George Packer und die „Abwicklung“

 

Den Auftakt zur Applied History Lectures im Sommersemester 2017 (PDF) unter dem Titel «War’s das? – der Westen und die Demokratie» macht George Packer. Er hat mit «Die Abwicklung» («The Unwinding») schon 2013 «eine innere Geschichte des neuen Amerika» geschrieben, die die Wahl Trumps völlig nachvollziehbar macht.

Packer wird von Klapproth interviewt und das Gespräch dreht sich stark um das Buch Packers. Eine ausführliche Rezension hat z.B. der Deutschlandfunk gebracht.

Die Zeit schrieb:
«George Packers Die Abwicklung gleicht der Vivisektion einer Nation von fast 320 Millionen Menschen mitten in ihrer sozialen, ökonomischen, politischen und normativen Auflösung. Die Roosevelt-Republik mitsamt ihrer staatlichen Daseinsfürsorge, ihren Gewerkschaften und Einhegungen monopolistischer und finanzwirtschaftlicher Machtansprüche löst sich seit mehr als zwei Jahrzehnten auf. Packer: „Die Lücke schloss eine Macht, die in Amerika immer zur Stelle ist: das organisierte Geld.“» Sie zitiert damit aus dem Prolog Packers:

"Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann die Abwicklung begann - wann die Bürger Amerikas zum ersten Mal spürten, das die Bande sich lösten, die sie sicher, manchmal erdrückend fest wie eine eng gewickelte Spule, zusammengehalten hatten [...] Wer um 1960 oder später geboren wurde, hat sein gesamtes Erwachsenenleben im Taumel dieser Abwicklung verbracht. Er mußte mit ansehen, wie Bauwerke und Institutionen, die bereits vor seiner Geburt bestanden hatten [...] in der gewaltigen Landschaft wie Salzsäulen zerfielen. Auch andere Aspekte, weniger deutlich sichtbar vielleicht, aber mindestens ebenso unerlässlich für ein geordnetes Alltagsleben, zerbröckelten bis zur Unkenntlichkeit - der Umgang in den Hinterzimmern von Washington, die Tabus in den New Yorker Handelsbüros, Manieren und Moral [...] Die Lücke schloss eine Macht, die in Amerika immer zu Stelle ist: das organisierte Geld."

George Packer hat sein Sachbuch aufgebaut wie die USA-Trilogie aus den 1930er-Jahren von John Dos Passos (New York Times), d.h. lange Sequenzen, in denen die Biographien von unbekannten Amerikanerinnen und Amerikanern nachgezeichnet werden; kürzere Einsprengsel mit Episoden aus dem Leben prominenter Amerikanerinnen und Amerikaner – von Colin Powell bis zu Jay-Z – und «Newsreels» Schlagzeilen, Fragmente von Mails, Werbespots usw. Die Entwicklungen der letzten 40 Jahre werden so anhand der Personen, die wir im Buch verfolgen und mit deren Augen wir das Geschehen sehen, deutlich dargestellt – die Erzählstränge werden nicht durch weitergehende Systematisierungen unterbrochen, auch wenn Packer (wie an der «Applied History Lecture» deutlich wird) sie durchaus leisten könnte.

Die «Abwicklung» des seit Roosevelt geltenden Gesellschaftsvertrags mit seinen Regeln, Konventionen und Institutionen, der die Etablierung der grossen amerikanischen Mittelklasse ermöglichte, kann auf verschiedenen Ebenen ausgemacht werden. Ich wähle einige aus. Die Zitate sind Ausschnitte aus Packers Buch, sie sind hier aus dem Zusammenhang der verschiedenen Erzählstrange herausgerissen, ich habe sie als einzelne Puzzleteile den verschiedenen Ebenen hinzugefügt, ohne mit Bestimmtheit zu wissen, ob Packer seine eigene oder die Meinung eines seines Protagonisten wiedergibt. Denn, wie der Rezensionist der New York Times schreibt:

"I use the word "seems a lot because Packer rarely comes out and says what he thinks. Thea i a book of nearly pure narrative, and his meanings are embedded inthe way he portrays people (...).
Politik

Das Vertrauen in die Politik begann schon mit Watergate massiv abzunehmen, wenn Packer auch konstatiert: «doch selbst der schlimmste politische Skandal der amerikanischen Geschichte bewies noch die institutionelle Stärke der Demokratie: Der Kongress, die Gerichte, die Presse, der Wille des Volkes genügte, um das Krebsgeschwür herauszuschneiden.» (Pos. 2978) 1

Mit der Öl- und der darauffolgenden Wirtschaftskrise und dem für viele wenig inspirierenden Jimmy Carter begann aber in den späten 1970er-Jahren die «Abwicklung»:

«1978 hatte die Stimmung im Land ihren Tiefpunkt erreicht: Städte wurden durch Vandalismus verwüstet, Stagnation und Inflation vernichteten die Kaufkraft, im Weißen Haus saß ein humorloser Moralist, der Opferbereitschaft predigte. Das Misstrauen gegenüber Behörden und Verbänden stieg, die Bevölkerung war frustriert und ließ sich – von Populisten und Konservativen – gegen Staat und Steuern aufwiegeln.» (Pos 354). 1979 folgte dann die Malaise-Rede von Carter, in der er eine «Krise des Vertrauens» im Land diagnostizerte und warnte «dass viele von uns jedes Maß verloren haben und nur noch dem Konsum frönen» (Pos 484).

Carters „Crisis of Confidence“ Speech (July 15, 1979) Youtube.

