländisches Wörterbuch veröffentlichten, das wohl ein Plagiat Doeffs auf Deshima zurückgelassener Notizen war, verfasste Doeff mit seinen Recollections einen Bericht über seine Erfahrungen in Japan.

In seinem Epilog spricht Blussé von der neu entstehenden Ordnung in  den südostasiatischen Meeren. Ende des 18. Jahrhundert wurde das bisherige System durch Piraten, Schmuggler und Kleinhändler zum Einsturz gebracht, ohne dass sich vorerst ein neues durchsetzte. Erst mit der Gründung von Singapur durch Raffles entstand eine neue Situation:

Thomas Stamford Raffles’s brilliant decision to articulate the changing global trade with the expanding overseas Chinese economy by establishing a new kind of emporium, the free port of Singapore, was the first step in that new direction. And when from 1842 Hong Kong, Shanghai, Yokohama, Kobe, and all the other treaty ports followed, a new situation in international trade indeed emerged. (100)

1 Blussé, Leonard. 2008. Visible Cities. Canton, Nagasaki, and Batavia and the Coming of the Americans.Cambridge MA.: Harvard University Press.
2 Reid, Anthony. 2015. A History of Southeast Asia – Critical Crossroad. Malden, MA.
3Kämpfer, Engelbert. 1777-1779. Engelbert Kämpfers weyl. D.M. und hochgräfl. Lippischen Leibmedikus Geschichte und Beschreibung von Japan. http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-48618 (ZB Zürich, e-rara, PD NC)
4 Hoerder, Dirk. 2012. Migration und Zugehörigkeiten. In: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege“ von Jürgen Osterhammel, Emily S. Rosenberg, Akira Iriye, Andreas Wirthensohn, Thorsten Schmidt, Thomas Atzert, Annabel Zettel.

 

 

Visualizing Japan (1850s-1930s) – ein empfehlenswerter MOOC

Dieser MOOC mit dem vollständigen Titel «Visualizing Japan (1850s-1930s): Westernization, Protest, Modernity» wird von MITx und edX (Harvard) gemeinsam angeboten wird. John Dower, Emeritus des MIT, Andrew Gordon, der Lee and Juliet Folger Fund Professor of History an der Harvard University und Shigeru Miyagawa, der Kochi-Manjiro Professor of Japanese Language and Culture am MIT zeichnen gemeinsam verantwortlich für den Kurs.

Der MOOC besteht aus drei Hauptteilen, die durch Überleitungen miteinander verbunden werden.

  • Black Ships and Samurai, in dem die Zeit der unter Gewaltandrohung erfolgten «Öffnung» Japans beleuchtet wird
  • Social Protest in Imperial Japan: The Hibiya Riot of 1905. In diesem Modul werden die sozialen Unruhen nach dem russisch-japanischen Krieg thematisiert, im Wesentlichen anhand der Illustrationen in einer Zeitschrift
  • Modernity in Interwar Japan: Shiseido and Consumer Culture illustriert mit Plakaten, Anzeigen und Zeitschriften der Kosmetikfirma Shiseido die 1920er und 1930er Jahre in Japan.

Auf der Website Visualizing Cultures, die von John Dower initiiert wurde und vom MIT betrieben wird, sind all die visuellen Quellen zusammen mit informativen Essays dazu vorhanden.

Black Ships and Samurai

Die Aussenkontakte Japans werden vor Perrys Ankunft 1853 völlig vom Bakufu, der Militärregierung des Tokugawa-Shogunats kontrolliert und sind äusserst eingeschränkt. Der Handel mit dem Westen und mit China findet lediglich über Nagasaki statt. Dort ist es der Niederländischen Ostindien-Kompanie erlaubt, auf der künstlichen Insel Deshima eine Handelsstation zu betreiben, über die auch westliche Wissenschaft nach Japan fliesst.

