Visualizing Japan (1850s-1930s) – ein empfehlenswerter MOOC

Dieser MOOC mit dem vollständigen Titel «Visualizing Japan (1850s-1930s): Westernization, Protest, Modernity» wird von MITx und edX (Harvard) gemeinsam angeboten wird. John Dower, Emeritus des MIT, Andrew Gordon, der Lee and Juliet Folger Fund Professor of History an der Harvard University und Shigeru Miyagawa, der Kochi-Manjiro Professor of Japanese Language and Culture am MIT zeichnen gemeinsam verantwortlich für den Kurs.

Der MOOC besteht aus drei Hauptteilen, die durch Überleitungen miteinander verbunden werden.

  • Black Ships and Samurai, in dem die Zeit der unter Gewaltandrohung erfolgten «Öffnung» Japans beleuchtet wird
  • Social Protest in Imperial Japan: The Hibiya Riot of 1905. In diesem Modul werden die sozialen Unruhen nach dem russisch-japanischen Krieg thematisiert, im Wesentlichen anhand der Illustrationen in einer Zeitschrift
  • Modernity in Interwar Japan: Shiseido and Consumer Culture illustriert mit Plakaten, Anzeigen und Zeitschriften der Kosmetikfirma Shiseido die 1920er und 1930er Jahre in Japan.

Auf der Website Visualizing Cultures, die von John Dower initiiert wurde und vom MIT betrieben wird, sind all die visuellen Quellen zusammen mit informativen Essays dazu vorhanden.

Black Ships and Samurai

Die Aussenkontakte Japans werden vor Perrys Ankunft 1853 völlig vom Bakufu, der Militärregierung des Tokugawa-Shogunats kontrolliert und sind äusserst eingeschränkt. Der Handel mit dem Westen und mit China findet lediglich über Nagasaki statt. Dort ist es der Niederländischen Ostindien-Kompanie erlaubt, auf der künstlichen Insel Deshima eine Handelsstation zu betreiben, über die auch westliche Wissenschaft nach Japan fliesst.

Dejima bei Nagasaki (Kawahara Keiga. Dutch Ship Entering the Harbor. Early 19th century. Hand scroll. Nagasaki Municipal Museum. Worlds Revealed. Edited by Peabody Essex Museum and Edo-Tokyo Museum. Tokyo, 1999.) CC BY NC SA , MIT

In Japan ist das Shogunat gut darüber orientiert, wie China im Opiumkrieg den viel besser ausgerüsteten britischen Truppen weit unterlegen war und wie es zu ungleichen Verträgen gezwungen wurde. Auch über die USA haben die Samurai Informationen. John Manjiro, der als Schiffbrüchiger 1841 von einem amerikanischen Schiff gerettet und danach 10 Jahre in den USA und auf amerikanischen Walfangschiffen gelebt hatte, wird nach seiner Rückkehr 1851 intensiv befragt.

Als Perry 1853 mit seinen vier Schiffen in Uraga, an der Einfahrt zur Edo-Bucht auftaucht, ist das also für die Elite keine völlige Überraschung. Perry verlangt im Auftrag von US-Präsident Fillmore gute Behandlung von schiffbrüchig gewordenen Walfängern, die Öffnung von zwei japanischen Häfen, in denen die Walfänger Zuflucht finden und Proviant aufnehmen können und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, was die Entsendung eines amerikanischen Konsuls nach Edo einschliesst. Perry kündet an, nach kurzer Zeit zurückzukommen, um die Antwort des Kaisers (er geht davon aus, dass dieser das Land regiert) entgegenzunehmen. Er macht klar, dass die USA nötigenfalls nicht zögern werden, ihre Forderungen gewaltsam durchzusetzen.