Die Reagan-Jahre brachten zwar einen Präsidenten, der wieder Optimismus verbreitete, die Staatsverschuldung wuchs aber wegen der Steuersenkungen ständig an, Infrastruktur wurde vernachlässigt, man setzte ja auf Privatisierungen, die Umverteilung des Wohlstandes zu ungunsten der unteren Einkommenssegmente wurde stärker. Gleichzeitig kamen Leute wie Newt Gingrich politisch zu Einfluss, die aus der Unzufriedenheit Kapital schlagen konnten: «Spender, wusste Gingrich, motivierte man, indem man ihnen Angst machte, ihre Wut schürte und jedes Thema als eine Wahl zwischen Gut und Böse darstellte (…)

Time Magazine, Cover vom 9. Januar 1995: New Gingrich

Ende der Achtziger gelang es Gingrich, die eigene Partei und die gesamte politische Kultur in Washington radikal zu verändern. Radikaler vielleicht als Reagan – und jeder andere Politiker nach ihm.» (Pos 411). Überparteiliche Verständigung war kaum mehr möglich, Kompromisse wurden verunmöglicht, Lösungssuchen gingen in Filibustern unter. Letztlich ging es jetzt darum zu verhindern, dass die Gegenseite irgendeinen Erfolg vorweisen konnte.

Die Clinton-Jahre schädigten mit der Lewinsky-Affäre das Ansehen der Präsidentschaft weiter, Packer schildert auch den übergrossen Einfluss der Lobbyisten: Zwischen 1998 und 2004 wechselten 42 Prozent der nicht wiedergewählten Kongressabgeordneten sowie die Hälfte der Senatoren in die Lobbyarbeit.» (Pos. 3048). Wahlkämpfe waren nur mit sehr hohen Geldmitteln zu gewinnen, die spendenden Firmen wollten und bekamen dafür auch einen «Return of Investment», was bald als ganz normal angesehen wurde:  «Das alte Washington –die Presse, die bessere Gesellschaft, die Hüter von Tradition und Moral –tat entsetzt. Doch das neue Washington verstand, dass die Begnadigung von Marc Rich einfach nur ein gut eingefädeltes Geschäft gewesen war.» (Pos. 3090)

Glass Steagall: Das Bankengesetz von 1933 wurde 1999 ausser Kraft gesetzt. Bild: http://adeemm.com/newdeal/

Die Deregulierung unter Clinton führte dazu, dass die Finanzinstitute weitgehend freie Hand für Spekulationen, Derivathandel usw. bekamen. 1999 wurde das Glass-Steagall ausser Kraft gesetzt, das den Banken die Trennung zwischen dem Investitionsgeschäft und den Konten privater Sparer vorgeschrieben hatte. Es war 1933 vom Kongress verabschiedet worden und wurde 1999 von Demokraten und Republikanern gemeinsam ausser Kraft gesetzt und von Clinton unterzeichnet (Pos. 5396).

Einer der Protogonisten von Packers Buch, Jeff Connaughton formulierte in einem eigenen Buch eine „Universaltheorie“ zur Bedeutung des Geldes in Amerika seit den Achtzigerjahren: «Als an der Wall Street und in Washington auf einmal unglaublich viel verdient wurde, als es plötzlich möglich war, riesige Summen in die eigene Tasche zu wirtschaften –ich selbst bin ein lebendiges Beispiel dafür, kein Mensch weiß, wer ich bin, aber ich hatte Millionen, als ich Washington verließ –, als bestimmte Praktiken kaum noch ernsthafte Konsequenzen hatten, als Verhaltensnormen wegbrachen, die zumindest die schlimmsten Exzesse der Geldmacherei verhindert hatten, kippte plötzlich die gesamte Kultur. Und zwar gleichzeitig an der Wall Street und in Washington.» (Pos. 3161)

Als die zweite Bush-Regierung Colin Powell vorschickte, um 2003 den Irak-Krieg vor der UNO mit einer Lüge zu rechtfertigen, wurde die die Institution Regierung ein weiteres Mal schwer beschädigt. (Pos. 3034)

Packer hatte an der Veranstaltung (und er hat in seinem Buch) auch wenig Verständnis für Obama, der sich in Wirtschaftsfragen mit Wall-Street-Männern umgab und in dessen Amtszeit keine für die Finanzkrise Verantwortlichen belangt wurden. «Wieder einmal zeigte sich, dass das Establishment (…) die Katastrophe ungeschoren überstehen würde. Das Establishment konnte Fehler um Fehler machen, es kam trotzdem immer durch, und am Ende profitierte es noch von den eigenen Fehlern. Es war wie im Kasino, die Bank gewann am Ende immer.» (Pos. 5410)

«Andererseits verschwendete der Präsident sein erstes Jahr darauf, der Gegenseite, die ihm keinen Zentimeter entgegenkam, Kompromisse anzubieten, und er tat alles, um den Bankern, die in der Finanzkrise so eine schlechte Figur gemacht hatten, die Konsequenzen zu ersparen. Der Präsident sprach immer von einer „neuen Ära der Verantwortung“, wenn es aber um diese Typen ging, schien das nicht zu gelten.» (Pos. 6187)

Wirtschaft
Rust Belt. Foto: Bob Jagendorf, Flickr

Mitte der 1975er-Jahre setzte die De-Industrialisierung ein, die amerikanische Industrie verlor im Zuge der Globalisierung in weiten Teilen ihre Konkurrenzfähigkeit. Stahlwerke begannen zu schliessen, die Autoindustrie geriet in eine Krise, «Was in Youngstown passiert war, nahm nun auch in Cleveland, in Toledo, Akron, Buffalo, Syracuse, Pittsburgh, Bethlehem, Detroit, Flint, Milwaukee, Chicago, Gary, St. Louis und in anderen Städten eines Gebiets seinen Lauf, das ab 1983 unter einem neuen Namen bekannt wurde: Rust Belt.» (Pos 986).

Auch der Tabakanbau ging rasant zurück, ab «1983 waren die Verkäufe rückläufig. In dieser Zeit begann die Regierung, verstärkt Druck auf die Zigarettenindustrie auszuüben. Außenwerbung wurde verboten, die Steuern wurden verdoppelt. Anti-Raucher-Kampagnen zeigten in der Öffentlichkeit enorme Wirkung.»