Dejima bei Nagasaki (Kawahara Keiga. Dutch Ship Entering the Harbor. Early 19th century. Hand scroll. Nagasaki Municipal Museum. Worlds Revealed. Edited by Peabody Essex Museum and Edo-Tokyo Museum. Tokyo, 1999.) CC BY NC SA , MIT

In Japan ist das Shogunat gut darüber orientiert, wie China im Opiumkrieg den viel besser ausgerüsteten britischen Truppen weit unterlegen war und wie es zu ungleichen Verträgen gezwungen wurde. Auch über die USA haben die Samurai Informationen. John Manjiro, der als Schiffbrüchiger 1841 von einem amerikanischen Schiff gerettet und danach 10 Jahre in den USA und auf amerikanischen Walfangschiffen gelebt hatte, wird nach seiner Rückkehr 1851 intensiv befragt.

Als Perry 1853 mit seinen vier Schiffen in Uraga, an der Einfahrt zur Edo-Bucht auftaucht, ist das also für die Elite keine völlige Überraschung. Perry verlangt im Auftrag von US-Präsident Fillmore gute Behandlung von schiffbrüchig gewordenen Walfängern, die Öffnung von zwei japanischen Häfen, in denen die Walfänger Zuflucht finden und Proviant aufnehmen können und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, was die Entsendung eines amerikanischen Konsuls nach Edo einschliesst. Perry kündet an, nach kurzer Zeit zurückzukommen, um die Antwort des Kaisers (er geht davon aus, dass dieser das Land regiert) entgegenzunehmen. Er macht klar, dass die USA nötigenfalls nicht zögern werden, ihre Forderungen gewaltsam durchzusetzen.

Perry wird von Malern (v.a dem Deutschen Wilhelm Heine) und Fotografen begleitet und auch auf japanischer Seite fertigen Künstler viele Illustrationen über die Begegnungen an, die ein reichhaltiges, faszinierendes Bild davon abgeben, wie sich Vertreter der beiden Kulturen gesehen haben. Die «offiziellen» Darstellungen weichen erheblich voneinander ab:

Heine, William. Delivery of the President’s Letter. ca. 1856. Lithograph. Narrative of the Expedition. Edited by Francis L. Hawks. Washington, D.C., 1856. . CC BY NC SA , MIT
Perry Taking a Bow to the Japanese Magistrate. 1854. Woodblock print. Ryōsenji Treasure Museum. CC BY NC SA , MIT

Der zweite Besuch sechs Monate später 1854 dauert länger, während ihres Aufenthaltes an Land werden die Crewmitglieder von japanischen Künstlern aufmerksam beobachtet:

Ein Schiff Perrys und Crewmitglieder, zeitgenössische japanische Darstellung (Ryosenji Treasure Museum) CC BY NC US 3.0 , MIT
Begegnung von zwei Kulturen. Crewmitglieder Perrys versuchen sich beim Enthülsen. Black Ship Scroll. 1854. Hand scroll. Honolulu Academy of Arts. CC BY NC SA , MIT

Während dieses zweiten Besuches  wird – obwohl das Shogunat über die Frage, ob es zustimmen soll tief gespalten ist – der Vertrag von Kanagawa geschlossen, in dem die amerikanischen Forderungen weitgehend akzeptiert werden.

Meiji-Modernisierung
In einem kurzen Übergangsteil wird im MOOC dann auf die die Modernisierung Japans im Zuge der ursprünglich konservativen Meiji-Restauration, eher einer Revolution, (1868) eingegangen. Die gegen das Tokugawa-Shogunat gerichteten und schon vor Perrys Ankunft existierenden Kräfte übernehmen die Macht, das Tokugawa-Shogunat in Edo mit seinen Regionalfürsten, den Daimyo, wird ersetzt durch eine zentralere, modernere Staatsform. Der nun in Tokio, dem früheren Edo residierende Kaiser wird Staatsoberhaupt, ein Parlament und eine Verfassung werden geschaffen.

Japan lernt schnell und «öffnet» seinerseits 1876 mit Kanonenbootpolitik Korea. Die Meiji-Regierung setzt nun auf Modernisierung in allen Belangen, Yokohama wird eine «Boomtown»

Sadahide. Picture of a Mercantile Establishment in Yokohama. 1861. Woodblock print. Arthur M. Sackler Gallery, Smithsonian Institution. CC BY NC SA , MIT

Industrialisierung, Aufrüstung und Urbanisierung erfolgen in hohem Tempo.

