Koloniale Schweiz

«Koloniale Schweiz – Ein Stück Globalgeschichte zwischen Europa und Südostasien (1860 – 1930)»

Die 2011 bei transcript erschienene Dissertation von Andreas Zangger geht der Frage nach, wie sich Schweizer zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und 1930 in Singapur und auf Sumatra etablierten, in welchem Verhältnis die Migranten aus der Schweiz zu den kolonialen Strukturen in der Region standen und welche Rückwirkungen ihre dortige Anwesenheit auf die Schweiz hatte. (434)0

Einleitung

In der Einleitung weist Zangger u.a. darauf hin, dass die Migration aus der Schweiz nach Südostasien nicht dem Konzept «Auswandern» folgte, das immer eine Aufgabe einer Existenz im Herkunftsland beinhaltet. Schweizer Migration folgte dem Konzept «Im Ausland leben», das auf eine künftige Rückkehr hindeutet und die Kontakte mit dem Herkunftsland nicht abbrechen lässt. (20)

Zangger schreibt ein Stück «History of Entanglement» bzw. Verflechtungsgeschichte. Den grösseren Rahmen zitiert er so:

«Die Bedeutung des Nationalstaats hat zeitgleich zur Globalisierung an Bedeutung gewonnen1
Conrad bezeichnet die Geschichte der modernen Welt als eine Geschichte homogenisierender Effekte und wechselseitiger Aneignung und gleichzeitig als Geschichte der Abgrenzungen, der Brüche und des Bedürfnisses nach Partikularität2
Geschichte ist so im doppelten Sinne des Wortes geteilt: gemeinsam und getrennt3
Verflechtungsgeschichte versucht die gegenseitigen Einflüsse und die Abgrenzungen zugleich begreifbar zu machen. Die Verwobenheit der Welt impliziert dabei nicht Abwesenheit von Ungleichheit, Macht und Gewalt.»

Bei seiner Quellenarbeit kann sich Zangger auch auf Firmenarchive stützen, namentlich das Firmenarchiv der Diethelm Keller Holding, in die das Handelshaus Diethelm & Co aufgegangen ist (vgl. auch Diethelm Keller).

Teil A «Kaufleute im kolonialen Singapur: Netzwerkbildung im Handel mit Ostschweizer Geweben.»

Zangger beschreibt in wenigen Sätzen die Gründungsgeschichte Singapurs:

«Im Mittelalter stand eine Handelsstadt mit Namen Temasek auf der Insel an der Südspitze der malaysischen Halbinsel. Ihre Ruinen waren bereits wieder im Dschungel versunken, als Sir Stamford Raffles, Beamter der British East lndia Company, 1819 dort eine neue Stadt gründete, wobei er einen Erbstreit im Sultanat Johor ausnutzte (…)  Zugleich überrumpelte er seine Vorgesetzten in Calcutta, welche die Niederländer nicht mit einem Eingriff in ihre Einflusssphäre brüskieren wollten. Raffles ging es darum, die Opiumhandelsroute von Indien nach China zu schützen, ein Plan, der Unterstützung in London fand. Gleichzeitig schwebte ihm vor, mit einem neuen Handelsposten die niederländische Vorherrschaft im Handel mit dem malaiischen Archipel zu brechen. Freihandel war der Schlüssel, der zum Wachstum der Hafenstadt führen sollte. Freihandel bedeutete sowohl, dass der Handel im Hafen nicht mit Zöllen beschränkt werden sollte, als auch, dass der Hafen allen Nationen offen stehen sollte.» (51)

Die schon lange in Südostasien ansässigen chinesischen Kaufleute waren als «Mittelspersonen» zwischen Verkäufern und Endverbrauchern für die europäischen Handelshäuser absolut unerlässlich. «Die Gründung Singapurs unterstützte diesen Prozess wesentlich, da sich dort viele chinesische Kaufleute niederließen und ihre Netzwerke im Archipel von dort aus oder dorthin ausweiten und verstärken konnten.» (52)

Boat Quay Singapur 1888, Museum Volkenkunde, Leiden

Der Freihandel florierte bald und die Bevölkerung Singapurs wuchs stark. Zu einem weiteren Entwicklungsschub führten die Dampfschifftechnik und die Eröffnung des Suez-Kanals 1870. Insbesondere Deutsche und Schweizer drängten in den fünf Jahren vor und nach der Eröffnung des Suezkanals auf den Markt (57). Aus Europa wurden hauptsächlich Webstoffe und Textilwaren aus Baumwolle importiert. Mitte des 19. Jahrhunderts waren in Singapur aber Opium, Textilien, Pfeffer und Reis Haupthandelsgüter, um 1875 kam dann Zinn, ab 1910 Gummi dazu. Diese beiden Güter machten 1915 bereits 40% des Handelsvolumens Singapurs aus (57).

