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Reise ins China des frühen 20. Jahrhunderts

Der Crossasia-Blog (Bildquelle) macht in einem Beitrag vom 14. Juli 2016 darauf aufmerksam, dass die Staatsbibliothek zu Berlin den Nachlass des deutschen Konsuls Fritz Weiss (Wikipedia) und seiner Ehefrau Hedwig Weiss-Sonnenberg (Wikipedia) übernommen hat. Hedwig und Fritz Weiss waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts konsularisch an verschiedenen Orten in China tätig. Hedwig Weiss-Sonnenberg  hat ihre Beobachtungen immer wieder als Reiseberichte publiziert und später auch in Kinderbüchern verwertet.

Die Online-Ausstellung von Crossasia mit Fotografien, Texten, Karten und Tondokumenten aus dem Nachlass gibt einen sehr guten Einblick in ihre Zeit in China.

Online abrufbar sind andernorts auch einige der Texte von Hedwig Weiss-Sonnenberg. Sie ermöglichen einen weiteren Einblick in den Südwesten Chinas zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive dieser weltoffenen, interessierten, abenteuerlustigen Frau, die natürlich auch von der Weltanschauung ihrer Zeit geprägt war.

Das Ehepaar Weiss blieb nicht in den Städten, in denen Fritz Weiss als Konsul tätig war, sondern erkundete (immer in Begleitung von Trägern und Wächtern) die Gegend um Chengtu (Chengdu) und später Yunnanfu (Kunming). Eine der ersten gemeinsamen Reisen führte von Chengdu nach Kiating. Hedwig Weiss-Sonnenburg berichtet darüber in «Nord und Süd». Sie schildert Landschaft, Leute und die eigenen Erlebnisse (PDF des Artikels)1

In tiefer Nacht pochten wir an das schon geschlossene eiserne Tor der Stadt. Drinnen liess sich eine Stimme vernehmen, die uns versicherte, nicht mehr aufzumachen. Und erst nach langem Hin- und Herreden, nachdem wir versichert hatten, wir wären keine Räuber, öffnete man. Wir gingen zur französischen Mission und Père Gire nahm die sehr müden Wanderer freundlich auf. (334)
So waren wir recht froh, als wir einem Trupp Frauen begegneten, die uns sagten, wir wären gleich oben. Die kleinen Frauen hatten in dem Tempel geopfert, der auf dem Shou Kung Shan liegt; es ist mir unerklärlich, wie sie mit den unglücklichen Füssen da hinauf gelangt waren. (344)

In der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde veröffentlichte «Frau Konsul Fritz Weiss» dann 1915 einen Beitrag über eine gewagte Expedition ins «Lololand»,  d.h. ins Gebiet der Yi (Wikipedia), die sie mit ihrem Mann unternahm. (PDF des Artikels)2 Die chinesischen Behörden hatten wenig Autorität über das Gebiet der Yi, so dass die Reise nur mit einem «Bürgen» der betreffenden Ethnie, in diesem Fall einem Adeligen möglich und trotzdem risikoreich war.

«Es ist überhaupt vor uns nur zwei fremden Expeditionen vor drei Jahren gelungen, bei ihnen einzudringen. Die erste war von d'Ollone geleitet, einem französischen Offizier, dem es hauptsächlich durch die Hilfe der katholischen Mission gelang, einzudringen, und das Land in gerader Richtung bis an den Yangtse zu durchqueren. Der zweite, ein Engländer Namens Brooke, wurde bei einer ähnlichen Durchquerung von den Lolos erschlagen.» (Ebd., 74).

Hedwig und Fritz Weiss brachten Fotografien und Tonaufnahmen von ihrer Reise mit. Hedwig Weiss-Sonnenburg schildert  die Yi  mit Sympathie, wenn auch mit dem Abstand der Höhergestellten.

Mapie, unser Bürge, verabschiedet sich hier nach wohlverdienter
Belohnung samt seinen Hörigen mit tiefem Kniefall vor uns und stürmt dann mit ihnen unter lautem vergnügtem Rufen davon.Im Laufschritt sehen wir sie den Weg zurücknehmend, den wir eben gekommen sind und hinter einem Hügel verschwinden. Ein freies, glückliches Volk. (Ebd., 90).
Bildquelle: http://themen.crossasia.org/weiss/start/reisen/
Bildquelle: Crossasia

Die letzte Reise in China war keine freiwillige mehr. China hatte Deutschland am 14. August 1917 den Krieg erklärt, was natürlich zu einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen führte. Das Konsulat in Kunming musste aufgegeben werden und Hedwig und Fritz Weiss mussten mit ihren zwei Kleinkindern das Land verlassen, was eine 3000 Kilometer lange Landreise von Kunming über das Yunnan-Plateau nach Szechuan und schliesslich Shanghai nötig machte. Hedwig Weiss-Sonnenburg schildert sie unter dem Titel «Dreitausend Kilometer quer durch China – Erinnerungen einer Deutschen aus dem Jahre 1917» (PDF des Artikels3 ebenfalls in «Nord und Süd». Hier begegnen wir auch den Revolutionswirren in der Zeit nach dem Sturz der Qing-Dynastie 1912:

Den ganzen Tag über begegneten uns die zwei von Trägern getragenen leichten Bergsänften mit kranken Soldaten, die vom Lazarett in Suifu nach ihrer Heimat befördert wurden. Sie gehörten zu den Yünnan-Truppen, die vor wenigen Monaten mal wieder für das Fortbestehen der Republik China gegen die anders denkenden Szetchuan-Truppen gekämpft hatten (...) bleich und teilnahmslos hingen die armen Kerle in ihren Sänften, unter sich das unbeschreiblich verschmutzte Bettzeug (...). Das Furchtbarste aber war der Geruch, der diesen vorübergehenden Sänften entströmte (...) Den kranken Soldaten folgten an die dreihundert in rotes Tuch geschlagene Särge gefallener "Helden", die ebenfalls in ihre Heimat abgeschoben wurden. Diese wurden von vier Kulis getragen, die Särge der höheren Offiziere aber von acht Leuten. Obendrauf sass dann immer noch ein lebender Hahn, und unter laut gesungenem He-Ha versperrten die Träger den schon so schmalen Weg. Immer wieder erschien so ein roter Sarg um eine Felsnase vor uns. (182)