Perry wird von Malern (v.a dem Deutschen Wilhelm Heine) und Fotografen begleitet und auch auf japanischer Seite fertigen Künstler viele Illustrationen über die Begegnungen an, die ein reichhaltiges, faszinierendes Bild davon abgeben, wie sich Vertreter der beiden Kulturen gesehen haben. Die «offiziellen» Darstellungen weichen erheblich voneinander ab:

Heine, William. Delivery of the President’s Letter. ca. 1856. Lithograph. Narrative of the Expedition. Edited by Francis L. Hawks. Washington, D.C., 1856. . CC BY NC SA , MIT
Perry Taking a Bow to the Japanese Magistrate. 1854. Woodblock print. Ryōsenji Treasure Museum. CC BY NC SA , MIT

Der zweite Besuch sechs Monate später 1854 dauert länger, während ihres Aufenthaltes an Land werden die Crewmitglieder von japanischen Künstlern aufmerksam beobachtet:

Ein Schiff Perrys und Crewmitglieder, zeitgenössische japanische Darstellung (Ryosenji Treasure Museum) CC BY NC US 3.0 , MIT
Begegnung von zwei Kulturen. Crewmitglieder Perrys versuchen sich beim Enthülsen. Black Ship Scroll. 1854. Hand scroll. Honolulu Academy of Arts. CC BY NC SA , MIT

Während dieses zweiten Besuches  wird – obwohl das Shogunat über die Frage, ob es zustimmen soll tief gespalten ist – der Vertrag von Kanagawa geschlossen, in dem die amerikanischen Forderungen weitgehend akzeptiert werden.

Meiji-Modernisierung
In einem kurzen Übergangsteil wird im MOOC dann auf die die Modernisierung Japans im Zuge der ursprünglich konservativen Meiji-Restauration, eher einer Revolution, (1868) eingegangen. Die gegen das Tokugawa-Shogunat gerichteten und schon vor Perrys Ankunft existierenden Kräfte übernehmen die Macht, das Tokugawa-Shogunat in Edo mit seinen Regionalfürsten, den Daimyo, wird ersetzt durch eine zentralere, modernere Staatsform. Der nun in Tokio, dem früheren Edo residierende Kaiser wird Staatsoberhaupt, ein Parlament und eine Verfassung werden geschaffen.

Japan lernt schnell und «öffnet» seinerseits 1876 mit Kanonenbootpolitik Korea. Die Meiji-Regierung setzt nun auf Modernisierung in allen Belangen, Yokohama wird eine «Boomtown»

Sadahide. Picture of a Mercantile Establishment in Yokohama. 1861. Woodblock print. Arthur M. Sackler Gallery, Smithsonian Institution. CC BY NC SA , MIT

Industrialisierung, Aufrüstung und Urbanisierung erfolgen in hohem Tempo.

Utagawa Kuniaki II. Illustration of the Silk Reeling Machine at the Japanese National Industrial Exposition. 1877. Woodblock Print. Sharf Collection, Museum of Fine Arts, Boston. . CC BY NC SA , MIT

Japan gewinnt den chinesisch-japanischen Krieg, bei dem es wesentlich um Einfluss in Korea geht. Korea gehört nun ganz zur japanischen Einflusszone und wird später zuerst Protektorat, dann Kolonie Japans. Japan erhält Formosa (Taiwan) und die Liadong-Halbinsel, die es jedoch wegen der «Triple-Intervention» durch Russland, Frankreich und Deutschland wieder verliert und die dann durch Russland gepachtet werden kann.

Russisch-japanischer Krieg CC BY NC SA , MIT

1904/1905 gelingt es Japan im russisch-japanischen Krieg eine traditionelle westliche Macht zu schlagen. Der grösser werdende Einfluss Russlands in der Mandschurei, in der seit dem Boxer-Aufstand viele russische Soldaten stationiert sind, wird beseitigt. Der von US-Präsident Theodore Roosevelt vermittelte Vertrag von Portsmouth bringt zwar den Rückzug Russlands aus der Mandschurei, wo Japan eine wichtige Eisenbahn-Konzession erhält und die südliche Hälfte Sachalins, ansonsten aber keine Landgewinne. Auch mit Reparationszahlungen kann Japan, das seine Steuern während des Krieges massiv erhöhen musste, nicht rechnen. Der in den Augen sehr vieler Japaner schlechte Vertrag führt zu den Hibiya-Unruhen 1905. Hier setzt das zweite Modul des Kurses ein.

Social Protest in Imperial Japan: The Hibiya Riot of 1905
Die dreitägigen Hibiya-Unruhen, nach dem Park im Zentrum in Tokio, in dem sie begannen benannt, werden anhand von Bildern, hauptsächlich aus dem illustrierten Magazin «Tokyo Riot Graphic», dargestellt und analysiert.