Textilexporte aus der Ostschweiz nach Asien, insbesondere aus der Buntweberei im Toggenburg und der Stoffdruckerei in Glarus waren eine Zeit lang sehr erfolgreich. Der Erfolg dieser Industrie beruhte auf handwerklichem Können, billiger Arbeitskraft in der Ostschweiz und einem guten Kommunikations- und Beziehungsnetz, das ein tragfähiges Vertriebssystem zwischen der Schweiz und Südostasien ermöglichte. Dieses Vertriebssystem beruhte wesentlich auf «Schweizer Kolonien», d.h. Handelsniederlassungen in Schweizer Hand oder mit Schweizer Beteiligung. Die dort arbeitenden Schweizer Kaufleute waren häufig Verwandte der Patrons in der Ostschweiz oder Angestellte, die sich zu Beginn ihrer Karriere in den Hafenstädten niederliessen.

Die erfolgreichen Exporte verdrängten die lokale Produktion mehr und mehr. Zangger zitiert aus einem Brief des Winterthurer Kaufmanns Bernhard Rieter aus Manila aus dem Jahre 1843:

«Alle diese Vortheile  [ ... ] helfen dem Indier aber nicht viel, um mit seiner gesamten Kraftanstrengung gegen die alles überwältigende & vertilgende Europäische Industrie anzukämpfen & wenn es mir [ ... ] eben nicht geziemt den Verfechter der indischen Industrie zu machen, so wünschte ich doch, man würde die armen Menschen nicht so mit fremden Waaren überschwemmen & ihnen ruhig ihren Erwerb gönnen. Allein unsere Civilisation wächst ihnen über die Köpfe [ ... ] & muss sie am Ende aus ihrer Arbeit vertreiben[ ... ]. Was wird aus diesen Leuten am Ende werden?» (60).

Dass z.B. Batik aus Glarus so guten Absatz fand, war auf ein genaues Studium der südostasiatischen Märkte, der Analyse der Nachfrage und dem Sammeln von Mustern zurückzuführen.

Musterbuch aus Glarus (Glarner Wirtschaftsarchiv)

Der Handel via Singapur als Freihandelshafen ermöglichte, die Marktkontrolle durch die europäischen Kolonialmächte zu umgehen. Ein Wettbewerbsvorteil der Schweizer Kaufleute war auch ihre «kulturelle Versatiltität», so lernten sie mindestens die auf den Bazaren übliche Umgangssprache und fanden schnell Umgang mit «Käufern aller Rassen des Ostens» (auch wenn die kolonialrassistische Hierarchie dabei immer gewahrt blieb). Zangger zitiert aus einer Beschreibung des Singapurer Kaufmanns Otto Alder, der 1849-1873 Schweizer «Überseer» war:

«Aber noch ein anderer Faktor machte sie schätzenswert, das war die Art ihres Umgangs mit den Käufern aller Rassen des Ostens. Von Hause aus schon gewohnt als Republikaner alten Schlages auch mit in bezug auf Bildung und Rang unter ihnen Stehenden leutselig zu verkehren, begegneten sie den Asiaten in gleicher Weise und erwarben sich deren Sympathie, so dass sie sich als Verkäufer vorzüglich eigneten.» (61)

Zangger schildert das Leben der Schweizer Kaufleute in Singapur, das mit einem relativ hohen Lohn verbunden war, aber gerade für Assistenten auch entbehrungsreich (Heiratsverbot, grosse soziale Kontrolle durch Einbindung in das abgesonderte soziale Leben der Europäer, in die deutschsprachigen Vereine bzw. den Schweizer Club). Ehen mit Einheimischen waren verpönt und hatten lange eine Art soziale Ächtung zur Folge, der «koloniale Rassismus», d.h. das System, das verschiedenen ethnischen Gruppen verschiedene Rollen in der Gesellschaft zuwies, verbot Beziehungen mit Einheimischen zu legalisieren. (129)