Nach 28 Tagen in Sänften, auf dem Pferd und zu Fuss kann Familie Weiss aber Henchiang dann ihre Reise auf dem Wasser fortsetzen und erreicht schliesslich Shanghai. Der erste Weltkrieg scheint weit weg, auch wenn er der Grund für die Rückreise ist. Der amerikanische Missionsarzt verarztet die Familie freundlich.

Dieser sowie die dort anwesenden anderen amerikanischen Missionare waren von ausnehmender Freundlichkeit gegen uns, ohne jeden Hass auf Deutschland und die Deutschen, es berührte uns in dieser Zeit wirklich angenehm. (183)

Und vom chinesischen Personal nimmt man nur ungern Abschied:

Rührend war es, wie sie alle voller Liebe für unsere Kinder sorgten. Besonders das Baby war der Sonnenschein und Liebling der ganzen Karawanne. Immer fröhlich strahlte sie den ernstesten Chinesen an, fürchtete sie sich doch später in Shanghai vor jedem Europäer. (179)

Sowohl Fritz Weiss wie Hedwig Weiss-Sonnenburg haben weitere Berichte geschrieben. Die Internet-Ausstellung gibt einen sehr guten Überblick über ihre Zeit in China. Eine weitere Auswertung des Nachlasses, wie er von ihrer verstorbenen Enkelin Tamara Wyss begonnen wurde,  könnte trotzdem in verschiedener Hinsicht interessant sein.

1Weiss-Sonnenberg, Hedwig. 1914. In: Nord und Süd – Eine deutsche Monatsschrift. 38. Jg. Bd. 149, H. 477. Juni 1914, 331-344. https://archive.org/details/NordUndSued1914Bd149 (25.7.2016)
2Weiss-Sonnenberg, Hedwig. 1915. Von O Pien Ting nach Ma Pien Ting durchs Lololand. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde, Heft 2, 73-91. http://www.digizeitschriften.de/dms/toc/?PID=PPN391365657_1915 (25.7.2016)
3Weiss-Sonnenberg, Hedwig. 1919. Dreitausend Kilometer quer durch China. Erinnerungen einer Deutschen aus dem Jahre 1917. In: Nord und Süd – Eine deutsche Monatsschrift. 44. Jg. Bd. 171, H. 477. Okt.-Dez. 1919, 173-184. https://archive.org/details/NordUndSued1914Bd149 (25.7.2016)

Geschichte digital

kollerGuido Koller vom Schweizerischen Bundesarchiv beschreibt in «Geschichte digital» (Stuttgart: Kohlhammer, 2015) den Stand des digitalen Wandels in den Geschichtswissenschaften. Er diskutiert Zukunftsperspektiven der «Digital History» und legt einen umfassenden Serviceteil mit bereits bereitgestellter Infrastruktur für Digital History, Portalen, Tools, Zeitschriften, Blogs und Methoden vor.

Koller bezeichnet «Digital Humanities»
als ein wissenschaftliches Praxisfeld, das sich gegenwärtig aus der Verbindung von traditionellen geisteswissenschaftlichen Methoden einerseits und digitalen, informationstechnischen Verfahren und Standards anderseits entwickelt (11).

Der digitale Wandel prägt, wie Koller beschreibt,  «zunehmend die berufliche Praxis von Historikerinnen und Historikern. Er erfasst nicht nur die Produktion und Vermittlung von historischem Wissen, sondern wirkt auch auf die Voraussetzungen für das Schreiben von Geschichte zurück.» (91).

«Das Schreiben von Geschichte ist ein Prozess, der mit dem Sammeln
und Organisieren von Informationen beginnt. Diese Daten und Fakten
werden aufbereitet und analysiert. Aufbereitete Informationen,
das Wissen also, wird sodann an ein Publikum vermittelt sowie von
diesem angewendet und geteilt.» (91f.) Koller beleuchtet nun die Stationen des historiographischen Produktionsprozesses unter der Voraussetzung des digitalen Wandels.

Stand der Dinge

  • Computer werden vermehrt als Erweiterung unserer eigenen kognitiven Fähigkeiten wahrgenommen. Algorithmen erlauben es, Kulturtechniken wie das Lesen und Suchen von Informationen zu automatisieren. Damit verliert der Mensch eine bis dahin ihm vorbehaltene Domäne an die Maschine. (17) Dem Menschen vorbehalten bleibt die tiefe Interpretation von Texten und der Umgang mit Widersprüchlichkeit in Quellen. (10)
  • Archive, Bibliotheken, Erinnerungsorte passen sich den technischen Veränderungen und den neuen Erwartungen ihrer Nutzer an. Sie werden vom Gate Keeper zum Data Broker. (25) Gerade Studierende z.B. wollen heute möglichst ökonomisch recherchieren.
  • Big Data für die Forschung zu nutzen, bedeutet eigentlich auch, möglichst viele Daten zu sammeln, um sie allenfalls später für Analyse und Fragestellungen verwenden zu können. Geschichtswissenschaft wendet mehr quantitative Methoden an und wendet sich damit mehr den Sozialwissenschaften zu. Quantitative historische Analysen erweitern und ergänzen klassische Interpretation von Texten und Quellen.
  • Auch die Darstellungsmöglichkeiten von Geschichte haben sich nach der Digitalen Wende grundsätzlich verändert, sie sind «hypertextueller» geworden, es lassen sich verschiedene Schichten von Zeit und Raum darstellen.