The Tokyo Riot Graphic (Tokyo: Kinji Gahō Company), 66 (September 18, 1905). . CC BY NC SA , MIT

Wie schon John Dower im ersten Teil versteht es auch Andrew Gordon, die Bilder als aussagestarke Quellen zu analysieren. Er erreicht damit die Ziele «to discover the role and significance of protest in early twentieth-century Japan; and second, to consider how studying images can shed new light on historical events.» Der durch den technischen Fortschritt ermöglichte Medienwandel hin zu Zeitschriften mit zahlreichen Illustrationen (Lithographien und Photograpien) wird mit dem Magazin «Wartime Graphic» aus dem russisch-japanischen Krieg dargestellt. Durch die Darstellungen des Krieges kann man auch den Aufruhr, der auf Grund des Vertrages von Portsmouth entsteht nachvollziehen. Die Unruhen werden von verschiedensten sozialen Schichten getragenen, sie sind die ersten sozialen Proteste im Zeitalter der japanischen «imperialen Demokratie».

The Tokyo Riot Graphic, No. 66, Sept. 18, 1905. . CC BY NC SA , MIT

Es wird klar, dass das Ziel, eine imperiale Macht zu werden von der Bevölkerung unterstützt wird, dass sie aber auch politische Partizipation einfordert.

In einigen Übergangssequenzen des MOOC werden weitere soziale Unruhen, der Aufstieg der Gewerkschaften im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung, ihre Radikalisierung nach dem ersten Weltkrieg und die aktive Stellung der Frauen in der Gewerkschaftsbewegung dargestellt. Eine Sequenz zeigt einen Besuch in der Sammlung des Ohara-Institutes, in dem viele Poster, Flugblätter usw. aus dieser Zeit aufbewahrt und auch digitalisiert wurden. Anhand der verschiedenen Graphiken wird auch die intensive Vernetzung mit der weltweiten Arbeiterbewegung klar.

Parallel zu Armut und Protestbewegungen in der Zwischenkriegszeit und auch parallel zu den Hungersnöten in den ländlichen Gebieten entsteht in der Zwischenkriegszeit «das neue Tokio». Die Stadt wird nach dem grossen Kanto-Erdbeben 1923 zu grossen Teilen neu aufgebaut, es entsteht eine moderne Stadt mit einer urbanen Konsumkultur mit der Ginza als kosmopolitischem Zentrum.

From the series One Hundred Views of New Tokyo, collection of Carnegie Museum of Art, 1027126 . CC BY NC SA , MIT

Modernity in Interwar Japan: Shiseido and Consumer Culture

Das dritte Modul des Kurses nimmt seine Illustrationen aus dem Archiv der Kosmetikfirma «Shiseido». Der hochstehende Mix aus Kunst und Kommerz eignet sich sehr gut, um die Modernität im Japan der Zwischenkriegszeit mit ihrer vielfältigen kosmopolitischen Vernetzung aufzuzeigen. Gennifer Weisenfeld, Professor of Art, Art History & Visual Studies an der Duke University wirkt als Gast in diesem Modul mit.

Shiseido-Poster 1925. . CC BY NC SA , MIT

Die Ästhetik der Zwischenkriegszeit mit Paris als Zentrum und Inspirationsquelle, Art Nouveau und Art Déco zeigen auch auf, wie sich das Frauenbild, Vorstellungen der idealen Familie, Schönheitsideale usw. transnational ändern. Bauhaus, Hollywood und Massenproduktion haben grossen Einfluss, Plakate sind zum Teil avantgardistisch. In Japan wie anderswo erscheinen mit den eigenständigen «Moga» (Modern Girls) den gebildeten Hausfrauen «good wife, wise mother», den «working woman» neue Frauentypen (alle Zielgruppen von Shiseido). Luxuriöses Leben ist ein Ideal, von dem man in allen Schichten träumen und an dem man dank der Shiseido-Produkte ein wenig teilhaben darf.

Shiseido-Poster, 1927. CC BY NC SA , MIT

In den 1930er-Jahren werden die Bilder dann nationalistischer, zum Teil militaristischer. Nationale Symbole wie die Fahne, Mount Fuji oder auch Flugzeuge und Uniformen sind vermehrt zu sehen.