Utagawa Kuniaki II. Illustration of the Silk Reeling Machine at the Japanese National Industrial Exposition. 1877. Woodblock Print. Sharf Collection, Museum of Fine Arts, Boston. . CC BY NC SA , MIT

Japan gewinnt den chinesisch-japanischen Krieg, bei dem es wesentlich um Einfluss in Korea geht. Korea gehört nun ganz zur japanischen Einflusszone und wird später zuerst Protektorat, dann Kolonie Japans. Japan erhält Formosa (Taiwan) und die Liadong-Halbinsel, die es jedoch wegen der «Triple-Intervention» durch Russland, Frankreich und Deutschland wieder verliert und die dann durch Russland gepachtet werden kann.

Russisch-japanischer Krieg CC BY NC SA , MIT

1904/1905 gelingt es Japan im russisch-japanischen Krieg eine traditionelle westliche Macht zu schlagen. Der grösser werdende Einfluss Russlands in der Mandschurei, in der seit dem Boxer-Aufstand viele russische Soldaten stationiert sind, wird beseitigt. Der von US-Präsident Theodore Roosevelt vermittelte Vertrag von Portsmouth bringt zwar den Rückzug Russlands aus der Mandschurei, wo Japan eine wichtige Eisenbahn-Konzession erhält und die südliche Hälfte Sachalins, ansonsten aber keine Landgewinne. Auch mit Reparationszahlungen kann Japan, das seine Steuern während des Krieges massiv erhöhen musste, nicht rechnen. Der in den Augen sehr vieler Japaner schlechte Vertrag führt zu den Hibiya-Unruhen 1905. Hier setzt das zweite Modul des Kurses ein.

Social Protest in Imperial Japan: The Hibiya Riot of 1905
Die dreitägigen Hibiya-Unruhen, nach dem Park im Zentrum in Tokio, in dem sie begannen benannt, werden anhand von Bildern, hauptsächlich aus dem illustrierten Magazin «Tokyo Riot Graphic», dargestellt und analysiert.

The Tokyo Riot Graphic (Tokyo: Kinji Gahō Company), 66 (September 18, 1905). . CC BY NC SA , MIT

Wie schon John Dower im ersten Teil versteht es auch Andrew Gordon, die Bilder als aussagestarke Quellen zu analysieren. Er erreicht damit die Ziele «to discover the role and significance of protest in early twentieth-century Japan; and second, to consider how studying images can shed new light on historical events.» Der durch den technischen Fortschritt ermöglichte Medienwandel hin zu Zeitschriften mit zahlreichen Illustrationen (Lithographien und Photograpien) wird mit dem Magazin «Wartime Graphic» aus dem russisch-japanischen Krieg dargestellt. Durch die Darstellungen des Krieges kann man auch den Aufruhr, der auf Grund des Vertrages von Portsmouth entsteht nachvollziehen. Die Unruhen werden von verschiedensten sozialen Schichten getragenen, sie sind die ersten sozialen Proteste im Zeitalter der japanischen «imperialen Demokratie».

The Tokyo Riot Graphic, No. 66, Sept. 18, 1905. . CC BY NC SA , MIT

Es wird klar, dass das Ziel, eine imperiale Macht zu werden von der Bevölkerung unterstützt wird, dass sie aber auch politische Partizipation einfordert.

In einigen Übergangssequenzen des MOOC werden weitere soziale Unruhen, der Aufstieg der Gewerkschaften im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung, ihre Radikalisierung nach dem ersten Weltkrieg und die aktive Stellung der Frauen in der Gewerkschaftsbewegung dargestellt. Eine Sequenz zeigt einen Besuch in der Sammlung des Ohara-Institutes, in dem viele Poster, Flugblätter usw. aus dieser Zeit aufbewahrt und auch digitalisiert wurden. Anhand der verschiedenen Graphiken wird auch die intensive Vernetzung mit der weltweiten Arbeiterbewegung klar.