Ein interessantes Kapitel handelt vom «Branding»: Handel hatte sich anders als soziale Beziehungen natürlich über ethnische Grenzen hinweg abzuspielen. Doch waren Beziehungen über diese Grenzen hinweg prekär, da sie angesichts des kolonialen Rassismus sozial wenig abgestützt waren. Weil Handel, abgestützt auf persönliches Vertrauen so nicht möglich war und andererseits die Rechtsgrundlagen für unpersönlichen Handel fehlten, wurde der Handel mit Markenprodukten zu eine Zwischenform zwischen dem Handel aufgrund persönlicher Beziehungen und dem unpersönlichen Handel mit Gütern. Brands stiessen auf Interesse in einer Kultur, in der Authentisierung oder Autorisierung eine wichtige Bedeutung hat. Man kann also sagen, dass ,branding‘ als wirtschaftliche Praxis in Singapur als Lösung für ein kulturelles Problem, nämlich den kolonialen Rassismus, diente. (439) Branding setzte sich ausserhalb von Europa als Praxis zur Lösung eines neuen Problems, das im imperialen Kontext aufgetaucht war, durch (440).

Marken von Diethelm Keller (Firmengeschichte)

Teil B Ausländer in der Plantagenkultur Ostsumatras –  Glücksritter, Junker und Technokraten

Teil B beschäftigt sich mit der Plantagenkultur an der Ostküste Sumatras. «Erst wurde hauptsächlich Tabak angebaut, später kamen Kaffee, Rubber, Palmöl und Tee hinzu. Die Europäer organisierten – anders als auf Java – im Sultanat Deli und darüber hinaus den Anbau auf den Plantagen von Beginn an selbst. Es entwickelte sich das weltweit größte koloniale Projekt tropischer Agrikultur. (169)

Die Holländer hatten 1870 das von ihnen kaum kontrollierte relativ kleine Gebiet auch für ausländisches Kapital geöffnet. Zangger wählt den Begriff «Frontier» – im Gegensatz zur «Kontaktzone» in Singapur – um deutlich zu machen, dass die Inbesitznahme von Land durch Europäer als Zivilisationsschritt in der Wildnis angesehen und dabei die bisherige Landnutzung durch Indigene schlicht ausgeblendet wurde. Weil es sich um eine allmähliches Vordringen handelte, blieben eigentliche Kriege aus, aber lange dauernde schwelende Konflikte waren die Regel. Auch gab es (wie in anderen Frontiers in Amerika und Sibirien) nur eine sehr schwach ausgebildete staatliche Autorität bzw. Kolonialverwaltung.(172f.)

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/21/COLLECTIE_TROPENMUSEUM_Jonge_tabaksaanplant_op_helling_Deli_TMnr_10011729.jpg
Junge Tabakplantage kurz nach der Rodung (Tropenmuseum Amsterdam)

Zangger vergleicht die Schweizer (und die anderen Europäer in Sumatra) mit «kolonialen Junkern».

«Im romantischen Selbstverständnis kommt dem individuellem Erleben eine besondere Bedeutung zu, und es zeichnet sich durch rückwärts gewandte Ideen natürlicher, ständischer Ordnung aus. Das romantische Bild des kolonialen Junkerturns, wie ich es nenne, hat zwei Pole. Der eine ist die Idee gesellschaftlicher Ordnung und deutlich abgegrenzter Eliten, wie es in der militärisch und stark hierarchisch geschichteten Gesellschaft Delis besonders deutlich zum Ausdruck kam. Der andere Pol betont den Aspekt der Selbstbehauptung, sowohl ökonomisch als auch moralisch in Form einer bestimmten Idee von Männlichkeit.» (175)

Auf Sumatra herrschte unter den Pflanzern also ein ähnliches Selbstverständnis vor wie in den amerikanischen Südstaaten oder bei den preussischen Junkern.

Haus von Pflanzern „Perséverence“ in Deli, ca. 1870. (Tropenmuseum Amsterdam)

Arbeitskräfte für die Plantagen zu finden war schwierig, die Pflanzer «beschränkten sich bald weitgehend auf chinesische Arbeiter, denn diese galten als fleißig und als empfänglich für Anreizsysteme wie Geld, freie Zeit oder Akkord. Ende der 1870er Jahre übertraf die Zahl der importierten Arbeitskräfte diejenige der malaiischen Bevölkerung. 1900 waren bereits 100.000 Arbeiter aus China und Java an der Ostküste tätig (…)  Der Import von Arbeitskräften nach Sumatra ist damit Teil der globalen Arbeitsmigrationsbewegungen nach der Abschaffung der Sklaverei», sogenanntem «indentured labour»; die Kontraktarbeiter wurden meist «Kulis» genannt.