Den Abschluss des Kurses bildet ein Ausblick auf den zweiten Weltkrieg, auf die Beziehungen von Modernität und Militarismus, den Pan-Asianismus mit dem Ziel der Überwindung des westlichen Kolonialismus in weiten Teilen Asiens. Der japanische Militarismus wird nicht als reaktionärer Rückgriff auf die semi-feudale Vergangenheit, als Verführung der Massen erklärt, sondern als Teil der Modernität, als eine Mischung aus Druck und Einverständnis («coercion and consent»)

Shiseido Chainstore Alma Mater 1940. CC BY NC SA , MIT

Dieser xMOOC ist sowohl didaktisch wie inhaltlich sehr gut gemacht. Er nutzt die Visualizing Cultures-Sammlung des MIT optimal, führt einerseits in die faszinierende Zeit zwischen Perry und dem Beginn des zweiten Weltkrieges ein, zeigt aber andererseits auch auf, wie reichhaltig und aussagekräftig Bilder als Quellen sind. Die beiden hauptsächlich durch die Module führende Professoren sind führende Experten auf ihrem Gebiet, sie haben aber auch eine sympathische Präsenz in den vielen Videosequenzen, ihr Enthusiasmus für die Geschichte Japans und für die Bilder, ebenso wie ihre hohen wissenschaftlichen Standards sind deutlich spürbar.

 

Reise ins China des frühen 20. Jahrhunderts

Der Crossasia-Blog (Bildquelle) macht in einem Beitrag vom 14. Juli 2016 darauf aufmerksam, dass die Staatsbibliothek zu Berlin den Nachlass des deutschen Konsuls Fritz Weiss (Wikipedia) und seiner Ehefrau Hedwig Weiss-Sonnenberg (Wikipedia) übernommen hat. Hedwig und Fritz Weiss waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts konsularisch an verschiedenen Orten in China tätig. Hedwig Weiss-Sonnenberg  hat ihre Beobachtungen immer wieder als Reiseberichte publiziert und später auch in Kinderbüchern verwertet.

Die Online-Ausstellung von Crossasia mit Fotografien, Texten, Karten und Tondokumenten aus dem Nachlass gibt einen sehr guten Einblick in ihre Zeit in China.

Online abrufbar sind andernorts auch einige der Texte von Hedwig Weiss-Sonnenberg. Sie ermöglichen einen weiteren Einblick in den Südwesten Chinas zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive dieser weltoffenen, interessierten, abenteuerlustigen Frau, die natürlich auch von der Weltanschauung ihrer Zeit geprägt war.

Das Ehepaar Weiss blieb nicht in den Städten, in denen Fritz Weiss als Konsul tätig war, sondern erkundete (immer in Begleitung von Trägern und Wächtern) die Gegend um Chengtu (Chengdu) und später Yunnanfu (Kunming). Eine der ersten gemeinsamen Reisen führte von Chengdu nach Kiating. Hedwig Weiss-Sonnenburg berichtet darüber in «Nord und Süd». Sie schildert Landschaft, Leute und die eigenen Erlebnisse (PDF des Artikels)1

In tiefer Nacht pochten wir an das schon geschlossene eiserne Tor der Stadt. Drinnen liess sich eine Stimme vernehmen, die uns versicherte, nicht mehr aufzumachen. Und erst nach langem Hin- und Herreden, nachdem wir versichert hatten, wir wären keine Räuber, öffnete man. Wir gingen zur französischen Mission und Père Gire nahm die sehr müden Wanderer freundlich auf. (334)
So waren wir recht froh, als wir einem Trupp Frauen begegneten, die uns sagten, wir wären gleich oben. Die kleinen Frauen hatten in dem Tempel geopfert, der auf dem Shou Kung Shan liegt; es ist mir unerklärlich, wie sie mit den unglücklichen Füssen da hinauf gelangt waren. (344)

In der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde veröffentlichte «Frau Konsul Fritz Weiss» dann 1915 einen Beitrag über eine gewagte Expedition ins «Lololand»,  d.h. ins Gebiet der Yi (Wikipedia), die sie mit ihrem Mann unternahm. (PDF des Artikels)2 Die chinesischen Behörden hatten wenig Autorität über das Gebiet der Yi, so dass die Reise nur mit einem «Bürgen» der betreffenden Ethnie, in diesem Fall einem Adeligen möglich und trotzdem risikoreich war.