Koller bringt einige Fallbeispiele zu Digital History:

venicetimeThe Venice Time Machine, mit der es möglich sein wird, virtuell durch Zeiten und Orte in Venedig zu navigieren. Rund 80 000 Laufmeter Akten des Staatsarchivs Venedig werden digitalisiert, transkribiert und indexiert. Ergänzend dazu werden tausende von Monografien erfasst und recherchierbar gemacht. Diese Daten werden in einem historischen GIS organisiert und räumlich und zeitlich visuell zur Geltung gebracht. (50, Bild Website)

tradingconsequencesTrading Consequences, dieses Projekt will tausende Dokumente zum Warenhandel im britischen Commonwealth im 19. Jahrhundert zugänglich machen. (52, Bild Website)

republicoflettersMapping the Republic of Letters, indem die Daten von Netzwerken früh-moderner
Gelehrter gespeichert und visuell ausgegeben werden (55, Bild Website). Die Federführung liegt hier bei Stanford, es beteiligen sich aber verschiedenste Institutionen.

sozialeSicherheitBeliebt für Visualisierungen sind  Timelines.
Ein sehr schönes Beispiel aus der Schweiz ist die Geschichte der sozialen Sicherheit (Bild Website). Chronozoom (UC Berkeley) soll seinen Nutzern eine Sicht auf die unermesslich weite Skala der Zeit ermöglichen – vom Big Bang bis zur Gegenwart. (56). Andere Beispiele sind die Vienna Timeline,  eine Informationsseite mit reicher Auswahl an historischem Bildmaterial zum Thema Wien, die Timeline Images der Süddeutschen, das preisgekrönte Pionier-Projekt Valley of the Shadow, welches Quellen zum amerikanischen Bürgerkrieg zugänglich macht oder das Projekt Digital Harlem, eine Plattform mit Quellen zum alltäglichen Leben in diesem Quartier der schwarzen Bevölkerung New Yorks zwischen 1915 und 1930. (57).

Als Beispiel eines transnationalen Projektes bringt Koller das African Colonies Employees Projekt von Stanford, und natürlich wird auch Franco Morettis literaturwissenschaftliches Konzept des distant reading dargestellt.

Perspektiven

openeditionDie Perspektiven, die Koller danach schildert, weisen in Richtung offene Werkstätten, wie sie Marc Bloch darstellte. Eine offene und öffentliche Historische Forschung wurde z.B. beim Schreiben des Buches «Exploring Big Historical Data: The Historian’s Macroscope» angewandt wurde. Der grosse Erfolg des französischen openedition.org, mit momentan über 1500 Blogs von Forscherinnen und Forschern weisen ebenfalls in diese Richtung.

Unter digitalen Vorzeichen wird eine Neukonzeption von Zeit und Raum notwendig sein. Solche Konzepte für die virtuelle Vermittlung von Geschichte «setzen beim Spatial turn an, der die Rolle des Raums betont, und verbinden ihn mit dem Potenzial des Web 2.0. Die Grundidee: Raum als komplexe soziale Formation kann mit Hilfe von GIS (Geographischen Informationssystemen, Anm. Ke) die Distanz zwischen Betrachter und Betrachtetem reduzieren, die Vergangenheit so dynamisch und kontingent wie die Gegenwart erscheinen lassen. Dies erfordert es, Geschichte als Praxis zu sehen. Zeit und Geschichte sind dann eine Serie von Gegenwarten, die sich um einen bestimmten Ort gruppieren.» (74). Konsumenten solcher historischer Zeit-Räume sind zugleich Produzenten, die eigene Briefe, Fotos usw. hochladen können. Eine Deep Map würde jedes Objekt – Brief, Foto, Bericht etc. – in Zeit und Raum verankern und so jede einzelne Sicht auf unseres kulturelles Erbe virtuell zu erhalten erlauben (ebd). Ein Beispiel für eine solche Deep Map könnte das oben erwähnte Venice Timeline Project werden.

Koller bezieht sich auf Yvonne Spielmanns Hybridkultur, die auch auf die Geschichtsschreibung grossen Einfluss haben werde. Hier eine (von Koller nicht erwähnte) Beschreibung:

Japan ist für Spielmann «ein aktuelles Beispiel für einen „Hybridzustand“, da dort auf „engstem Raum in hoher Verdichtung“ (39) traditionell-japanische und westliche kulturelle Praktiken interagieren und zugleich hochtechnologische Kommunikationsformen (interaktive Medien, Computeranimationen, Cyberspace etc.) weit verbreitet und hoch entwickelt sind. Die dortige (künstlerische) Situation stellt sich für Spielmann als Laboratorium für die Zukunft der Hybridkultur im Zeichen von globalen Vernetzungen, transkulturellen Verbindungen und Durchmischungen dar, die durch die neuen technischen Verknüpfungsoptionen in dieser Form erst ermöglicht werden.» (ArtHist Review)

Nach Koller muss Digital History  also über die Kommunikation von Forschungsergebnissen hinaus ein neues Verständnis von Geschichte entwickeln. Konzeptuelle Arbeit für eine hybride, transnationale Digital History muss geleistet werden (86).

Services

Teil III schliesslich «stellt eine Auswahl wichtiger
Infrastrukturen, Projekte, Plattformen, Anwendungen, Standards,
Zeitschriften und Blogs zum Thema vor. Es findet sich darin auch ein
kurzer Überblick über die gängigen Methoden und Verfahren für die
historische Analyse von Daten.» (99) Hier eine breite Auswahl von beschriebenen Infrastrukturprojekten und Plattformen. Im Buch folgen noch Kapitel über Verbände und Zeitschriften,  Blogs, Text Mining/ Topic Modeling/ Inhaltsanalyse, Tools, Maschinenlesbare Sprachen/ Standards, Editionen.:

Infrastruktur

CLARIN-D ist eine forschungsbegleitende Infrastruktur für Geistes- und Sozialwissenschaften, die sich im weitesten Sinne mit Sprache beschäftigen.