Die Macht der Gewerkschaften nahm ab, die Betriebe gliederten ganze Abteilungen aus, um dank jetzt viel niedrigerer Löhne billiger produzieren zu können, die Arbeitslosigkeit stieg an. «Sie wollten die festen Beschäftigten loswerden, also haben sie sie ausgegliedert, sie haben sie in eine andere Firma überführt, da mussten sie sich nicht mehr um sie kümmern. Sie gehörten ja nicht mehr zu GM» (Pos. 2851).

Lösungen wurden kaum gesehen:  «Die Experten in Washington und New York hielten den Abstieg für unvermeidlich: technische Neuerungen, Globalisierung. Die Phase der Einsparungen und Kündigungen dauerte mehrere Jahre, der eigentliche Zusammenbruch vollzog sich dagegen in einer Geschwindigkeit, die atemberaubend war. Die Fabriken, die über ein gutes Jahrhundert als institutionelle Säulen der Gesellschaft gedient hatten, verschwanden eine nach der anderen:» (Pos. 1531).

T-Shirt, 2009. Bild: Neatorama

Der Finanzwelt ging es aber gut, die Boni wurden völlig unverhältnismässig, es «war lächerlich, dass ein Hedgefondsmanager wie John Paulson, der nichts tat, als Papiere hin-und herzuschieben, in einem einzigen Jahr 3,8 Milliarden verdiente» (Pos. 6944) und an der Westküste, im Silicon Valley entstanden neue Hightechzhentren:  «Ab Mitte der Siebzigerjahre bis Anfang der Neunziger waren durch die Entwicklung des PCs im Valley und in verschiedenen anderen Hightechzentren unzählige kleine Computer-und Softwarefirmen entstanden. San Jose verdoppelte in zwei Jahrzehnten seine Einwohnerzahl und stand kurz davor, eine Millionenstadt zu werden. 1994 gab es im Valley 315 Aktiengesellschaften. Aber keine der Neugründungen war auch nur annähernd so wichtig wie Hewlett-Packard, Intel und Apple. Seit der Einführung des Macintosh-Computers hatte sich die Industrie fortwährend» (Pos. 2460). Allerdings wurden durch diese neuen Branchen nur sehr wenig Arbeitsplätze geschaffen: «Die Eliten Amerikas haben keine Lösungen für die Probleme der Arbeiter und der Mittelschicht. Die Eliten glaubten, dass jeder zum Programmierer oder Finanzfachmann umgeschult werden sollte, dass zwischen einem Stundenlohn von acht Dollar und einem sechsstelligen Jahreseinkommen keine Möglichkeiten waren.» (Pos. 4675)

«Dann gewann Obama die Wahl, und es änderte sich nichts. Nur die Banken machten wieder Geschäfte, die Konzerne und die Reichen verdienten mehr denn je, und der Rest des Landes musste dafür bluten.» (Pos. 7029)

 Finanzsektor

Packer schildert am Beispiel Florida eindrücklich, die Auswirkungen des Hypothekenmarktes im «Subprime-Sektor», der zu einer weltweiten grossen Finanzkrise führte, hatte.

«Ron und Jennifer nahmen einen Kredit von 110000 Dollar auf und bauten ein Haus mit drei Schlafzimmern. Nach einiger Zeit refinanzierten sie die Hypothek, um die laufenden Rechnungen zu bezahlen, dann beliehen sie das Haus, um ein neues Dach zu bezahlen, dann refinanzierten sie noch einmal, um ihre Autos abzuzahlen, eine Terrasse zu bauen, ein Boot zu kaufen. Was übrig blieb, verschleuderten sie auf Kreuzfahrten und –mit den Kindern –in Disney World.» (Pos. 3624).

Bild CC Wikimedia Commons

«Aus dem ganzen Land kamen Spekulanten, die Häuser kauften, um sie möglichst schnell wieder abzustoßen. Fünfzigtausend Dollar in sechs Monaten galt als realistischer Profit, es gab Sekretärinnen mit einem Jahresgehalt von fünfunddreißigtausend Dollar, die fünf oder zehn Häuser besaßen und mit Millionenkrediten jonglierten, und Autohändler, die ihr erstes richtiges Geld verdienten, als sich die Immobilienpreise innerhalb von zwei Jahren verdoppelten. 2005, auf dem Höhepunkt des Wahnsinns, wechselte am 29. Dezember in Fort Myers ein Haus für 399’600 Dollar den Besitzer, das einen Tag später, am 30. Dezember, für 589’900 Dollar weiterverkauft wurde. Es waren die Spekulanten, sogenannte »Flippers«, die die Preise in die Höhe trieben.» (Pos. 3654).

Ein hektisches Weiterverkaufen setzte ein, als sich abzeichnete, dass die Immobilienblase wohl platzen musste: «Die Hypotheken derart oft aufgeteilt, verbrieft und neu verpackt, die Banken hatten so viel Pfuscherei betrieben, um ihr Geld zu retten, dass keine Institution mehr nachweisen konnte, wem ein Haus eigentlich gehörte». (Pos. 5178)

Gian Trepp hat in jenen Jahren in der Wochenzeitung WoZ die Hintergründe der Finanzkrise gut beschrieben («Das Schlaraffenland ist gründlich abgebrannt», 7.8.2008,  «Die Droge Derivat», 27.11.2008).