Parallel zu Armut und Protestbewegungen in der Zwischenkriegszeit und auch parallel zu den Hungersnöten in den ländlichen Gebieten entsteht in der Zwischenkriegszeit «das neue Tokio». Die Stadt wird nach dem grossen Kanto-Erdbeben 1923 zu grossen Teilen neu aufgebaut, es entsteht eine moderne Stadt mit einer urbanen Konsumkultur mit der Ginza als kosmopolitischem Zentrum.

From the series One Hundred Views of New Tokyo, collection of Carnegie Museum of Art, 1027126 . CC BY NC SA , MIT

Modernity in Interwar Japan: Shiseido and Consumer Culture

Das dritte Modul des Kurses nimmt seine Illustrationen aus dem Archiv der Kosmetikfirma «Shiseido». Der hochstehende Mix aus Kunst und Kommerz eignet sich sehr gut, um die Modernität im Japan der Zwischenkriegszeit mit ihrer vielfältigen kosmopolitischen Vernetzung aufzuzeigen. Gennifer Weisenfeld, Professor of Art, Art History & Visual Studies an der Duke University wirkt als Gast in diesem Modul mit.

Shiseido-Poster 1925. . CC BY NC SA , MIT

Die Ästhetik der Zwischenkriegszeit mit Paris als Zentrum und Inspirationsquelle, Art Nouveau und Art Déco zeigen auch auf, wie sich das Frauenbild, Vorstellungen der idealen Familie, Schönheitsideale usw. transnational ändern. Bauhaus, Hollywood und Massenproduktion haben grossen Einfluss, Plakate sind zum Teil avantgardistisch. In Japan wie anderswo erscheinen mit den eigenständigen «Moga» (Modern Girls) den gebildeten Hausfrauen «good wife, wise mother», den «working woman» neue Frauentypen (alle Zielgruppen von Shiseido). Luxuriöses Leben ist ein Ideal, von dem man in allen Schichten träumen und an dem man dank der Shiseido-Produkte ein wenig teilhaben darf.

Shiseido-Poster, 1927. CC BY NC SA , MIT

In den 1930er-Jahren werden die Bilder dann nationalistischer, zum Teil militaristischer. Nationale Symbole wie die Fahne, Mount Fuji oder auch Flugzeuge und Uniformen sind vermehrt zu sehen.

Den Abschluss des Kurses bildet ein Ausblick auf den zweiten Weltkrieg, auf die Beziehungen von Modernität und Militarismus, den Pan-Asianismus mit dem Ziel der Überwindung des westlichen Kolonialismus in weiten Teilen Asiens. Der japanische Militarismus wird nicht als reaktionärer Rückgriff auf die semi-feudale Vergangenheit, als Verführung der Massen erklärt, sondern als Teil der Modernität, als eine Mischung aus Druck und Einverständnis («coercion and consent»)

Shiseido Chainstore Alma Mater 1940. CC BY NC SA , MIT

Dieser xMOOC ist sowohl didaktisch wie inhaltlich sehr gut gemacht. Er nutzt die Visualizing Cultures-Sammlung des MIT optimal, führt einerseits in die faszinierende Zeit zwischen Perry und dem Beginn des zweiten Weltkrieges ein, zeigt aber andererseits auch auf, wie reichhaltig und aussagekräftig Bilder als Quellen sind. Die beiden hauptsächlich durch die Module führende Professoren sind führende Experten auf ihrem Gebiet, sie haben aber auch eine sympathische Präsenz in den vielen Videosequenzen, ihr Enthusiasmus für die Geschichte Japans und für die Bilder, ebenso wie ihre hohen wissenschaftlichen Standards sind deutlich spürbar.

 

Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens – 1. Teil: Wege des Wissens

osterhammeltitel_kDas Buch «Die Entzauberung Asiens – Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert» von Jürgen Osterhammel ist 1997 zum ersten Mal erschienen und wurde 2010 – versehen mit einem neuen Nachwort –neu aufgelegt.