DARIAH, Digital Research Infrastructure for the Arts and Humanities, die Schweiz als Nicht-EU-Land kann hier nur cooperative partner sein.

DHLAB, das Digital Humanities Laboratory an der EPFL «develops new computational approaches for rediscovering the past and anticipating the future.»

Portale und Plattformen

ANNO, Austrian Newspapers online, der virtuelle Zeitungslesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek für historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften.

Clio-online, das deutschsprachige Fachportal für die Geschichtswissenschaften, sehr umfassend.

CVCE, Centre virtuel de la connaissance sur l’Europe, die digitale Forschungsinfrastruktur zur europäischen Integration.

DataCite: Locate, identify, and cite research data with the leading global provider of DOIs for research.

Digizeitschriften, Über einen kontrollierten Nutzerzugang können Studierende und Wissenschaftler auf Kernzeitschriften der deutschen Forschung zugreifen.

H-Net, Humanities and Social Sciences online: serving professional historians around the world. Ein Netzwerk von Netzwerken.

H-Soz-Kult, ein Community-Netzwerk, das der Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften dient.

L.I.S.A., (Lesen, Informieren, Schreiben, Austauschen), das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung.

Recensio.net, die Rezensionsplattform für die europäische Geschichtswissenschaft. Rezensionen, die in bedeutenden Zeitschriften erschienen, können durchsucht werden.

Open Book Publishers,  We are a Social Enterprise run by scholars who are committed to making high-quality research available to readers around the world. We publish monographs and textbooks in all areas, and offer the academic excellence of a traditional press, with the speed, convenience and accessibility of digital publishing.

OpenEdition, eine von der französischen Regierung unterstützte Open Access-Plattform für wissenschaftliche Publikationen, die sehr erfolgreich ist. Das Modell könnte für Verlage eine echte Konkurrenz werden.

Schluss

Meines Erachtens ist Guido Koller hier ein Standardwerk mit einem reichen Fundus an sehr hilfreichen Informationen gelungen. Alle Kapitel sind auch einzeln lesbar, was das Buch zwar teilweise etwas redundant macht. Wegen der vielen Links lohnt sich die Anschaffung als eBook, es ist in allen gängigen Formaten erwerbbar.

Chinesische Immigration im 19. Jh. in die USA

Der Besuch im Chinatown-Museum in San Francisco hat mich an einen Besuch in einem Museum in Washington erinnert und er hat mich darauf gebracht, der chinesischen Immigration in die USA und dem Widerstand dagegen im 19. Jahrhundert etwas nachzugehen, d.h. einige Fussnoten dazu zu setzen.

Wenig beachtet sind die – wesentlich auch vom Westen verursachten – „Push-Faktoren“, die zur Immigration geführt haben:

Opiumkriege, Mission und Zusammenbruch der alten Ordnung in China

An der südchinesischen Küste hatte sich seit etwa 1820 ein Konflikt um Opium zusammengebraut. Das Rauschgift wurde in Britisch-Indien produziert und zunehmend statt des früher dafür verwendeten Silbers zur Bezahlung chinesischer Tee-Exporte benutzt. Dem nach Tee durstigen Grossbritannien war es wichtig, seine „Aussenhandelsbilanz“ mit China auszugleichen, das konnte durch die Lieferung von Opium erreicht werden. Die Weigerung der chinesischen Regierung, diese Praxis weiter zu dulden und so seine Bevölkerung der Opiumsucht auszuliefern, wurde unter britischen Diplomaten und Handelsfirmen als willkommener Anlass gesehen, das bis dahin selbstbewusst verschlossene China zur Öffnung seiner Häfen für Ausländer zu zwingen. Dies geschah im britisch-chinesischen Opiumkrieg von 1840-42, dem 1856-60 ein zweiter Krieg folgte.1

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Kriegsszene aus der Taiping-Rebellion. PD Wikimedia

Mit dem Opiumkrieg zusammen hing die Taiping-Rebellion (1850-1864), die eine chinesisch-christliche Sekte im Süden auslöste. Missionare waren seit Jahrhunderten in China tätig, doch sie waren strengen Beschränkungen unterworfen gewesen. Nach dem Opiumkrieg strömten sie in grossen Scharen ins Land. Die Taiping-Rebellen wurden von einem charismatischen chinesischen Mystiker geführt, der behauptete, der jüngere Bruder Jesu zu sein, und einem Gefährten dieses Mannes, der angeblich über telepathische Kräfte verfügte. Sie wollten die Qing stürzen und ein neues «Himmlisches Königreich des Grossen Friedens» errichten. In diesem Reich sollte alles gemäss der bizarren Interpretation importierter missionarischer Schriften durch ihre Führer geregelt werden. Truppen der Taiping-Rebellen gelang es, den Qing-Herrschern die Kontrolle über Nanjing und einen großen Teil von Süd- und Zentralchina zu entreissen und dort eine neue Herrscher-Dynastie zu begründen. Millionen und Abermillionen Menschen fielen ihm zum Opfer. Man schätzt, dass bei der Taiping-Rebellion (und den zusätzlichen Katastrophen des Aufstands der Muslime und der Nian-Erhebung) die Bevölkerungszahl Chinas von 410 Millionen Menschen im Jahr 1850 auf ungefähr 350 Millionen im Jahr 1873 sank.2 Das Elend war gross, Krieg und Hungersnöte zwangen (trotz eines Verbotes durch die chinesische Regierung) viele dazu, in anderen Ländern Arbeit zu suchen.