«Es ist überhaupt vor uns nur zwei fremden Expeditionen vor drei Jahren gelungen, bei ihnen einzudringen. Die erste war von d'Ollone geleitet, einem französischen Offizier, dem es hauptsächlich durch die Hilfe der katholischen Mission gelang, einzudringen, und das Land in gerader Richtung bis an den Yangtse zu durchqueren. Der zweite, ein Engländer Namens Brooke, wurde bei einer ähnlichen Durchquerung von den Lolos erschlagen.» (Ebd., 74).

Hedwig und Fritz Weiss brachten Fotografien und Tonaufnahmen von ihrer Reise mit. Hedwig Weiss-Sonnenburg schildert  die Yi  mit Sympathie, wenn auch mit dem Abstand der Höhergestellten.

Mapie, unser Bürge, verabschiedet sich hier nach wohlverdienter
Belohnung samt seinen Hörigen mit tiefem Kniefall vor uns und stürmt dann mit ihnen unter lautem vergnügtem Rufen davon.Im Laufschritt sehen wir sie den Weg zurücknehmend, den wir eben gekommen sind und hinter einem Hügel verschwinden. Ein freies, glückliches Volk. (Ebd., 90).
Bildquelle: http://themen.crossasia.org/weiss/start/reisen/
Bildquelle: Crossasia

Die letzte Reise in China war keine freiwillige mehr. China hatte Deutschland am 14. August 1917 den Krieg erklärt, was natürlich zu einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen führte. Das Konsulat in Kunming musste aufgegeben werden und Hedwig und Fritz Weiss mussten mit ihren zwei Kleinkindern das Land verlassen, was eine 3000 Kilometer lange Landreise von Kunming über das Yunnan-Plateau nach Szechuan und schliesslich Shanghai nötig machte. Hedwig Weiss-Sonnenburg schildert sie unter dem Titel «Dreitausend Kilometer quer durch China – Erinnerungen einer Deutschen aus dem Jahre 1917» (PDF des Artikels3 ebenfalls in «Nord und Süd». Hier begegnen wir auch den Revolutionswirren in der Zeit nach dem Sturz der Qing-Dynastie 1912:

Den ganzen Tag über begegneten uns die zwei von Trägern getragenen leichten Bergsänften mit kranken Soldaten, die vom Lazarett in Suifu nach ihrer Heimat befördert wurden. Sie gehörten zu den Yünnan-Truppen, die vor wenigen Monaten mal wieder für das Fortbestehen der Republik China gegen die anders denkenden Szetchuan-Truppen gekämpft hatten (...) bleich und teilnahmslos hingen die armen Kerle in ihren Sänften, unter sich das unbeschreiblich verschmutzte Bettzeug (...). Das Furchtbarste aber war der Geruch, der diesen vorübergehenden Sänften entströmte (...) Den kranken Soldaten folgten an die dreihundert in rotes Tuch geschlagene Särge gefallener "Helden", die ebenfalls in ihre Heimat abgeschoben wurden. Diese wurden von vier Kulis getragen, die Särge der höheren Offiziere aber von acht Leuten. Obendrauf sass dann immer noch ein lebender Hahn, und unter laut gesungenem He-Ha versperrten die Träger den schon so schmalen Weg. Immer wieder erschien so ein roter Sarg um eine Felsnase vor uns. (182)

Nach 28 Tagen in Sänften, auf dem Pferd und zu Fuss kann Familie Weiss aber Henchiang dann ihre Reise auf dem Wasser fortsetzen und erreicht schliesslich Shanghai. Der erste Weltkrieg scheint weit weg, auch wenn er der Grund für die Rückreise ist. Der amerikanische Missionsarzt verarztet die Familie freundlich.