Rezensionen finden sich in den Mitteilungen der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens bei der Uni Hamburg. und bei H-Soz-Kult

Osterhammel schreibt zum Begriff «Entzauberung»:

«Im Laufe des 18. Jahrhunderts, das als ein langes, um 1680 beginnendes Jahrhundert gefaßt werden sollte, verloren die Zivilisationen Asiens in der charakteristischen Sichtweise von Europäern ihre Märchenhaftigkeit. Zwar hielt sich (…) weiterhin die Bilderwelt des phantastischen Orients, doch trat daneben die rationale Beschreibung und Analyse zeitgenössischer asiatischer Gesellschaften, die zu zeigen versuchte, wie diese Gesellschaften samt ihren politischen Systemen und religiösen Praktiken „funktionierten“. Die Länder des nichtchristlichen Eurasiens wurden keineswegs einem pauschalen Oberbegriff von „Asien“ oder dem „Orient“ als dem Gegenteil von „Europa“ bzw. dem „Okzident“ unterworfen, sondern in ihren Besonderheiten vergleichend dargestellt und diskutiert. Schroffe Ost-West-Dichotomien finden sich im 18. Jahrhundert ebenso selten wie Versuche, Asien aus der Sphäre historischer Bewegung in einen Sonderraum der „Geschichtslosigkeit“ zu verdrängen, es auf ein Abstellgleis der Weltgeschichte zu schieben.» (Osterhammel 2010, Pos. 8592)1
«Wenn Max Weber an einer Stelle in seinem Spätwerk die Entzauberung der Welt als deren ‘Verwandlung in einen kausalen Mechanismus’ durch ‘rational empirisches Erkennen’ bezeichnet (Weber 1920: 564), dann war dies genau das Ziel europäischer Aufklärer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dabei wurde das «Fremde» (eine hier anachronistische Kategorie) keineswegs durch Exotisierung in ein rätselhaftes «Anderes» verwandelt. Vielmehr unterzog man es denselben Denkformen verstandesmäßiger Analyse und vernünftiger Beurteilung, die man auch auf politische und gesellschaftliche Zustände in Europa anwandte. Asien wurde entmystifiziert und innerhalb eines einheitlichen kognitiven Kontinuums begreifbar gemacht.» (Pos. 8600)

Diese Entzauberung ermöglichte im 18. Jahrhundert, andere Länder und Menschen als zwar andere, aber gleichrangige Nachbarn zu sehen:

«Die Entzauberung Asiens nahm einem Kontinent, der lange als der Ursprung aller Religion und Kultur gegolten hatte, seinen Glanz, aber auch seine Dämonie. Für eine kurze Zeit wurden Araber, Inder, Perser oder Chinesen zu entfernten Nachbarn, mit denen sich trotz offensichtlicher Kommunikationsschwierigkeiten ein durch ethnologische Rücksichten kaum verzerrter Dialog führen ließ. Spätestens der im frühen 19. Jahrhundert aufkommende Rassismus, gleichsam der finstere Zwilling einfühlsamer Romantik, machte diese Chancen zunichte.» (Pos. 185)

Der erste Teil des Buches («Wege des Wissens»)

«behandelt nicht die europäischen Repräsentationen Asiens in Texten, sondern fragt danach, unter welchen Umständen Wissen – dieses Wort wird in einer sehr weiten Bedeutung verwendet – über Asien überhaupt entstehen konnte.» (Pos. 8559)
gesandtschaft
Holländische Gesandtschaft auf dem Weg nach Edo (Kämpfer 1777-1779, 2. Band, nach S. 198)2

 

Ein Beispiel von Wissen über Asien: Der Westfälische Arzt Engelbert Kämpfer stand im Dienste der VOC und war auf der Insel Dejima vor Nagasaki stationiert. Er verfasste in den 1690er Jahren die (in der Originalsprache Deutsch erst 1777 – 1779) publizierte Geschichte und Beschreibung von Japan. Er beschreibt unter anderem die Reise zur kaiserlichen Residenz in Edo, die damals einzige Möglichkeit, einen Eindruck von Japan zu gewinnen.

muru
Ansicht von Muru (Kaempfer 1777-1779, 2. Band, nach S. 218)

 