Goldrausch und Eisenbahnbau

Nachdem viele Chinesen im Goldrausch hart gearbeitet hatten, aber kaum zu Wohlstand gekommen waren, bot sich im Eisenbahnbau für viele ein neues Betätigungfeld. An der Stanford-University läuft ein Projekt, um diese Geschichte nachzuzeichnen. Viele chinesische Arbeiter verloren beim Bau der Transatlantik-Eisenbahn unter härtesten Bedingungen ihr Leben. Eine Ausstellung dazu lief bis April 2016 im Chinatown-Museum in San Francisco.

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Bild Pinterest
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Bild PD, Wikimedia

In der Wirtschaftskrise der 1870-er Jahre wuchs der (wesentlich auch gewerkschaftliche) Widerstand gegen die Konkurrenz der chinesischen Arbeiter erheblich, er führte zu Mob-Einfällen in ihre Siedlungen, dem Niederbrennen ihrer Gewerbe und zu Morden. 1882 wurde dann jede weitere Einwanderung aus China per Bundesgesetz unterbunden.

Die Stimmung dieser Zeit zeigte sich in einer Ausstellung, die anlässlich der 200-Jahr-Feier der USA 1976 von der Smithsonian-Institution organisiert wurde, sehr gut (alle Bilder Ausstellungskatalog). 3

Die antichinesische Stimmung (Chinesen essen Ratten) wurde z.B. in der Werbung für Rattengift aufgenommen, ihr Gewerbe (Wäschereien) musste herhalten um mit dem populären Slogan „The Chinese must go“ für Dampfwaschmaschinen Reklame zu machen:

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Es gab auch Karrikaturen, die die Doppelmoral der Zeit aufnahmen, etwa wenn „Einheimische“, die natürlich alle auch zugewandert sind, einen Chinesen mit dem Argument aufknüpfen, er sei nicht einheimisch…
Chinhatred01
… wenn ein wirklich Einheimischer Native American dem Chinesen erklärt, die Weissen hätten wohl Angst, es passiere ihnen das gleiche wie ihm…

chinhatred02oder wenn aus Vorurteilen eine „anti-chinesische Mauer“ gebaut wird.

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Die Stimmung gegen die Zuwanderer (seien diese arme Iren oder Chinesen) überwiegt aber, wobei die „gelbe Gefahr“ als noch gefährlicher eingestuft wird. Am Schluss frisst der Chinese auch den Iren.chinhatred06

40 Jahre liegen zwischen diesen Museumsbesuchen in den USA. Auch wenn sich das Land mit seiner Geschichte befasst: eine ähnliche Stimmung ist heute vielerorts gegen Migrantinnen und Migranten aus Mexiko und Südamerika auszumachen und ähnliche Emotionen gegen Einwanderer werden ja auch in Europa geschürt.

1Osterhammel, Jürgen. 2012. Das 19. Jahrhundert. Informationen zur politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 24.
2Kissinger, Henry. 2011. China. München: Bertelsmann, 78.
3Marzio Peter C. 1976. A Nation of Nations. The People Who Came to America as Seen Through Objects, Prints and Photographs at the Smithsonian Institution. Washington DC: Smithsonian.

Rassismus an der Weltausstellung 1915

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Bild: Chinatown-Museum, San Francisco

1915 fand in San Francisco die Weltausstellung «World’s Fair», die «Panama Pacific International Exposition statt». Mit ihr sollte einerseits die Eröffnung des Panama-Kanals gefeiert, andererseits der Welt gezeigt werden, wie San Francisco nach dem grossen Feuer von 1906 wieder aufgebaut worden war. Die Library of Congress hat einen schönen Werbefilm  «Mabel and Fatty viewing the World’s Fair at San Francisco, Cal.» archiviert, in dem (bei 15:08) auch eine „eiserne Jungfrau“ vorkommt. In der Schweiz ist ein solches Folterinstrument ja auf der Kyburg ausgestellt und sehr bekannt.

Eine Ausstellung im Chinatown-Museum in San Francisco zeigt den alltäglichen Rassismus jener Zeit. Der Fortschrittsglaube und Optimismus des 19. Jahrhundert hatte auch zur Überzeugung geführt, dass die «weisse Rasse» überlegen sei.

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Bilder Chinatown-Museum, San Francisco

SF-Fair_kIm Vergnügungsviertel wurde z.B. «Underground Chinatown» mitsamt einer Opiumhölle mit von chinesischen Drogenhändlern versklavten weissen Frauen gezeigt, Wachsfiguren und Schauspieler sollten bei den Besuchern eine Mischung aus Schauer und erotischer Neugier hervorrufen. Die 1912 ausgerufene Republik China beteiligte sich an der Weltausstellung und hoffte, so Sympathien für den neuen Staat zu gewinnen. Der von ihrer Kommission eingelegte Protest half allerdings nicht, man wollte die beliebte Attraktion nicht verlieren:

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Chinatown-Museum San Francisco

 

Gessners Einhorn in China

Die Universität Zürich berichtet anlässlich des 500. Geburtstages des Züricher Universalgelehrten Conrad Gessner in einer Medienmitteilung auch darüber, dass der Zürcher Stadtarzt und Gelehrte Conrad Gessner als Erster versuchte, die Tiere aller damals bekannten Kontinente zu beschreiben. Gessner gilt deshalb als einer der Begründer der modernen Zoologie.

Bild: Zoologisches Museum der Universität Zürich
Bild: Zoologisches Museum der Universität Zürich

Im zoologischen Museum ist momentan auch ein Einhorn ausgestellt, weil Gessner es in seine Enzyklopädie aufnahm und seine Existenz bestätigte, allerdings anfügte, lediglich ein Horn gesehen zu haben. Erst später wurde bekannt, dass die Einhörner zugeschriebenen Hörner Zähne des Narwals sind.