Sehr viele Mittelstandsfamilien verloren ihre Häuser, als sie ihre Hypotheken nicht mehr bedienen konnten und landeten mittellos auf der Strasse, während die meisten Banken vom Staat gerettet wurde. Das Gefühl, dass der Staat sicher nicht mehr für die kleinen schaue, dass sich harte Arbeit nicht lohne, Machtlosigkeit und Resignation verbreiteten sich: «Recht bekamen in diesem Land nur die Reichen, zu denen sie nicht gehörte. Wenn sie pleiteging, profitierten Banken und Anwälte. Banken verdienten ihr Geld damit, die kleinen Leute herumzuschubsen. Erst versuchten sie es mit Einschüchterung, und wenn sie Gegenwehr spürten, zettelten sie einen Papierkrieg an.»  (Pos. 5345)

Infrastruktur

Anhand der vielen Eigenheime, die seit den 1950er-Jahren in gesichtslosen Siedlungen entstanden, zeigt Packer auch auf, wie der Ölhunger wuchs, weil für die kleinsten Verrichtungen ein Auto nötig war und wie zuerst die Städte degradiert wurden «1950 baute Edward DeBartolo eine der ersten offenen Einkaufszentren in Boardman, wuchernde Malls begannen schon bald, den Geschäften der Innenstädte die Grundlage zu entziehen. Weiße Arbeiter zogen in die Vorstädte und fanden Anstellungen in leichteren Industrien. Schwarze Arbeiter, die überwiegend in den Städten blieben, übernahmen ihre besser bezahlten Stellen» (Pos. 832)

Wal-Mart. Bild CC Wikimedia Commons

Diese Entwicklung wurde mit dem Aufstieg der Kette «Wal-Mart», in der alles zu billigen Preisen zu haben war, beschleunigt:  «In den Siebzigern verdoppelte die Firma alle zwei Jahre ihren Umsatz. 1973 gab es schon fünfundfünfzig Märkte in fünf Staaten. 1976 waren es 125 Märkte, der Umsatz betrug dreihundertvierzig Millionen Dollar. Wal-Mart breitete sich immer weiter aus, in einem Kreis, dessen Mitte Bentonville war. Die Firma schluckte ein vergessenes Städtchen nach dem anderen und verwüstete die traditionellen Geschäftsstraßen, bis die Region so von Wal-Mart dominiert war, dass kein anderes Geschäft mehr gedeihen konnte, kein Eisenwarenhändler und keine Apotheke.» (Pos. 1958) Nach dem Tod des Firmengründers Walton realisierte man: «Das ganze Land war eine Art Wal-Mart geworden. Es war billig. Die Preise waren niedrig, und die Löhne waren niedrig. Die Industrie beschäftigte nur noch wenige Arbeiter, die selten gewerkschaftlich organisiert waren. Teilzeitarbeit –etwa als Grusspersonal – nahm dagegen zu. Die Kleinstädte, in denen Sam Walton seine Chance gesehen und genutzt hatte, verarmten zusehends, weshalb die Kunden immer mehr auf die jeden Tag günstigen Preise von Wal-Mart angewiesen waren. Viele Menschen kauften ausnahmslos alles bei Wal-Mart, und nicht wenige mussten auch dort arbeiten. Das Heartland, Amerikas traditionelles Kernland, wurde immer weiter ausgehöhlt, was die Umsätze der Firma weiter steigerte. Und in den Teilen des Landes, die reicher geworden waren – vor allem an den Küsten und in einigen Großstädten – waren die Menschen über die gigantischen Gänge voller mieser, möglicherweise giftiger chinesischer Billigware ausgesprochen entsetzt. Sie bevorzugten es, ihre Schuhe und ihr Fleisch in kleinen, teuren Geschäften zu kaufen, als könnten die überteuerten Produkte sie gegen das Virus des Geizes impfen.» (Pos. 2012).

Die Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft waren natürlich gross: «die Leute, die früher den Eisenwarenladen hatten, das Schuhgeschäft, das kleine Restaurant, das es hier mal gegeben hat – diese Leute haben den Ort zusammengehalten. Sie haben sich um alles gekümmert. Sie haben das Baseball-Training der Kinder organisiert, sie haben im Stadtrat gesessen, sie wurden respektiert. Das gibt es jetzt alles nicht mehr.« Im Rest des Landes, hieß es, boomte die Wirtschaft – die Wall Street und Silicon Valley hatten mehr Geld als je zuvor (…)» (Pos. 2741)

In vielen Bundesstaaten führte das «Senken der Staatsquote» zu einer drastischen Verschlechterung des öffentlichen Bildungssystems, wie Packer am Beispiel Kaliforniens aufzeigt:

Public Schools. Bild: UJS Dep of Education, Flickr

1977: «Nahezu alle Kinder der Region, selbst aus den wohlhabendsten Familien, besuchten die öffentlichen Schulen, die sehr gut waren – nirgends im Land waren die Schulen so gut wie in Kalifornien. Die begabtesten Schüler gingen zum Studium nach Berkeley, nach Davis oder an die UCLA (einige wenige schafften den Sprung nach Stanford oder an die Ivy League), die weniger begabten schrieben sich an den staatlichen Colleges in San Francisco oder Chico ein. Selbst Junkies und Kiffer bekamen noch eine Chance: Colleges wie Foothill oder De Anza boten zweijährige Berufsausbildungen an, die jedem offenstanden. All das änderte sich, als ein Jahr später die kalifornische Steuerrevolte begann: Proposition 13, ein Volksbegehren, beschränkte die Grundsteuer auf ein Prozent des Einheitswerts, Schulen und staatliche Universitäten begannen einen Abstieg, der bis zum heutigen Tag anhält.» (Pos. 2301)

Mehr und mehr Familien entschieden sich für Privatschulen, und es entstand etwas, das es in der amerikanischen Geschichte noch nicht gegeben hatte: die privatisierte öffentliche Bildung. Schulen in wohlhabenden Gegenden wie dem Silicon Valley kämpften sich an die Spitze, indem sie unter der Elternschaft massiv zu Spenden aufriefen. Die öffentliche Grundschule in Woodside (vierhundertsiebzig Schüler) wurde von einer Stiftung unterstützt, die 1983, fünf Jahre vor Proposition 13, gegründet worden war, um die bedrohte Stelle eines einzigen Sonderlehrers zu retten –  (…) Einige Meilen weiter, in der Stadt East Palo Alto, gab es keine Stiftungen, und den Schulen fehlte das Geld für Bücher und die nötigste Ausstattung. So wurde das kalifornische Schulsystem langsam und schmerzhaft abgewickelt, es fiel erstaunlich tief» (Pos. 7672f)

Medien

Auch die Medien veränderten sich völlig. «Zehn Sekunden im Fernsehen genügten, um einen Politiker für immer zu definieren, um ihn zu krönen oder zu zerstören.» (Pos. 1277), Packer beschreibt das z.B. an der Debatte zwischen Jimmy Carter und Ronald Reagan: «1980 legte Ronald Reagan den Kopf zur Seite, kicherte und sagte: »Da, Sie tun es schon wieder.« Womit Jimmy Carters Präsidentschaft auf eine Amtszeit zusammenschrumpfte. Vielen, die damals zugeschaut haben, war klar, dass dieses «And here you go again» das Ende von Carters Präsidentschaft bedeutete. In den Jahrzehnten danach verloren die drei grossen Ketten CBS, NBC und ABC gegenüber der Konkurrenz auf den Kabelkanälen wie CNN und Fox News deutlich an Reichweite.