Chinesische Arbeiter und Aufsichtspersonen (Vorarbeiter) in Deli. (Tropenmuseum Amsterdam)

Misshandlungen, etwa das zu Tode geisseln von Kulis kamen vor, Untersuchungen stiessen meist auf eine Komplizenschaft des Schweigens, die weissen Farmer schwärzten einander nicht an (252).

Auch auf den Plantagen herrschte Frauenmangel, das Zusammenleben mit einheimischen Frauen, das dann nach einer Heirat im Heimaturlaub aufgelöst wurde, war für Unverheiratete die Regel (282)

Die Tabakkultur erlebte zwischen 1880 und 1887 einen Boom, brach nach der Einführung neuer Zölle in den USA aber weitgehend ein, was zum Konkurs sehr vieler Plantagengesellschaften führte. In den 1890er-Jahren setzte dann eine Erholung ein. Schweizer als Besitzer von Tabakplantagen verschwanden aber, viele Pflanzer der ersten Generation wurden durch den Verkauf ihrer zu kleinen Plantagen an grosse holländische Gesellschaften vermögend und kehrten in die Schweiz zurück. Es gab aber für einen neuen Typ «Manager» aus der Schweiz nach wie vor Arbeit und Karrierechancen. Dieser neue Typ zeichnete sich durch buchhalterische Fähigkeiten oder durch Anwendung rationaler Methoden im Landbau aus, er unterschied sich also von den alten prototypischen Pflanzern, die selbständige Unternehmer waren und stolz darauf, sich im «Kampf ums Dasein» bewährt zu haben (221).

«Die Rubber-Kultur auf Sumatra begann 1905 und nahm einen solch rasanten Aufschwung, dass Hevea innerhalb weniger Jahre zur bedeutendsten Plantagenkultur wurde.» Latex spielte als Rohstoff in der zweiten Industrialisierung mit Elektrotechnik (Isoliermaterial für Überseekabel) und dann der aufkommenden Automobilindustrie eine wichtige Rolle. Die Nachfrage übertraf das Angebot, die Preise stiegen. (221)

Die etablierten Kaufleute in Singapur betrachteten die meist jungen Landsleute auf Sumatra mit Skepsis, sprachen von «pflänzerle»:

«lm Ausdruck ,pflänzerlen' verdichtet sich die Skepsis der Kaufleute in doppelter Hinsicht: Es zeigt sich darin nicht nur die Herablassung des städtischen Kaufmanns gegenüber dem bäuerlichen Plantagenuntemehmer mit dem Geruch seiner bäuerlichen Tätigkeit, ,pflänzerlen' riecht auch nach schnellem und vergänglichem Geld, das dem langfristig planenden, vorsichtigen und auf gute Verbindungen zur Schweizer Exportwirtschaft setzenden Kaufmann anrüchig erscheint. Handelshäuser in Singapur waren in die schweizerische Exportwirtschaft eingebunden. Die Karrierewege waren mehr oder weniger transparent.»(263)

Während sich die Kaufleute in Singapur meist aus dem Umfeld der Ostschweizer Textilexportindustrie rekrutierten, war Sumatra attraktiv für junge abenteuerlustige Kaufleute, die in ihrem Beruf keine Karrieremöglichkeiten sahen, aber auch für ein in der Schweiz verschwindendes bürgerliches Milieu, das sich an Wertvorstellungen von adeligen Grossgrundbesitzern orientierte (265)

Bildergebnis für TropenspiegelEinige Pflanzer haben ihre Erfahrungen in Sumatra literarisch umgesetzt, verschiedene mehr oder weniger getreue Tatsachenromane wie «Tropenspiegel», «Mein Mörder auf Sumatra», «Nachtwache» (alle G. Rudolph Baumann», «Unter malayischer Sonne: Reisen, Reliefs, Romane»  (Paul Naef)  und «Die Unverbindlichen» (Alfred Keppler) sind entstanden.

Teil C: Vernetzungen und Verflechtungen – Die Schweiz in Südostasien – Südostasien in der Schweiz

In diesem Teil geht Zangger auf einige Verflechtungen zwischen der Schweiz und Kolonien ein. Er zeigt z.B. auf, wie die Versicherungsbranche über Transportversicherungen für Transporte aus und von Kolonien gross wurde und sich dabei auf die Handelsnetze der Textilimporteure stützen konnte (299). Auch zeichnet er das Verhältnis zwischen Kapitalgebern (in der Schweiz bzw. anderen europäischen Ländern) und den Managern in den Tropen nach. Dies macht er u.a. am Beispiel von Seminardirektor und Naturforscher Heinrich Zollinger, der schon früh im Auftrag der niederländischen Regierung in Java tätig gewesen war und nach seinem Rücktritt als Seminardirektor in Küsnacht eine Plantagengesellschaft für Kokos in Ostjava gründete und weitere Forschungen unternahm (324).