Der moderne Buchdruck ermöglichte eine schnelle Wissensverbreitung. Die Universität Zürich berichtet, dass das Bild der Giraffe in Gessners «Icones animalium» den Weg bis nach China fand, wo es 1725 in einer Enzyklopädie erschien.

Nicht nur die Giraffe gelangte aber nach China, wie die Ausstellung  «China at the Center: Ricci and Verbiest World maps» im Asian Art Museum in San Francisco zeigt. 50 Jahre früher kam bereits Gessners Einhorn dort an. In San Francisco ausgestellt sind die in China hergestellten Weltkarten von Matteo Ricci und Ferdinand Verbiest. Der flämische Jesuit Ferdinand Verbiest (1623–1688) hatte Mathematik, Philosophie, Astronomie und Theologie studiert und wurde von seinem Orden mit Missionsarbeit in China betraut, wo er 1658 ankam. Die Jahre nach dem Fall der Ming-Dynastie 1644 waren für die Jesuiten schwierige und gefährliche Jahre. Ihre Politik war – wie schon in den Jahren von Matteo Ricci – Vertrauen durch wissenschaftliche Leistungen zu schaffen und so auch den Boden für eine Missionierung zu legen. Verbiest gewann einen öffentlichen Astronomie-Wettbewerb und wurde so als Nachfolger seines Ordensbruders Johann Adam Schall von Bell Direktor des kaiserlichen astronomischen Büros («kaiserliches Kalenderamt»), wo er seine vielseitigen Begabungen in die Dienste des Manchu-Hofes (Quing-Dynastie) mit Kaiser Kangxi stellen konnte. Mit chinesischen Mitarbeitern stellte er eine der grössten mit Holztafeldruck gedruckten Weltkarten her.

Die Karte kann auf der Website der Library of Congress unter ihrem chinesischen Namen «Kun yu quan tu» abgerufen werden. Das Asian Art Museum stellt die Karte interaktiv zur Verfügung.

Auf der Verbiest-Karte von 1674 ist Gessners Einhorn (es soll in Indien leben) deutlich zu sehen:

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Fristerstreckung für die Vergangenheit (Ludwig Hasler)

Reden über die Schweiz – ein Kleinstaat und die grosse Welt
Applied History Lectures Sommersemester 2016

«Die Schweiz hat eine weltweit fast einzigartig «gute» Geschichte: Niemals war sie aggressiver Machtstaat, stets eher Mittlerin und während grosser Kriege neutral; meist weltoffen, bot sie vielen Verfolgten Asyl. Ihre innere kulturelle Vielfalt schulte in Pragmatismus und Kompromiss. Ihre Sozialsysteme suchen weithin ihresgleichen, ihr öffentlicher Nahverkehr funktioniert pünktlich. In der jüngeren Vergangenheit haben sich die Rahmenbedingungen des langwährenden eidgenössischen Glücks verändert. Swissair-Grounding und Erosion des Bankgeheimnisses sind nur zwei Stichworte. Kritiker beobachten Ausländerfeindlichkeit, einen neuen Nationalismus, deren Ausdruck Minarett-Verbot und Einwanderungsinitiative sind. Unverkennbar ist wachsende Distanz zu Grossorganisationen wie der Europäischen Union. Unsere Gesprächsreihe versucht, den Stand der Dinge zu reflektieren.» So die Ankündigung der «Applied History Lectures» der Universität Zürich im Sommersemester 2016.

Prominente Gäste aus Kultur, Politik und Wissenschaft diskutieren mit dem Politikwissenschaftler und Journalisten Stephan Klapproth.

Hasler
Bild CC mediXTv

Am ersten Themenabend unterhält sich Stephan Klapproth mit Ludwig Hasler (*1945), der Physik und Philosophie studierte und sowohl akademisch wie journalistisch (Chefredaktor St. Galler Tagblatt und der alten Weltwoche) tätig war.

Klapproth macht eine fulminante Einführung zum Zyklus, zitiert Heirich Heine: «Die Schweizer haben Gefühle, so erhaben wie ihre Berge, aber ihre Ansichten der Gesellschaft sind so eng wie ihre Täler.» und sein erstes journalistisches Vorbild Niklaus Meienberg: «Wo Berge sich erheben, wie Bretter vor dem Kopf» (Elegie über den Zufall der Geburt, für Blaise Cendrars).

Dann stellt er Ludwig Hasler vor, nennt ihn den «Sokrates von Zollikon».

Ludwig Hasler beginnt seine Ausführungen, damit dass die Schweiz im eben erschienenen World Happiness Report hinter Dänemark nur noch den zweiten Rang einnimmt, was ja immer noch auf ein sehr glückliches Land schliessen lässt. Aber: «Wir mögen glücklich sein, aber man sieht es uns nicht an». Oder mit Hugo Lötscher: «Wir Schweizer sind im Prinzip muff». (Die Waschküchenschüssel – oder was wenn Gott Schweizer wäre).

Hasler meint, Schweizer zu sein sei mehr eine Erinnerung als ein Faktum. Er beruft sich für diese Aussage auf John Locke (vgl. dazu einen Vortrag von Reinhardt Brandt an der Uni Marburg): Was Identität stiftet ist nur das Erinnern. Locke stellte sich vor, dass ein Fürst mit den Erinnerungen eines Schusters aufwache und der Schuster mit den Erinnerungen des Fürsten. Der Fürst wacht wie üblich in seinem Palast auf, und äusserlich ist er dieselbe Person, die er war, als er sich schlafen legte. Aber da er statt seiner eigenen Erinnerungen die des Schusters hat, meint er, der Schuster zu sein.1