Fox News wurde zum Sprachrohr der Konservativen, dem Sender gelang es, ihre Ansichten als die gottgefälligen darzustellen und so ein grosses Publikum zu beeinflussen. «Als Dean aufwuchs, sah die Familie die Nachrichten mit Walter Cronkite, seine Mutter hatte damals kaum eine dezidierte politische Meinung gehabt. Doch nun wurde sie immer konservativer. Ihre politischen Ansichten beruhten auf den «Prinzipien der Bibel», sie war gegen Abtreibung und Homosexualität, und seit Fox und die Republikaner jedes ihrer politischen Themen an Religion gekoppelt hatten, war es unmöglich geworden, sie von ihren Positionen abzubringen.» (Pos. 3319)

Daneben gelangen ultrarechte Talkshow-Moderatoren wie Glenn Beck (und auch linke Blogger) zu Einfluss, die auf der weitverbreiteten Aversion gegen «Washington» aufbauen konnten. Beck rief einer riesigen Menschenmenge zu «dass wahre Veränderung nicht von Washington ausgehe, sondern von echten Menschen, die im ganzen Land an echten Orten lebten (…) aber auch die progressive Arianna Huffington schrieb zwei Tage später in ihrer Kolumne etwas Ähnliches» (Pos. 5677)

Dem unterdessen verstorbene und durch Trumps Berater Bannon  bekannt gewordene Andrew Breitbart hat in Packers Buch ebenfalls ein eigenes Kapitel gewidmet. Packer zeigt auf, wie Breitbart das Internet zu nutzen vermochte «In Breitbarts Hirn vollzog sich die Verschmelzung des Internets mit der konservativen Bewegung.» (Pos. 5794) Dies passierte gleichzeitig mit dem Umbau der alten Medien, die rentieren mussten und so mehr und mehr auf Infotainment setzten, denn  «der Meinungsjournalismus war billiger als echte Berichterstattung und hielt die Zuschauer bei der Stange.» Geschichten wurden erfunden, die neuen Kanäle wie Breitbart-News begannen die alteingesessenen Sender zu verhöhnen, «bis niemand mehr wusste, wer eigentlich recht hatte und wo die Wahrheit lag, bis das Vertrauen in die Presse verspielt und das Selbstverständnis eines ganzen Berufs zerstört war (…) Das Wunderbare an den neuen Medien war, dass es jeder machen konnte» Breitbart verkündete  an Dinnerpartys der alten Medien «Ihr versteht’s einfach nicht. Die Bürger entscheiden jetzt selbst, wer ihre Geschichte erzählt. Und sie geben die Kontrolle nicht mehr her, weil sie wissen, dass ihr alles kaputt machen würdet.» (Pos. 5822)

Nicht genehme Organisationen und Minister wurden mit irreführend zusammengeschnipselten Videos fertig gemacht. «Die Regeln der alten Medien, ihr Beharren auf Wahrheit und Objektivität, galten nicht mehr. Was zählte, war der größtmögliche Effekt, es ging darum, die Geschichte selbst an sich zu reißen.» (Pos. 5851)

Der Deutschlandfunk schliesst seine Rezension folgendermassen: «Und auch wenn über der polyphonen Struktur und dem Detailreichtum zuweilen das große Ganze etwas aus dem Blick gerät, macht das Buch Entscheidendes deutlich: ein eklatanter Einkommensunterschied ist eine der größten moralisch-gesellschaftlichen Gefahren unserer Zeit und beruht auf einem Mangel an staatlicher Einflussnahme. Denn sind soziale Netzwerke einmal weggefallen, lassen sie sich nicht wiederherstellen. So wird Packers Buch auch als Warnung lesbar, (…). Es erinnert daran, dass Gesundheit und eine gute Lebensqualität jedes Einzelnen die Voraussetzung für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft sind. »

Der Spiegel schreibt: «“Die Abwicklung“ ist auch eine Generationengeschichte. George Packer ist 53 Jahre alt; als er auf die Welt kam, galt jener Gesellschaftsvertrag noch, mit dem US-Präsident Franklin D. Roosevelt in den Dreißigerjahren die USA befriedet und die Depression beendet hatte. Es war die Idee, dass ein Staat die Aufgabe hat, sich um die Schwachen zu kümmern. Dass der amerikanische Traum des individuellen Aufstiegs kein Selbstläufer ist, sondern dass der Staat den Kapitalismus kontrollieren muss. Die Abwicklung dieser Idee ist die Geschichte von Packers Leben.

Und die deprimierende Einsicht hinter „Die Abwicklung“: Vielleicht ist die Zeit der Mittelschichtsgesellschaft einfach abgelaufen, beiseitegedrängt von einem neuen Gilded Age, wie die Amerikaner ihre Gründerzeit nennen – Ende des 19. Jahrhunderts beherrschten noch die Eisenbahnmagnaten und Stahlbarone das Land. Nun sind es Finanzkapitalisten und Internetkreative, die die Macht übernommen haben und die letzten Überreste des alten Industriekapitalismus abräumen.»