Auch die Verflochtenheit der Familie von Generalstabschef Theophil von Sprecher mit ihren Plantagengesellschaften wird berührt, die Sprechers konnten in Sumatra ihren Ideen von Grossgrundbesitz und militärischer Disziplin verwirklichen (330).

Der Zirkulation von Forschern, Objekten und Wissen ist ein weiteres Kapitel in diesem Teil gewidmet

«Das niederländische Kolonialreich war traditionellerweise durchlässig für Europäer anderer Nationen und rekrutierte viele Schweizer als Soldaten, Chirurgen und später als Wissenschaftler» (351). Die Kooperation mit Forschern in den Kolonien förderte auch die Forschung in der Schweiz, die naturforschenden und die ethnographischen Gesellschaften waren dabei wichtig für Forschung und Verbreitung. Andreas Zangger berichtet unter anderem von Fritz und Paul Sarasin, deren Biographien und Wirken ja dann 2015 von Bernhard C. Schär in «Tropenliebe» sehr detailliert dargestellt worden sind. Die Botanik in der Schweiz stand in regem Austausch mit dem botanischen Garten Buitenzorg in Java, ansonsten waren meistens im Ausland lebende Schweizer aufgerufen, Objekte für Sammlungen von Hochschulen und für Museen zusammenzutragen, da die Schweiz ja im Unterschied zu den Staaten mit Kolonien keine staatlichen Möglichkeiten hatte, in den Tropen Material zu sammeln.

Schlusswort

Villa Patumbah, Zürich. Erbaut mit dem mit einer Tabakplantage in Sumatra erzielten Gewinn. (Wikipedia)

In seinem Schlusswort schreibt Zangger, dass die offizielle Schweiz tatsächlich nur am Rande in den Kolonialisumus involviert war, dass eine Geschichte der Schweiz jedoch über die politischen Institutionen hinausgehe und die Gesellschaft als Ganzes betreffe. «Unter den Eliten in der Schweiz bestand offenbar ein Konsens, dass der Anschluss an Gebiete in Übersee, über die Exportwirtschaft und zivilgesellschaftliche Institutionen organisiert werde.» (433). Die Schweizer befanden sich im wirtschatlichen Verhältnis zu den Kolonialisatoren in einer Aussenseiterposition, da die profitabelsten Unternehmungen meist in den Händen der imperialen Mächte waren, sie also Nischen finden mussten.

Gesellschaftlich gehörten die Schweizer aber zur weissen kolonialen Oberschicht und rechtlich nutzten sie die Privilegien von Europäern in den Kolonien (435). Sie förderten so als Pflanzer an den Siedlungsrändern z.B. die Ausbreitung des faktischen Kolonialgebietes und unterstützten die Kontraktarbeit.

«Das System zeigt bis heute Nachwirkungen auf die Ökologie der Region, die Landnutzung und die ethnische Zusammensetzung der Gesellschaft, alles Ursachen von sozialen Spannungen.» (436)

Die im Ausland lebenden Schweizer übernahmen und reproduzierten koloniale Denkmuster.

«Dies beinhaltet unter anderem ein elitäres Selbstverständnis, soziale Abgrenzung gegenüber Asiaten in rassistischen Denkmustern sowie die Legitimation europäischer Expansion durch die Gegenüberstellung von Tradition und Modeme bzw. Natur und Zivilisation.» (436)

Zusammenfassend schreibt Zangger, dass «die Schweiz als Staat nicht imperialistisch auftrat, dass jedoch zahlreiche Institutionen der schweizerischen Gesellschaft mit der Ausgestaltung des Kolonialismus sehr wohl in vielen verschiedenen Facetten zu tun hatten.» (436)

«Zusammenfassend können also wesentliche Merkmale helvetischen Selbstverständnisses -  die Aufgabenteilung von Wirtschaft und Politik, die Bedeutung des Bildungsstandorts und die Verpflichtung zu kultureller Versatilität als Reaktionen auf die imperialen Strategien der Großmächte gelesen werden.  Es ist die Antwort eines relativ kleinen, bürgerlichen Landes ohne Kolonien auf das Verhältnis Europas zur Welt. Sie wirkt bis heute nach.» (442)