Für Fragen der Identität zählt nur die psychische Identität. Es stellt sich also die Frage: Woran erinnern sich Schweizerinnen und Schweizer, wenn sie mal aufwachen… An Heidi, Schellenursli? Beide Geschichten erzählen vom glücklich Sein in den Bergen (und nur dort – in Frankfurt war Heidi ja überhaupt nicht glücklich)

Heidi
Heidi 1922, PD , Wikimedia

Johann Jakob Scheuchzer (1672 – 1733, Zürich) glaubte, er könne diese Erinnerungsqualität fixieren. Scheuchzer sah in jedem Entwicklungsschub einen göttlichen Impuls, in seiner «Jobi Physica Sacra» verfolgt er die Absicht zu zeigen, dass der Theologie nicht nur der Weg des biblischen Offenbarungsglaubens offen steht, sondern dass Naturerkenntnis zum Verständnis der Bibel führt. Die Alpen waren für ihn gleichsam pädagogische Kulisse für die Erziehung des einheimischen Geschlechts, des «homo alpinus»: redlich, gerecht, mutig und automatisch auch bescheiden.

Hinter dieser Ansicht steckte natürlich schon immer mehr Ideologie als Empirie, zu Scheuchzers Zeit waren bereits viele Hugenotten in die Schweiz eingewandert, eine Vorhut der Moderne, die auch die Uhrenindustrie und die Banken begründeten.

Aber auch war die Herkunft aus den Bergen vor allem Symbolik, der Wunsch des kompletten Übereinstimmens von Denken, Fühlen, Handeln, wie sie nur in den Bergen zu haben sein schien, in einem einfachen alpinen Dasein ohne Entfremdung.

Interessanterweise sind solche Vorstellungen in den meisten Ländern begleitet von völkischen Vorstellungen, was in der Schweiz aber nicht der Fall war. Sie brachte es fertig, den Staat auf Diversität aufzubauen: Berge statt Rasse, gegen Feinde von aussen wie gegen die Erosion durch die Moderne.

Schweizerinnen und Schweizer sehen sich gerne als Kinder einer vorgesellschaftlichen Natur, haben mit der Moderne lieber nichts zu tun. Ist das so? Oder einfach nur Erinnerung?

Scheuchzer spricht wohl von einer Teilwahrheit. In den Bergen hat es keine Bodenschätze, kein Öl. Wir müssen uns selber helfen. Nicht klein beizugeben ist eine Überlebensnotwendigkeit. In dem sich der schweizerische Mensch den Umständen anpasste, machte er sich stark.

Lange wanderten Tausende aus, aber im 20. Jahrhundert wurde die Schweiz eine globale Erfolgsstory. Mit der alpinen Mentalität konnte man also reich werden. Aber kann man auch reich bleiben?

Weil wir in der Schweiz ein so fabelhaftes Leben haben, wollen wir es auch behalten. Wir wollen keine Zukunft, sondern Fristerstreckung für die Vergangenheit. Die Erinnerung lebt weiter: Schweizer als hochflexible Kampfsäue, die durch Flexibilität, Bodenhaftung und Robustheit den Österreichern bei Morgarten die Köpfe einschlugen.

Momentan sind wir aber nicht mehr robust, sondern eine alternde Wohlstandsgesellschaft. Die Tugenden wie Fleiss, Ausdauer, Erfolgshunger haben eher die Balkankids.

Ludwig Hasler meint, wir müssten uns von dieser Identität verabschieden, sollten sie noch als Erinnerung behalten, aber das 21. Jahrhundert mit seiner Kultur der Ungereimtheit akzeptieren. Wer mit sich im Reinen sein will, kommt im 21. Jahrhundert nicht an. Die Schweizerinnen und Schweizer ertragen aber Widersprüche nicht, sie wollen Feuer ohne Rauch, Wohlstand ohne Veränderung, «Ernährungssicherheit» plus Freihandel mit der ganzen Welt. In Zollikon hängen alle ständig am Mobiltelefon, aber sie wollen keine Antenne, wir wollen fliegen ohne Flugrouten, Früchte der Arbeit ohne schmutzige Finger usw. Mit Jahrhundertprojekten wie der Energiewende kann die Gesellschaft schon gar nicht umgehen.

Also: Wie gelangen wir zu mehr Zukunft statt zu einer Fristerstreckung der Gegenwart? Die heutigen Neo-Schweizer können sich besser heidiisieren, die anderen sind zu bequem, zu ehrgeizlos, zu faul, zu satt. Die Milizidee ist abhandengekommen. Eine beliebte Frage lautet: «Was gedenkt der Bund zu tun?» Der Staat soll sich darum kümmern, dass alle Kinder schwimmen können, dass die Fresssucht abnimmt usw. Wir leben derweil immer gesünder und fühlen uns immer kränker. Wir haben uns besser im Griff, bewirken aber nichts mehr und werden depressiv. Das hat auch mit dem Wegfall der Religion zu tun. Das kulturelle Belohnungssystem für harte Arbeit, für Entbehrungen ist weggebrochen, wir sind metaphysisch obdachlos, mit dem Leiden allein. Wenn wir mit dem Leiden allein sind, dann hat es keinen Sinn. «Gott ist tot (Nietzsche) ». Darunter schrieb jemand «Nietzsche ist tot (Gott) »

Die anschliessende Diskussion dreht sich auch darum, dass der Mensch einen Gott oder eine Zukunft brauche, vielleicht sei das ja dasselbe. Heute drehe sich aber alles um «Ich, Ich, Ich». Ich-Optimierung sei der Sinn des Lebens geworden, auch die 70- und 80-Jährigen sind pausenlos damit beschäftigt, haben ihr Leben so wahnsinnig im Griff. Die Gratifikation: 5 Jahre länger dement. Dabei wird man doch glücklich, wenn man sich in etwas verlieren kann, nicht wenn man sich pausenlos im Griff hat. Der Mensch leidet daran, ständig Ich sein zu müssen, anstatt sich auch hingeben, sich verausgaben zu können.