Dieser sowie die dort anwesenden anderen amerikanischen Missionare waren von ausnehmender Freundlichkeit gegen uns, ohne jeden Hass auf Deutschland und die Deutschen, es berührte uns in dieser Zeit wirklich angenehm. (183)

Und vom chinesischen Personal nimmt man nur ungern Abschied:

Rührend war es, wie sie alle voller Liebe für unsere Kinder sorgten. Besonders das Baby war der Sonnenschein und Liebling der ganzen Karawanne. Immer fröhlich strahlte sie den ernstesten Chinesen an, fürchtete sie sich doch später in Shanghai vor jedem Europäer. (179)

Sowohl Fritz Weiss wie Hedwig Weiss-Sonnenburg haben weitere Berichte geschrieben. Die Internet-Ausstellung gibt einen sehr guten Überblick über ihre Zeit in China. Eine weitere Auswertung des Nachlasses, wie er von ihrer verstorbenen Enkelin Tamara Wyss begonnen wurde,  könnte trotzdem in verschiedener Hinsicht interessant sein.

1Weiss-Sonnenberg, Hedwig. 1914. In: Nord und Süd – Eine deutsche Monatsschrift. 38. Jg. Bd. 149, H. 477. Juni 1914, 331-344. https://archive.org/details/NordUndSued1914Bd149 (25.7.2016)
2Weiss-Sonnenberg, Hedwig. 1915. Von O Pien Ting nach Ma Pien Ting durchs Lololand. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde, Heft 2, 73-91. http://www.digizeitschriften.de/dms/toc/?PID=PPN391365657_1915 (25.7.2016)
3Weiss-Sonnenberg, Hedwig. 1919. Dreitausend Kilometer quer durch China. Erinnerungen einer Deutschen aus dem Jahre 1917. In: Nord und Süd – Eine deutsche Monatsschrift. 44. Jg. Bd. 171, H. 477. Okt.-Dez. 1919, 173-184. https://archive.org/details/NordUndSued1914Bd149 (25.7.2016)

Chinesische Immigration im 19. Jh. in die USA

Der Besuch im Chinatown-Museum in San Francisco hat mich an einen Besuch in einem Museum in Washington erinnert und er hat mich darauf gebracht, der chinesischen Immigration in die USA und dem Widerstand dagegen im 19. Jahrhundert etwas nachzugehen, d.h. einige Fussnoten dazu zu setzen.

Wenig beachtet sind die – wesentlich auch vom Westen verursachten – „Push-Faktoren“, die zur Immigration geführt haben:

Opiumkriege, Mission und Zusammenbruch der alten Ordnung in China

An der südchinesischen Küste hatte sich seit etwa 1820 ein Konflikt um Opium zusammengebraut. Das Rauschgift wurde in Britisch-Indien produziert und zunehmend statt des früher dafür verwendeten Silbers zur Bezahlung chinesischer Tee-Exporte benutzt. Dem nach Tee durstigen Grossbritannien war es wichtig, seine „Aussenhandelsbilanz“ mit China auszugleichen, das konnte durch die Lieferung von Opium erreicht werden. Die Weigerung der chinesischen Regierung, diese Praxis weiter zu dulden und so seine Bevölkerung der Opiumsucht auszuliefern, wurde unter britischen Diplomaten und Handelsfirmen als willkommener Anlass gesehen, das bis dahin selbstbewusst verschlossene China zur Öffnung seiner Häfen für Ausländer zu zwingen. Dies geschah im britisch-chinesischen Opiumkrieg von 1840-42, dem 1856-60 ein zweiter Krieg folgte.1

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Kriegsszene aus der Taiping-Rebellion. PD Wikimedia

Mit dem Opiumkrieg zusammen hing die Taiping-Rebellion (1850-1864), die eine chinesisch-christliche Sekte im Süden auslöste. Missionare waren seit Jahrhunderten in China tätig, doch sie waren strengen Beschränkungen unterworfen gewesen. Nach dem Opiumkrieg strömten sie in grossen Scharen ins Land. Die Taiping-Rebellen wurden von einem charismatischen chinesischen Mystiker geführt, der behauptete, der jüngere Bruder Jesu zu sein, und einem Gefährten dieses Mannes, der angeblich über telepathische Kräfte verfügte. Sie wollten die Qing stürzen und ein neues «Himmlisches Königreich des Grossen Friedens» errichten. In diesem Reich sollte alles gemäss der bizarren Interpretation importierter missionarischer Schriften durch ihre Führer geregelt werden. Truppen der Taiping-Rebellen gelang es, den Qing-Herrschern die Kontrolle über Nanjing und einen großen Teil von Süd- und Zentralchina zu entreissen und dort eine neue Herrscher-Dynastie zu begründen. Millionen und Abermillionen Menschen fielen ihm zum Opfer. Man schätzt, dass bei der Taiping-Rebellion (und den zusätzlichen Katastrophen des Aufstands der Muslime und der Nian-Erhebung) die Bevölkerungszahl Chinas von 410 Millionen Menschen im Jahr 1850 auf ungefähr 350 Millionen im Jahr 1873 sank.2 Das Elend war gross, Krieg und Hungersnöte zwangen (trotz eines Verbotes durch die chinesische Regierung) viele dazu, in anderen Ländern Arbeit zu suchen.