0 Die Seitenzahlen beziehen sich auf die 2011 bei transcript erschienene Fassung (gedruckte Version und e-Book)
1 Mann, Michael (2006). Globalization, Macra-Regions and Nation-States. In: G. Budde u. S. Conrad (Eds.). Transnationale Geschichte Themen, Tendenzen und Theorien, 21-31.
2 Conrad, S. (2006). Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, 11
3 Randeria, Shalini u. Sebastian Conrad (2002). Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: dies. (Eds.) (2002), 17

Sound History

Die 9. Infoclio.ch-Tagung am 24. November 2017 fand unter dem Titel «Soundhistory und Tondokumente» statt. Die Tagung fragte nach der Bedeutung des Sounds in der Geschichte und danach, was Archive mit ihren akustischen Beständen tun, welche Chancen die digitalen Technologien für die Speicherung und Vermittlung von Tonaufzeichnungen bieten.

Im Eröffnungsvortrag referierte Jan-Friedrich Missfelder (Universität Zürich zu «Wie es eigentlich geklungen? Gegenstand und Methode der Sound History») Missfelder hat zu diesem Thema geforscht unter anderem im Projekt «Die verklungene Stadt. Eine Klanggeschichte Zürichs in der Sattelzeit (1750–1850)» (vgl. Artikel in academia.edu).

Die Beschäftigung mit Klängen war oft ein schmales Feld; von einer eigentlichen Geschichte von Sound kann nicht gesprochen werden. Missfelder verweist auf die Sinnesgeschichte (vgl. Sammelrezension in HSozKult). Häufig wird darauf hingewiesen, dass zwischen Vormoderne und Moderne ein Bruch stattgefunden hat, weil in der Moderne mit ihrem Fokus auf Rationalität die Sinne weniger gewichtet wurden bzw. das Sehen «Leitsinn» wurde. Missfelder schreibt anderswo von einer komplexen sinnesgeschichtlichen Modernisierungstheorie:

«die great divide [1] zwischen einer auditiven Vormoderne und der modernen Visualität und die Verarmung eines tendenziell synästhetischen Weltverhältnisses zur modernen Mono- Sinnlichkeit.»

Sinnesgeschichte hat dazu geführt, dass sinnliche Wahrnehmung «ent-selbstverständlicht» wurde.

Missfelder beschreibt die Entwicklung der Sound History mit einigen wegeweisenden Werken:

Das Buch «Die Sprache der Glocken» («Les cloches de la terre»2) von Alain Corbin ist bis heute wegweisende Referenz der klanghistorischen Forschung. Corbin beschreibt die allmähliche Veränderung der klanglichen Umwelt im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts und erweitert diese Veränderungen zu einer Sozialgeschichte der sinnhaften Gewohnheiten. Oder wie die FAZ beim Erscheinen des Buches schrieb: «Niemand hat den Zusammenhang von kollektiven Sensibilitäten, politischer und sozialer Geschichte schärfer erfaßt als Alain Corbin: von den Freudenmädchen über die Gerüche, die Kleider und das Vergnügen am Meer. Mit der «Sprache der Glocken» hat Corbin der Geschichte ihre fünf Sinne zurückgegeben.» (Rezension FAZ)

Ein nächstes wichtiges Buch ist «Listening to Nineteenth Century America»3 von Mark M. Smith. Im Project Muse rezensiert Kathy M. Newman das Buch folgendermassen:

«On New Year’s Day, at the close of the Civil War, a Florida plantation mistress named Susan Bradford Eppes waited in bed for the familiar sound of the bell that would call her to breakfast. But no bell sounded. Why? The slaves who usually rang the morning bell had fled, “stealing away in the night” and leaving the white folks “all alone”» (242).
(…) Mark M.Smith argues that historians have paid scant attention to the role that soundscapes played in helping elites define what it meant to be “Northern” and “Southern,” “slave” and “free.” He argues that these soundscapes had a powerful material dimension – that the soundscape of the North was rooted in industrial capitalism, and that the soundscape of the South was rooted in the control of slave labor.
Smith insists that historians pay more attention to sound. He recognizes the difficulty of such an endeavor given that there are no extant sound recordings from the early-to-mid 19th century. Smith is thus left to examine the ways in the which 19th century elites wrote about sound, and, in essence used sound as a metaphor. Northern elites drew on the trope of the groaning slave to exact sympathy from their audiences; in a similar way Southern elites painted a sound portrait of the North as noisy, industrial and dangerous.» (Rezension)

Ähnlich wie die Geschlechtergeschichte kann nach Smith auch die Klanggeschichte einen «Habit» darstellen, der die Geschichte neu konzeptualisiert. Missfelder:

«Sinnesgeschichte erscheint so nicht als eine weitere „Bindestrich-Geschichte“ (Ute Daniel) (…) sondern als ein neuer „habit“ der Analyse jeglichen Gebietes der Geschichte in jeglichem Quellenmedium: „an embedded way of remaining vigilant about and sensitive to the full sensory texture of the past“. (....) Sinnesgeschichte hat in diesem Sinne keinen prinzipiell abgegrenzten Gegenstand, sondern stellt eine Art und Weise dar, das Ganze der Geschichte neu, von der sinnlichen Konstituierung der Wirklichkeit her zu fassen. Ebenso entspricht einer Sinnesgeschichte als „habit“ keine privilegierte Quellengattung. Es gilt vielmehr, das gesamte Spektrum historischen Materials auf die Thematisierung von Sinnen und sinnlicher Wahrnehmung hin neu zu lesen.» (Missfelder 20124, S. 28)

Als nächstes wegweisendes Projekt ist das «World Soundscape Project» von R. Murray Schafer zu nennen. (Vgl. auch Schafer 201111)

Bild: The WSP group at SFU, 1973; left to right: R. M. Schafer, Bruce Davis, Peter Huse, Barry Truax, Howard Broomfield (World Soundscape Project)

Nach Soundscapes in Vancouver und dann ganz Kanada wurden auch die Klanglandschaften in fünf Dörfern in Schweden, Deutschland, Italien, Frankreich und Schottland untersucht. Die British Library hat in ihrem «Sound and Vision Blog» Auszüge daraus online veröffentlicht.

Während das Projekt auch als Versuch zur Rettung traditioneller Formen des Klanges gesehen wurde, interessierte sich die wissenschaftliche Rezension eher für systematische Aspekte. Das kann anhand einer erfolgreichen Werbekampagne für das Engadiner Dorf Tschlin gut illustriert werden:

«Der kanadische Komponist und Pionier der soundstudies Raymond Murray Schafer hat für vorindustrielle und vorurbanisierte Klangumwelten den Begriff des „hi-fi soundscapes" geprägt. (…) Solche high-fidelity Umgebungszeichen zeichnen sich gegenüber modernen lo-fi soundscapes durch einen ausgesprochen großen Signal-Rausch-Abstand aus, also durch eine akustische Situation, in der auch relativ leise bedeutungstragende Signale vor dem Hintergrund eines vergleichsweise geringen Hintergrundrauschens vernommen, dekodiert und in akustische Praktiken umgesetzt werden können.» (Missfelder 2015, S. 451)5

Genau das ist in Tschlin der Fall. Es erscheint als ideale Soundscape mit einer ausgesprochen «favorable signal-to-sound-ratio».

Die Geschichte von maschinellem Lärm (Lärm definiert als unerwünschter Klang) wurde von Karin Bijsterveld in ihrem Buch «Mechanical Sound» thematisiert.

«This book explains how we ended up like this. It focuses on four crucial episodes in the Western history of noise between the late nineteenth and the late twentieth century: public discussions of industrial noise, of city traffic noise, of neighborly noise of gramophones and radios, and of aircraft noise. A fifth chapter highlights the celebration of noise in the avant-garde music of the interwar period, and thus serves as a counterpoint to the other chapters. It both illustrates how such reverence embodied the positive connotations of mechanical sound that antinoise activists had to cope with, and shows how the introduction of machines in music re-enacted the issue of who was to control sound. The remaining chapters explore the decades immediately succeeding the rise of the public debate over the roar of new, or recently ubiquitous, machines. » (Blijsterveld 2008, S. 4)6

Ein weiteres grundlegendes Werk, das nach 30 Jahren erneut aufgelegt wurde «Sound and Sentiment» von Steven Feld7 (Website) thematisiert die auditive Kultur und weist Berührungspunkte zu anthropologisch ausgerichteten Forschungen auf.

Steven Feld begründet hier das Konzept der Akustemologie (zusammengesetzt aus Akustik und Epistemologie) als eine Art lokal erworbene, kollektiv geteilte akustische Weltanschauung: so wie Orte stets sinnlich wahrgenommen würden, sei auch die sinnliche Wahrnehmung stets «verortet».