 

Mir ist auch die Präambel der schweizerischen Bundesverfassung in den Sinn gekommen, in der auch steht: «gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,»

Im Gespräche mit Stephan Klapproth meint Packer, dass er trotz all dieser Recherchen nicht damit gerechnet habe, dass Trump die Wahl gewinne. Überrascht ist er aber nicht – Trump weiss, was diejenigen, die nicht zum Establishment gehören, hören wollen. Er selbst wurde auch nie wirklich darin aufgenommen, er hat seinen Queens-Akzent behalten, fühlte sich vom Establishment belächelt und hat – wie der untere Mittelstand auch – einen Hass gegen «die Elite» entwickelt.

Er sieht aber auch Lichtblicke: es gibt viele «Grass-Roots-Bewegungen», die Leute sind aufgewacht, gingen zu den Flughäfen, als Trump den «Muslim-Ban» erliess, die Qualitätspresse berichtet wieder wie in besseren Zeiten, anstatt Infotainment zu machen. Die Institutionen allerdings «are not the same as 1972/1974, they are much more partisan». Das Land wird gespalten bleiben, die Ungleichheit wird weiterhin wachsen.

1 Alle Positionsangaben aus dem E-Book der deutschen Ausgabe:
Packer, George. 2014. Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika. Aus dem Amerikanischen von Gregor Hens. Frankfurt/M.: Fischer:

Churchill und Europa

Die Applied History Lectures stehen im Sommersemester 2017 (PDF) unter dem Titel «War’s das? – der Westen und die Demokratie».

Felix Klos (Linkedin), Jahrgang 1992, Organizer in den 2016 gescheiterten Kampagnen für Bernie Sanders und dann für «Hillary for America» plaudert mit Stephan Klapproth über seine Erlebnisse während der Kampagne, in einem Trailerpark in Iowa etwa, in dem es zu hysterischen Anfälle gekommen sei, als er mit seinem Hillary-Button an Türen geklopft habe. Das Gespräch dreht sich um das «Age of Anger», in vielen Ländern (sie sprechen über Holland, die USA und Grossbritannien) ist ein «Backlash» gegen die Globalisierung und die EU in vollem Gange.

Die Veranstaltung findet genau ein Stockwerk unter der Aula der Universität Zürich statt, wo 1946 Churchill seine berühmte Rede «Let Europe Arise» gehalten hat. Klos hat noch vor dem Referendum über den Brexit ein Buch «Churchill on Europe» geschrieben1. Er widerspricht dezidiert den Behauptungen, Churchill habe Grossbritannien nicht in einer Europäischen Union gewünscht und belegt das mit vielen Quellen. Mit Denkern wie Graf Coudenhove-Kalergi und Politikern aus verschiedensten politischen Lagern in Grossbritannien, vielen kontinentaleuropäischen Ländern und den USA begann Churchill, Institutionen und den politischen Willen aufzubauen, die schliesslich zur Europäischen Union führen würden. Klos schreibt über sein Buch:

«(It) relies on never-before-published material to tell the true story of Churchill’s driving role in the postwar making of a united Europe. I believe it shows, and this is key to Britain’s identity, that after the war Churchill evisaged Britain leading an ever-closer union of European states. Not following, not on the edges, but leading. (Pos. 60).

Zeitungsartikel, die anlässlich des Jubiläums der Churchill-Rede in Zürich und im Zusammenhang mit dem Brexit-Referendum erschienen sind, sehen das etwas anders (vgl. Tages-Anzeiger, 15.9.2016 und 27.5.2016), am Kolloquium zum 70-Jahr-Jubiläum an der Uni Zürich wurde die Frage kontrovers diskutiert (Switch-Cast, 2 Stunden, Blog von Richard Langworth).

Es lohnen sich also ein Blick auf die Zürcher Rede und die von Klos benützten zusätzlichen Quellen.

CVCE an der Uni Luxemburg, «die digitale Forschungsinfrastruktur zur europäischen Integration» hat die verschiedenen Ressourcen zur Zürcher Rede, den Text und ein Tondokument zusammengestellt.

Das CVCE fasst die Rede folgendermassen zusammen:

«Indem er die deutsch-französische Aussöhnung fordert und „eine Art Vereinigte Staaten von Europa“ ohne die Beteiligung Großbritanniens vorschlägt, zeichnet Churchill das Bild von einer künftigen, nicht kommunistischen Föderation Westeuropas. Damit spricht er sich für einen europäischen dritten Weg zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion aus. Gleichzeitig befürwortet er die Gründung des Europarates.»

Die «akademische Jugend», zu der Churchill in Zürich sprach, befand sich eher nicht in der Aula, wie Boscovits hier im Nebelspalter illustriert2,sie hörte aber via Lautsprecher vor der Universität zu.

Bild: Julius Aichinger / Universitätsarchiv Zürich via NZZ

Die letzten Sätze der Rede Churchills in Zürich lauten

«In this urgent work France and Germany must take the lead together. Great Britain, the British Commonwealth of Nations, mighty America — and, I trust, Soviet Russia, for then indeed all would be well — must be the friends and sponsors of the new Europe and must champion its right to live. Therefore I say to you “Let Europe arise!”»

Klos These, Churchill habe die Mitgliedschaft, ja sogar den «Lead» Grossbritanniens in einem vereingten Europa gewollt, stützt sich stark auf die Diplomatischen Dokumente der Schweiz3. Die Rede in Zürich bildete den Abschluss von dreiwöchigen «Ferien» Churchills in der Schweiz (Werner Vogt erläutert den ganzen Hintergrund in der NZZ vom 10.9.2016, hervorragend illustriert). In dieser Zeit wurde Churchill von zwei vom Bundesrat beauftragten Emissären, Protokollchef Jacques Albert Cuttat und Sicherheitschef Oberstleutnant Hans Wilhelm Bracher begleitet. Mit beiden hatte Churchill ein gutes Einvernehmen und beide berichteten Bundesrat Petitpierre, dem Vorsteher des Eidgenössischen Politischen Departements über den Aufenthalt Churchills. Ihre Berichte sind heute bei DODIS einsehbar.