Goldrausch und Eisenbahnbau

Nachdem viele Chinesen im Goldrausch hart gearbeitet hatten, aber kaum zu Wohlstand gekommen waren, bot sich im Eisenbahnbau für viele ein neues Betätigungfeld. An der Stanford-University läuft ein Projekt, um diese Geschichte nachzuzeichnen. Viele chinesische Arbeiter verloren beim Bau der Transatlantik-Eisenbahn unter härtesten Bedingungen ihr Leben. Eine Ausstellung dazu lief bis April 2016 im Chinatown-Museum in San Francisco.

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Bild Pinterest
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Bild PD, Wikimedia

In der Wirtschaftskrise der 1870-er Jahre wuchs der (wesentlich auch gewerkschaftliche) Widerstand gegen die Konkurrenz der chinesischen Arbeiter erheblich, er führte zu Mob-Einfällen in ihre Siedlungen, dem Niederbrennen ihrer Gewerbe und zu Morden. 1882 wurde dann jede weitere Einwanderung aus China per Bundesgesetz unterbunden.

Die Stimmung dieser Zeit zeigte sich in einer Ausstellung, die anlässlich der 200-Jahr-Feier der USA 1976 von der Smithsonian-Institution organisiert wurde, sehr gut (alle Bilder Ausstellungskatalog). 3

Die antichinesische Stimmung (Chinesen essen Ratten) wurde z.B. in der Werbung für Rattengift aufgenommen, ihr Gewerbe (Wäschereien) musste herhalten um mit dem populären Slogan „The Chinese must go“ für Dampfwaschmaschinen Reklame zu machen:

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Es gab auch Karrikaturen, die die Doppelmoral der Zeit aufnahmen, etwa wenn „Einheimische“, die natürlich alle auch zugewandert sind, einen Chinesen mit dem Argument aufknüpfen, er sei nicht einheimisch…
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… wenn ein wirklich Einheimischer Native American dem Chinesen erklärt, die Weissen hätten wohl Angst, es passiere ihnen das gleiche wie ihm…

chinhatred02oder wenn aus Vorurteilen eine „anti-chinesische Mauer“ gebaut wird.

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Die Stimmung gegen die Zuwanderer (seien diese arme Iren oder Chinesen) überwiegt aber, wobei die „gelbe Gefahr“ als noch gefährlicher eingestuft wird. Am Schluss frisst der Chinese auch den Iren.chinhatred06

40 Jahre liegen zwischen diesen Museumsbesuchen in den USA. Auch wenn sich das Land mit seiner Geschichte befasst: eine ähnliche Stimmung ist heute vielerorts gegen Migrantinnen und Migranten aus Mexiko und Südamerika auszumachen und ähnliche Emotionen gegen Einwanderer werden ja auch in Europa geschürt.

1Osterhammel, Jürgen. 2012. Das 19. Jahrhundert. Informationen zur politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 24.
2Kissinger, Henry. 2011. China. München: Bertelsmann, 78.
3Marzio Peter C. 1976. A Nation of Nations. The People Who Came to America as Seen Through Objects, Prints and Photographs at the Smithsonian Institution. Washington DC: Smithsonian.

Rassismus an der Weltausstellung 1915

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Bild: Chinatown-Museum, San Francisco

1915 fand in San Francisco die Weltausstellung «World’s Fair», die «Panama Pacific International Exposition statt». Mit ihr sollte einerseits die Eröffnung des Panama-Kanals gefeiert, andererseits der Welt gezeigt werden, wie San Francisco nach dem grossen Feuer von 1906 wieder aufgebaut worden war. Die Library of Congress hat einen schönen Werbefilm  «Mabel and Fatty viewing the World’s Fair at San Francisco, Cal.» archiviert, in dem (bei 15:08) auch eine „eiserne Jungfrau“ vorkommt. In der Schweiz ist ein solches Folterinstrument ja auf der Kyburg ausgestellt und sehr bekannt.