219-badhaus
Beschreibung eines Badhauses (Kaempfer 1777-1779, 2. Band, S. 219)

Osterhammel macht deutlich, dass ein Text ein «relativ spätes Ergebnis komplexer Vorgänge» (Pos. 482) ist und er beleuchtet –anhand einer Vielzahl von Quellen, vor allem Reiseberichten aus dem 18. Jahrhundert – die komplexen Vorgänge, wie im 18. Jahrhundert Wissen über Asien konstruiert wurde. Er entwirft eine sehr umfassende Logistik der Fremdbildproduktion. «Zu dieser Logistik gehören das Reisen und die Anhäufung kolonial verwertbaren Wissens, die konkrete Begegnung und Interaktion des «handelnden Beobachters» (…) mit seiner fremdkulturellen Umwelt, die Gelehrtenwelt samt ihren eigenen Wahrnehmungsinteressen und Urteilsmaßstäben, schließlich der literarische Markt, der den Gesetzen der Verwertung und des Wettbewerbs folgt.» (Pos. 483)

niebuhr199
Informationssammlung in Ägypten (Niebuhr 1779, S. 199)3

hall19f

hallbild
Kommunikationsschwierigkeiten in Korea (Hall 1820, 19f.)4
schwabe-vorrede-engl
Schlechte Übersetzungen können zur verzerrten Fremdbildproduktion beitragen (Schwabe 1747, Vorrede der englischen Verfasser)5

In der späten Aufklärung erwarteten die Zeitgenossen

«von dem Reisenden wohlbegründete Einschätzungen fremder Verhältnisse und möglichst auch Lehren daraus für Europa. Er soll nicht schulmeistern und keine europäischen Urteilsmaßstäbe unbesehen auf ferne Länder anwenden. Aber er darf nicht unter allen Umständen neutral bleiben. Er soll Unzweckmäßigkeiten und Ungerechtigkeiten beim Namen nennen, einheimische Gewaltherrscher anprangern und die Untaten der Europäer nicht verschonen. Dieses Ideal des sachverständig und vernünftig urteilenden Beobachters ist ein Ideal der späten Aufklärung.» (Pos. 3123)
forster-1
Statt der Habgier die Wissenschaft. Mit dem unsterblichen Seemann ist Kolumbus gemeint (Forster 1784, Vorrede)6

Dieser erste Teil des Buches ermöglichte mir sowohl Einsichten in die Wahrnehmung Asiens durch Europa im 18. Jahrhundert wie in die Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts. Die Quellen, die Osterhammel zusammengestellt hat, sind unerschöpflich und äusserst anregend, ich habe hier nur ganz wenige beigezogen. Schliesslich hat mich – weil ich in einer völlig veränderten Welt und in vollkommen anderen Kontexten selbst ab und zu Reiseberichte schreibe – fasziniert, wie Osterhammel hier ungemein kenntnisreich Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens fremder Kulturen beschreibt.

loo-choo
Parting Scene at Loo Choo (Ryûkyû-Inseln). Hall 1820, vor Titelblatt.

1 Osterhammel, Jürgen. 2010. Die Die Entzauberung Asiens – Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München: Beck. Neuauflage (1. Auflage 1998). E-Book.
2Kämpfer, Engelbert. 1777-1779. Engelbert Kämpfers weyl. D.M. und hochgräfl. Lippischen Leibmedikus Geschichte und Beschreibung von Japan. http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-48618 (ZB Zürich, e-rara, PD NC)
3Niebuhr, Carsten. 1779-1781. Reise und Beobachtungen durch Egypten und Arabien. http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-26125 (ZB Zürich, e-rara, PD NC)
4 Hall, Basil. 1820. Voyage to Corea, ant the Island of Loo-Choo with plates. London: Murray. urn:nbn:de:bvb:12-bsb10466947-9(Bayerische Staatsbibliothek, Digitale Bibliothek, PD NC)
5 Schwabe, Johann Joachim.  1748. Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und Lande; oder Sammlung aller Reisebeschreibungen, welche bis itzo in verschiedenen Sprachen von allen Völkern herausgegeben worden, … Erster Band. Leipzig: Arkztee und Markus. urn:nbn:de:bvb:12-bsb11062247-2(Bayerische Staatsbibliothek, Digitale Bibliothek, PD NC) Die 21 Foliobände stellen gemäss Osterhammel das grösste deutsche Reiseprojekt dar, es wurde einem Gelehrtenkreis um den Leipziger Gottsched-Schüler Johann Joachim Schwabe zwischen 1747 und 1774 herausgegeben.
6 Forster, George. 1784. Johann Reinhold Forster’s der Rechte, Medicin und Weltweisheit Doctor … Reise um die Welt, während den Jahren 1772 bis 1775 in dem von Sr. itztregierenden grosbrittannischen Majestät auf Entdeckungen ausgeschickten und durch den Capitain Cook geführten Schiffe the Resolution unternommen. Berlin: Haude und Spener. (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, PD NC)
Bd 1: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN675472741|LOG_0004
Bd 2: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN675472776|LOG_0004
Bd 3: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN675472806|LOG_0004