Bracher und Cuttat hatten in der Nacht vor der Rede Gelegenheit, die damals schon fertig gestellten Teile von Churchills Rede zu hören.

http://db.dodis.ch/document/2184

Cuttat fragt ihn bei dieser Gelegenheit explizit nach der Rolle, die Grossbritannien in diesem Europa spielen würde.

http://db.dodis.ch/document/1659

Klos stützt seine These im weiteren Verlauf des Buches mit den Aktivitäten Churchills, die Churchill danach vor allem auch in Grossbritannien entfaltete, um der europäischen Idee zum Durchbruch zu verhelfen.

Die Kritik am Buch von Klos, wie sie z.B. Andrew Roberts vom Churchill Project am Hillsdale College äussert, geht dahin, dass Klos die zweite Amtszeit Churchills als Premierminister(1951 – 1955) – in der er viel weniger europafreundlich handelte – praktisch ignoriert, dass Klos Churchills Ansichten in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre zwar sehr genau recherchiert hat, aber daraus unzulässige Schlüsse zieht.

Für mich war die Lektüre inspirierend, sie hat mir auch gezeigt, welcher Fundus mit den digital aufbereiteten Diplomatischen Dokumenten der Schweiz zur Verfügung steht und wie wertvoll sie zur Kontextualisierung von anderen Dokumenten, wie hier Churchills Zürcher Rede, sein können.

 

1 Klos, Felix. 2016. Churchill on Europe. The Untold Story of Churchill’s European Project. London: Tauris. E-Book.

2 Nebelspalter (Zs.) 72. Jg. (1946), Heft 42, S.4

3 Dodis.ch. Diplomatische Dokumente der Schweiz http://dodis.ch/de

Fristerstreckung für die Vergangenheit (Ludwig Hasler)

Reden über die Schweiz – ein Kleinstaat und die grosse Welt
Applied History Lectures Sommersemester 2016

«Die Schweiz hat eine weltweit fast einzigartig «gute» Geschichte: Niemals war sie aggressiver Machtstaat, stets eher Mittlerin und während grosser Kriege neutral; meist weltoffen, bot sie vielen Verfolgten Asyl. Ihre innere kulturelle Vielfalt schulte in Pragmatismus und Kompromiss. Ihre Sozialsysteme suchen weithin ihresgleichen, ihr öffentlicher Nahverkehr funktioniert pünktlich. In der jüngeren Vergangenheit haben sich die Rahmenbedingungen des langwährenden eidgenössischen Glücks verändert. Swissair-Grounding und Erosion des Bankgeheimnisses sind nur zwei Stichworte. Kritiker beobachten Ausländerfeindlichkeit, einen neuen Nationalismus, deren Ausdruck Minarett-Verbot und Einwanderungsinitiative sind. Unverkennbar ist wachsende Distanz zu Grossorganisationen wie der Europäischen Union. Unsere Gesprächsreihe versucht, den Stand der Dinge zu reflektieren.» So die Ankündigung der «Applied History Lectures» der Universität Zürich im Sommersemester 2016.

Prominente Gäste aus Kultur, Politik und Wissenschaft diskutieren mit dem Politikwissenschaftler und Journalisten Stephan Klapproth.

Hasler
Bild CC mediXTv

Am ersten Themenabend unterhält sich Stephan Klapproth mit Ludwig Hasler (*1945), der Physik und Philosophie studierte und sowohl akademisch wie journalistisch (Chefredaktor St. Galler Tagblatt und der alten Weltwoche) tätig war.

Klapproth macht eine fulminante Einführung zum Zyklus, zitiert Heirich Heine: «Die Schweizer haben Gefühle, so erhaben wie ihre Berge, aber ihre Ansichten der Gesellschaft sind so eng wie ihre Täler.» und sein erstes journalistisches Vorbild Niklaus Meienberg: «Wo Berge sich erheben, wie Bretter vor dem Kopf» (Elegie über den Zufall der Geburt, für Blaise Cendrars).

Dann stellt er Ludwig Hasler vor, nennt ihn den «Sokrates von Zollikon».

Ludwig Hasler beginnt seine Ausführungen, damit dass die Schweiz im eben erschienenen World Happiness Report hinter Dänemark nur noch den zweiten Rang einnimmt, was ja immer noch auf ein sehr glückliches Land schliessen lässt. Aber: «Wir mögen glücklich sein, aber man sieht es uns nicht an». Oder mit Hugo Lötscher: «Wir Schweizer sind im Prinzip muff». (Die Waschküchenschüssel – oder was wenn Gott Schweizer wäre).

Hasler meint, Schweizer zu sein sei mehr eine Erinnerung als ein Faktum. Er beruft sich für diese Aussage auf John Locke (vgl. dazu einen Vortrag von Reinhardt Brandt an der Uni Marburg): Was Identität stiftet ist nur das Erinnern. Locke stellte sich vor, dass ein Fürst mit den Erinnerungen eines Schusters aufwache und der Schuster mit den Erinnerungen des Fürsten. Der Fürst wacht wie üblich in seinem Palast auf, und äusserlich ist er dieselbe Person, die er war, als er sich schlafen legte. Aber da er statt seiner eigenen Erinnerungen die des Schusters hat, meint er, der Schuster zu sein.1

Für Fragen der Identität zählt nur die psychische Identität. Es stellt sich also die Frage: Woran erinnern sich Schweizerinnen und Schweizer, wenn sie mal aufwachen… An Heidi, Schellenursli? Beide Geschichten erzählen vom glücklich Sein in den Bergen (und nur dort – in Frankfurt war Heidi ja überhaupt nicht glücklich)

Heidi
Heidi 1922, PD , Wikimedia

Johann Jakob Scheuchzer (1672 – 1733, Zürich) glaubte, er könne diese Erinnerungsqualität fixieren. Scheuchzer sah in jedem Entwicklungsschub einen göttlichen Impuls, in seiner «Jobi Physica Sacra» verfolgt er die Absicht zu zeigen, dass der Theologie nicht nur der Weg des biblischen Offenbarungsglaubens offen steht, sondern dass Naturerkenntnis zum Verständnis der Bibel führt. Die Alpen waren für ihn gleichsam pädagogische Kulisse für die Erziehung des einheimischen Geschlechts, des «homo alpinus»: redlich, gerecht, mutig und automatisch auch bescheiden.