«Unter dem Stichwort Akustemologie möchte ich (…) die besondere Bedeutung des Hörens als eigene Modalität von Wissen und In- Welt-Sein untersuchen. Klänge und Geräusch gehen von Körpern aus und dringen in sie ein; diese Reziprozität (…) sorgt dafür, dass sich Körper – anhand ihres akustischen Potentials – auf bestimmte Orte und Zeiten ʻeinstimmenʼ. Sowohl das Hören als auch das Lautgeben sind jeweils ʻverkörperteʼ Fähigkeiten, sie situieren einzelne Akteur_innen und ihre Handlungsweisen in bestimmten historischen Welten. (Feld, S. 462, zitiert in Arantes u. Rieger 20158)

Missfelder präsentiert dann eine Arbeitsdefinition von Sound history:

Sound history erforscht

- Klangpraktiken,

- die historsiche Soundscapes produzieren,

- Diskursivierungen von Klangerfahrungen,

- die auf kulturell geteilten Akustemologien beruhen

Die moderne Stadt ist auch ein Klangort, der über Klangpraktiken ausgehandelt wird. Sound history ist deshalb immer auch Politikgeschichte.

Eingang in die historische Forschung finden Klänge, wenn sich diskursive Anschlussstellen ergeben. Eine Herausforderung ist der historische Umgang mit Quellen, die nicht überliefert sind, d.h. die man nicht mehr nachhören kann.

Schall wird erst als gehörter und reflektierter Schall zu einem historischen Phänomen. Einfach wissen zu wollen, wie es denn geklungen hat, ist keine historische Fragestellung und läuft die Gefahr, einfach eine Evidenz produzieren zu wollen.

Quellenkritik ist aber auch in der Klanggeschichte zentral. Wer einer «Tonkonserve» lauscht, lauscht immer mehr als nur einem Klang.

Historisches Hören ist immer doppelt:

- Hören nach dem Sound der Geschichte und

- Hören nach der Geschichte des Sounds

Jonathan Sterne hat es in einem weiteren wegweisenden Werk (The Audible Past)9 so formuliert: «Sound-reproduction technologies are artifacts of vast transformations in the fundamental nature of sound, the human ear, the faculty of hearing, and practices of listening that occurred over the long nineteenth century. Capitalism, rationalism, science, colonialism, and a host of other factors — the “maelstrom” of modernity, to use Marshall Berman’s phrase — all affected constructs and practices of sound, hearing, and listening. Sterne 2003, S. 3)

Geschichte in den Sounds muss immer kontextualisiert werden. Beim Historisieren von Klang muss man sich vor der Annahme hüten, vergangene Hörerfahrungen seien jetzt tel quel hörbar. Der Kontext heute ist ein völlig anderer, auch wenn man die Kanone von Napoleon heute zum Klingen bringen kann, ist dieser Klang völlig anders verknüpft als während der napoleonischen Kriege.

Ich schliesse für mich daraus, dass Geschichte also auch in der «Sound History» ihren Konstruktcharakter behält. Auch Fragen an und über Klänge werden retro-perspektivisch gestellt, also immer von der Gegenwart des Fragenden aus – somit notwendig im Nachhinein und zwingend perspektivisch. (Schreiber u.a., 25)10

1 Smith Mark M. 2007. Sensing the Past. Hearing, Smelling, Tasting, and Touching in History, Berkeley: University of California Press, bes. S. 8 –13.
2 Corbin, Alain. 1995. Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Aus dem Französischen von Holger Fliessbach. Frankfurt am Main: S. Fischer.
3 Smith, Mark M. 2001.Listening to Nineteenth-Century America. Chapel Hill: The University of North Carolina Press.
4 Missfelder, Jan-Friedrich. Period Ear. 2012. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft 38. S. 21 – 47
5 Missfelder, Jan-Friedrich. 2015. Der Krach von nebenan. Klangräume und akustische Praktiken in Zürich um 1800. In: Arndt Brendecke. (Hg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln: Böhlau, S. 447-457.
6 Blijsterveld, Karin. 2008. Mechanical Sound. Technology, Culture and Public Problems of Noise in the Twentieth Century. Boston : Massachusetts Institute of Technology.
7 Feld, Steven. Sound and Sentiment. 2012 (1. Aufl. 1982) Birds, Weeping, Poetics, and Song in Kaluli Expression. Durham: Duke University Press.
8 Arantes Lydia Maria Arantes und Elisa Rieger. 2015. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen. Bielefeld: Transcript.
9 Sterne, Jonathan. 2003. The Audible Past. Cultural Orignis of Sound Reproduction. Durham : Duke University Press.
10 Schreiber, Waltraud et al. 2007. Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell. In: Körber, Andras, Waltraud Schreiber und Alexander Schöner: Kompetenzen Historischen Denkens, Neuried: ars una.
11 Schafer R. Murray. 2010, Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Übersetzt und neu herausgegeben. von Sabine Breitsameter, Mainz: Schott.