Eine Ausstellung im Chinatown-Museum in San Francisco zeigt den alltäglichen Rassismus jener Zeit. Der Fortschrittsglaube und Optimismus des 19. Jahrhundert hatte auch zur Überzeugung geführt, dass die «weisse Rasse» überlegen sei.

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Bilder Chinatown-Museum, San Francisco

SF-Fair_kIm Vergnügungsviertel wurde z.B. «Underground Chinatown» mitsamt einer Opiumhölle mit von chinesischen Drogenhändlern versklavten weissen Frauen gezeigt, Wachsfiguren und Schauspieler sollten bei den Besuchern eine Mischung aus Schauer und erotischer Neugier hervorrufen. Die 1912 ausgerufene Republik China beteiligte sich an der Weltausstellung und hoffte, so Sympathien für den neuen Staat zu gewinnen. Der von ihrer Kommission eingelegte Protest half allerdings nicht, man wollte die beliebte Attraktion nicht verlieren:

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Chinatown-Museum San Francisco

 

Gessners Einhorn in China

Die Universität Zürich berichtet anlässlich des 500. Geburtstages des Züricher Universalgelehrten Conrad Gessner in einer Medienmitteilung auch darüber, dass der Zürcher Stadtarzt und Gelehrte Conrad Gessner als Erster versuchte, die Tiere aller damals bekannten Kontinente zu beschreiben. Gessner gilt deshalb als einer der Begründer der modernen Zoologie.

Bild: Zoologisches Museum der Universität Zürich
Bild: Zoologisches Museum der Universität Zürich

Im zoologischen Museum ist momentan auch ein Einhorn ausgestellt, weil Gessner es in seine Enzyklopädie aufnahm und seine Existenz bestätigte, allerdings anfügte, lediglich ein Horn gesehen zu haben. Erst später wurde bekannt, dass die Einhörner zugeschriebenen Hörner Zähne des Narwals sind.

Der moderne Buchdruck ermöglichte eine schnelle Wissensverbreitung. Die Universität Zürich berichtet, dass das Bild der Giraffe in Gessners «Icones animalium» den Weg bis nach China fand, wo es 1725 in einer Enzyklopädie erschien.

Nicht nur die Giraffe gelangte aber nach China, wie die Ausstellung  «China at the Center: Ricci and Verbiest World maps» im Asian Art Museum in San Francisco zeigt. 50 Jahre früher kam bereits Gessners Einhorn dort an. In San Francisco ausgestellt sind die in China hergestellten Weltkarten von Matteo Ricci und Ferdinand Verbiest. Der flämische Jesuit Ferdinand Verbiest (1623–1688) hatte Mathematik, Philosophie, Astronomie und Theologie studiert und wurde von seinem Orden mit Missionsarbeit in China betraut, wo er 1658 ankam. Die Jahre nach dem Fall der Ming-Dynastie 1644 waren für die Jesuiten schwierige und gefährliche Jahre. Ihre Politik war – wie schon in den Jahren von Matteo Ricci – Vertrauen durch wissenschaftliche Leistungen zu schaffen und so auch den Boden für eine Missionierung zu legen. Verbiest gewann einen öffentlichen Astronomie-Wettbewerb und wurde so als Nachfolger seines Ordensbruders Johann Adam Schall von Bell Direktor des kaiserlichen astronomischen Büros («kaiserliches Kalenderamt»), wo er seine vielseitigen Begabungen in die Dienste des Manchu-Hofes (Quing-Dynastie) mit Kaiser Kangxi stellen konnte. Mit chinesischen Mitarbeitern stellte er eine der grössten mit Holztafeldruck gedruckten Weltkarten her.

Die Karte kann auf der Website der Library of Congress unter ihrem chinesischen Namen «Kun yu quan tu» abgerufen werden. Das Asian Art Museum stellt die Karte interaktiv zur Verfügung.

Auf der Verbiest-Karte von 1674 ist Gessners Einhorn (es soll in Indien leben) deutlich zu sehen:

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