Hinter dieser Ansicht steckte natürlich schon immer mehr Ideologie als Empirie, zu Scheuchzers Zeit waren bereits viele Hugenotten in die Schweiz eingewandert, eine Vorhut der Moderne, die auch die Uhrenindustrie und die Banken begründeten.

Aber auch war die Herkunft aus den Bergen vor allem Symbolik, der Wunsch des kompletten Übereinstimmens von Denken, Fühlen, Handeln, wie sie nur in den Bergen zu haben sein schien, in einem einfachen alpinen Dasein ohne Entfremdung.

Interessanterweise sind solche Vorstellungen in den meisten Ländern begleitet von völkischen Vorstellungen, was in der Schweiz aber nicht der Fall war. Sie brachte es fertig, den Staat auf Diversität aufzubauen: Berge statt Rasse, gegen Feinde von aussen wie gegen die Erosion durch die Moderne.

Schweizerinnen und Schweizer sehen sich gerne als Kinder einer vorgesellschaftlichen Natur, haben mit der Moderne lieber nichts zu tun. Ist das so? Oder einfach nur Erinnerung?

Scheuchzer spricht wohl von einer Teilwahrheit. In den Bergen hat es keine Bodenschätze, kein Öl. Wir müssen uns selber helfen. Nicht klein beizugeben ist eine Überlebensnotwendigkeit. In dem sich der schweizerische Mensch den Umständen anpasste, machte er sich stark.

Lange wanderten Tausende aus, aber im 20. Jahrhundert wurde die Schweiz eine globale Erfolgsstory. Mit der alpinen Mentalität konnte man also reich werden. Aber kann man auch reich bleiben?

Weil wir in der Schweiz ein so fabelhaftes Leben haben, wollen wir es auch behalten. Wir wollen keine Zukunft, sondern Fristerstreckung für die Vergangenheit. Die Erinnerung lebt weiter: Schweizer als hochflexible Kampfsäue, die durch Flexibilität, Bodenhaftung und Robustheit den Österreichern bei Morgarten die Köpfe einschlugen.

Momentan sind wir aber nicht mehr robust, sondern eine alternde Wohlstandsgesellschaft. Die Tugenden wie Fleiss, Ausdauer, Erfolgshunger haben eher die Balkankids.

Ludwig Hasler meint, wir müssten uns von dieser Identität verabschieden, sollten sie noch als Erinnerung behalten, aber das 21. Jahrhundert mit seiner Kultur der Ungereimtheit akzeptieren. Wer mit sich im Reinen sein will, kommt im 21. Jahrhundert nicht an. Die Schweizerinnen und Schweizer ertragen aber Widersprüche nicht, sie wollen Feuer ohne Rauch, Wohlstand ohne Veränderung, «Ernährungssicherheit» plus Freihandel mit der ganzen Welt. In Zollikon hängen alle ständig am Mobiltelefon, aber sie wollen keine Antenne, wir wollen fliegen ohne Flugrouten, Früchte der Arbeit ohne schmutzige Finger usw. Mit Jahrhundertprojekten wie der Energiewende kann die Gesellschaft schon gar nicht umgehen.

Also: Wie gelangen wir zu mehr Zukunft statt zu einer Fristerstreckung der Gegenwart? Die heutigen Neo-Schweizer können sich besser heidiisieren, die anderen sind zu bequem, zu ehrgeizlos, zu faul, zu satt. Die Milizidee ist abhandengekommen. Eine beliebte Frage lautet: «Was gedenkt der Bund zu tun?» Der Staat soll sich darum kümmern, dass alle Kinder schwimmen können, dass die Fresssucht abnimmt usw. Wir leben derweil immer gesünder und fühlen uns immer kränker. Wir haben uns besser im Griff, bewirken aber nichts mehr und werden depressiv. Das hat auch mit dem Wegfall der Religion zu tun. Das kulturelle Belohnungssystem für harte Arbeit, für Entbehrungen ist weggebrochen, wir sind metaphysisch obdachlos, mit dem Leiden allein. Wenn wir mit dem Leiden allein sind, dann hat es keinen Sinn. «Gott ist tot (Nietzsche) ». Darunter schrieb jemand «Nietzsche ist tot (Gott) »

Die anschliessende Diskussion dreht sich auch darum, dass der Mensch einen Gott oder eine Zukunft brauche, vielleicht sei das ja dasselbe. Heute drehe sich aber alles um «Ich, Ich, Ich». Ich-Optimierung sei der Sinn des Lebens geworden, auch die 70- und 80-Jährigen sind pausenlos damit beschäftigt, haben ihr Leben so wahnsinnig im Griff. Die Gratifikation: 5 Jahre länger dement. Dabei wird man doch glücklich, wenn man sich in etwas verlieren kann, nicht wenn man sich pausenlos im Griff hat. Der Mensch leidet daran, ständig Ich sein zu müssen, anstatt sich auch hingeben, sich verausgaben zu können.

Hasler meint, es sei schwierig Christ zu sein, aber noch viel schwieriger, nicht mehr Christ zu sein. Wenn es keine Kompensation mehr für Stillstand gibt, dann ist Stillstand nur noch Stillstand.

Und als einigermassen ernüchterndes Fazit: Wenn wir so weiter machen, brauchen wir nicht Brüssel, um unsere Freiheit zu gefährden, das schaffen wir schon selbst.

1 Warburton, Nigel. 2014. Die kürzeste Geschichte der Philosophie. Hamburg: Hoffmann und Campe. (Google)