Yoshiwara und Wakashū

edotokio

Das Edo-Tokyo-Museum in Tokio gibt u.a. mit vielen Dioramen einen guten Einblick in das Alltagsleben im früheren Edo und dem heutigen Tokio. Ich habe mich allerdings beim Besuch gefragt, welche Facetten des Vergnügungs-Bezirks Yoshiwara in der Ausstellung nicht erwähnt werden. Dieter Kuhn schreibt:

«In den Vergnügungsvierteln, an den Rändern der ehrenwerten Gesellschaft also, fanden sich Bordelle und Theater oft nahe beieinander. Die »fließende Welt« ( ukiyo ) der Schauspieler und Kurtisanen wurde in Holzschnitten gefeiert. Im frühen 17. Jahrhundert baten Unternehmer in den drei Metropolen den Shōgun, Bezirke für Bordelle auszuweisen, damit das Gewerbe unter Kontrolle gehalten werden könne. In Edo entstand so der von Gräben und Mauern umgebene Bezirk Yoshiwara, dessen Haupttor bewacht wurde. Die Kurtisanen waren nach Rängen eingeteilt. Zu den frühesten Kunden zählten Daimyō und Samurai, dann vor allem auch reiche Kaufleute. Damit begann die Kommerzialisierung des Standes der professionellen Unterhalterinnen, bekannt als Geishas.»1

Das im Museum wenig Dargestellte wird in einer immer noch online abrufbaren Ausstellung des Honolulu Museums of Art beschrieben und gezeigt. In den Texten zur Aussteilung werden Geschichte und Leben im Bezirk geschildert, begleitet von sehr expliziten Shunga, erotischen bzw. pornographischen Holzblockdrucken (ukiyo-e). Der Bezirk Yoshiwara wurde 1617 geschaffen,

«as part of their attempt to deal with the imbalanced demographics of Edo City and to placate the disproportionately high percentage of sexually frustrated male residents, the shogunate ordered the construction of a walled, licensed brothel district on a 11.8-acre lot along the outskirts of the city (near modern-day Nihonbashi district, Tokyo).»2

Grund der nicht ausbalancierten Demographie war die «alternierende Residenzpflicht» Damit im Feudalsystem das Shogunat die Kontrolle über die lokalen Herrscher in den Regionen, die Daimyō, behielt wurde 1635 das System der alternierenden Residenzpflicht eingeführt, das bis 1862 in Kraft blieb. Jeder Daimyō musste die Hälfte des Jahres in seiner Domäne, die andere Hälfte in Edo verbringen. Während der Daimyō zwischen den Wohnsitzen wechselte mussten seine Frau und sein Erbe quasi als Geiseln in Edo leben. Der Unterhalt zweier teurer Residenzen schwächte die Daimyō wirtschaftlich, doch das System brachte auch Handel, Poststationen und städtische Kultur ins Hinterland.3

Weil die Daimyōs ihren Wohnsitz natürlich nicht allein, sondern mit Samurai und vielen anderen männlichen Bediensteten jeweils nach Edo verlegten, wohnten in der Stadt viel mehr Männer als Frauen, was dann zur Einrichtung des Yoshiwara-Bezirks führte, um den Kultur-, Unterhaltungs- und sexuellen Bedürfnissen der vielen Männer entgegen zu kommen.