Hasler meint, es sei schwierig Christ zu sein, aber noch viel schwieriger, nicht mehr Christ zu sein. Wenn es keine Kompensation mehr für Stillstand gibt, dann ist Stillstand nur noch Stillstand.

Und als einigermassen ernüchterndes Fazit: Wenn wir so weiter machen, brauchen wir nicht Brüssel, um unsere Freiheit zu gefährden, das schaffen wir schon selbst.

1 Warburton, Nigel. 2014. Die kürzeste Geschichte der Philosophie. Hamburg: Hoffmann und Campe. (Google)

Zürich 2016 und Thalwil 1956

März 2016. Der Aufruf Philipp Ruchs vom Theater am Neumarkt, vor Köppels Haus zu ziehen, um dort die bösen Geister auszutreiben, hat Edgar Schuler im Tages-Anzeiger dazu bewogen, darauf hinzuweisen, dass solche Aufforderungen in einer Tradition stehen: derjenigen „des Intellektuellen, der in seinen Polemiken nicht Worte, sondern Taten sprechen lässt. Und sei es nur, indem er in Kauf nimmt, dass andere an seiner Statt handeln.“

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Ungarnhilfe, Bahnhofplatz Zürich. Bild solidar suisse

Schuler weist auf 1956 hin. Nach der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn durch sowjetische Panzer ging eine Welle der Solidarität mit dem ungarischen Volk durch die Schweiz, die viele flüchtende Ungarinnen und Ungaren aufnahm. Der mit den Ereignissen in Ungarn einher gehende Antikommunismus war gross und wurde von der Presse bewirtschaftet. Edgar Schuler beschreibt, wie NZZ-Redaktor Ernst Bieri (Nachruf 2003 in der NZZ) damals die Adresse des Kommunisten Konrad Farner (HLS) veröffentlichte.

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NZZ, 13.11.1956, Morgenausgabe, Blatt 3

In der Lokalpresse wurden dann Inserate einer Aktion „Frei sein“ veröffentlicht: „Wir können und wollen unser Dorf von diesem Totengräber der Freiheit säubern“.

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Aus: Leimgruber Walter und Daniela Christen. 1992. Sonderfall? Die Schweiz zwischen Réduit und Europa. Ausstellung im Schweizerischen Landesmuseum Zürich. Begleitband. Zürich: Landesmuseum. S. 265. Bild vergrössern.

Farner und seine Familie wurden heftigst bedroht, eine erzürnte Menge rottete sich vor ihrem Haus zusammen, in den Läden wurden sie nicht mehr bedient usw. Sie waren gezwungen, ihr Haus vorübergehend zu verlassen. Die damalige Adressnennung wurde viel später (1980, vgl. unten) von der NZZ bedauert. Sie war aber kein Einzelfall, auch die Adresse von Marcel Brun, der Farner in Thalwil abgeholt hatte (und der später unter dem Pseudonym Jean Villain – HLS – bekannt wurde und 1961 in die DDR auswanderte) wurde genannt:

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NZZ, 21.11.1956, Abendausgabe, Blatt 13

Jakob Tanner hat 1986 offenbar geschrieben, dass damals die Kommunisten „pogromartigen Verfolgungen“ ausgesetzt gewesen seien.

2001 wendet sich die NZZ in einem Artikel  „Sprachgebrauch bei der Aufarbeitung von Vergangenem“ gegen die Verwendung des Begriffs „Pogrom“ in diesem Zusammenhang.

Ota Benga und die Negerdörfli

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Ota Benga im Zoo der Bronx (Bild PD, nbo-press )

Dieser Tage hat sich offenbar der Todestag von Ota Benga zum 100. Mal gejährt. Der Kongolese Ota Benga wurde in den USA an einer Messe in St. Louis und im Bronx-Zoo wie ein Tier ausgestellt (siehe Scoop.it). Er musste nach der Darwinschen Theorie als als „Missing Link“ zwischen Tier und Mensch herhalten. Wenig später nahm er sich das Leben. Ann Hornaday, eine Verwandte des damaligen Zoodirektors erzählte seine Geschichte 2009 in der Washington Post.

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Blechpostkarte, die heute noch bei ex libris unter der Rubrik „Originelles“ verkauft wird.

Aussergewöhnlich waren solche Zurschaustellungen von „Negern“ nicht. Rea Brändle hat in ihrem Buch „Wildfremd.hautnah“ Zürcher Völkerschauen und ihre Schauplätze 1835-1964 aufgearbeitet und berichtet darin z.B. auch vom Negerdörfli 1925 auf dem Letzigrund. Tages-Anzeiger und NZZ haben sich beim Erscheinen des Buches der Thematik angenommen .

Strafverfolgung wegen Dissertation?

Vlasov
General Vlasov (aus Andreyev 1987)

University World Press berichtet unter dem Titel «Calls for prosecution over PhD thesis on Soviet traitor» heute darüber, wie in Russland historische Forschung erneut gefährlich werden könnte. Offenbar wurde der Ruf laut, eine Strafuntersuchung gegen einen Historiker einzuleiten, der seine St. Petersburger Doktorarbeit über den sowjetischen General Andrei Vlasov (Wlassow), der zu den Nazis überlief, schrieb.

Vlasov stellte auf deutscher Seite mit sowjetischen Kriegsgefangenen eine Truppe auf, die sich „Russische Befreiungsarmee“ nannte. Sie wechselte in den letzten Kriegstagen erneut die Seite und schloss sich dem Prager Aufstand an. Die Betreiber einer Website, die auch Führungen zu Prag während des zweiten Weltkrieges anbieten, berichten davon.

Literatur: Andreyev, Catherine. 1987. Vlasov and the Russian Liberation Movement: Soviet Reality and Emigré Theories. Cambridge: Cambridge University Press.