yoshiwara
Utagawa Toyoharu. – Scene of Shin Yoshiwara Naka-no-cho in Japan, ca. 1770. PD Wikimedia Commons

Bei dieser Recherche über den Yoshiwara-Bezirk stosse ich auf «wakashū», «the third gender». Das Honolulu Museum of Art erklärt:

In pre-modern and early modern Japan, physiological males were considered men (yarō) at the age of nineteen, but between the ages of eleven and nineteen, they were labeled wakashū, and contemporary scholars have recently begun to describe wakashū as a distinct, third gender. In Japanese prints and paintings, the delicate appearance of wakashū often make them difficult to distinguish from women.4

Bis anfangs 18. Jahrhundert spielten Wakashū prominente gesellschaftliche Rollen.

While the idea of a third gender may sound like an obscure oddity of early modern Japanese culture, wakashū were in fact extremely popular and played active roles in Japanese society, particularly in samurai communities, Buddhist temples, and Kabuki theater.»5

Ihr Ursprung wird in den «Chigo» gesehen, jugendlichen buddhistischen Tempeldienern, von denen einige den Priestern homosexuelle Dienste zu leisten hatten6. In der Japan Review wird Chigo no sōshi erwähnt, eine mittelalterlichen Handrolle, «which illustrates male-male sexual relationships between chigo (…) (adolescent males who studied and worked as apprentices in Buddhist temples) and older priests.)»7

Im 14./15. Jahrhundert war eine tragisch endende Liebesgeschichte zwischen einem Mönch und einem Chigo beliebt, sie ist auch in einer Bildrolle, die sich im Besitz des Metropolitan Museums New York befindet, dargestellt.8

alongtale
A Long Tale for an Autumn Night PD Metropolitan Museum
cherryblossom
Wakashu with a Flower Cart PD Wikimedia Commons

Homosexualität wurde in Japan zwar nicht toleriert, die Liebe zu Wakashu (bzw. Chigo) aber scheint in einigen buddhistischen Klöstern, bei Samurai, im Umfeld der Kabuki-Theater und in zünftisch organisierten Handwerk zwischen Lehrmeistern und Lehrlingen gängig gewesen zu sein.

Zu ihren Rollen im Kabuki-Theater kamen Wakashū, weil es ab 1629 Frauen verboten war, auf Kabuki-Bühnen aufzutreten, ihr Spiel wurde von den Behörden als zu aufreizend angesehen. Wakashū, die jetzt einsprangen, wurden aber von den Zuschauern als erotisch noch attraktiver angesehen, so dass 1651 zunächst auch ihre Auftritte verboten wurden.9

Viele Liebhaber versuchten zwar das Erwachsenenwerden ihrer Geliebten herauszuzögern, nach der Zeremonie des Erwachsenenwerdens war aber jede körperliche Liebe ausgeschlossen, was zum Vergleich der Wakashu mit der Kirschblüte führte. So schön und so vergänglich.

1 Kuhn, Dieter. 2014. Neue Fischer Weltgeschichte. Band 13: Ostasien bis 1800. Frankfurt/M.: Fischer. E-Book Pos. 8345
2http://shunga.honolulumuseum.org/2012/index.php?status=complete&page=52&language=english (3.8.2016)
3 Kuhn 2014, Pos. 8119
4 http://shunga.honolulumuseum.org/2012/index.php?status=complete&page=37&language=english (3.8.2016)
5  http://shunga.honolulumuseum.org/2012/index.php?status=complete&page=38&language=english (3.8.2016)
6 http://www.hoodedutilitarian.com/2010/08/1000-years-of-pretty-boys/
7 Japan Review 26 (2013), 71 PDF (3.8.2016)
8 http://www.metmuseum.org/toah/works-of-art/2002.459.1/ (3.8.2016)
9 http://shunga.honolulumuseum.org/2012/index.php?status=complete&page=46&language=english (3.8.2016)