Verfassungstag in Tokio

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1980 habe ich Nae in Tokio kennengelernt, vor zwei Jahren habe ich sie nach 30 Jahren hier wieder besucht und wir konnten schnell an die alte Vertrautheit anknüpfen. Heute treffen wir uns auf dem Perron des Bahnknotenpunktes Shinjuku in Tokio, um den alten Park Shinjuku-Gyoen zu besuchen und dann ein spätes, ausgezeichnetes Mittagessen in einem Restaurant mit 20 Plätzen in einem Keller in Shinjuku zu geniessen.
Nae gibt mir einen Einblick in die japanische Gesellschaft im Grossen wie im Kleinen.

  • Sie hat sich eine kleine Wohnung gekauft. Eigentlich hätte sie lieber eine gemietet, aber das sei in unserem Alter zu riskant. Die Vermieter kündigen oft Leuten, die alt werden – aus Angst, sie könnten in der Wohnung sterben. Ein Todesfall in einer Wohnung erschwere es erheblich, die Wohnung wieder vermieten zu können. Sie erzählt mir ein Beispiel aus ihrer Umgebung, in dem der Vermieter von den Erben einen hohen Betrag Schadenersatz gefordert und bekommen hat, weil der Verwandte in der Mietwohnung gestorben ist.
  • Heute ist ein nationaler Feiertag, der „Verfassungstag“, entsprechend viele Leute sind im Park am picknicken. Allerdings mag man die Verfassung nicht mehr recht feiern, es ist viel die Rede davon, dass die Regierung die Nachkriegsverfassung ändern will, sobald sie über eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern verfügt. Namentlich soll der Artikel, der Japan jede Militarisierung verbietet, gestrichen werden (vgl. die Zeit).
  • Überhaupt sind in den letzten zwei Jahren die Hoffnungen verblasst, die viele in Japan hatten, als die das Land sehr lange beherrschende Liberaldemokratische Partei LDP abgewählt wurde. Auch Fukushima hatte die Hoffnungen nochmals verstärkt, das alte, die immer Gleichen protegierende System zu überwinden, das letztlich den Atomumfall wesentlichst mitverschuldet hatte. Heute sitzt die LDP mit Abe aber fester im Sattel als zuvor, sicher tragen auch die Abstiegsängste Japans (vgl. UZH) dazu bei, dass man wieder auf „sichere Werte“ und Wirtschaftswachstum setzt.
  • Auch das Bildungssystem ist wieder konservativer geworden, die Regierung mischt sich heute mehr in die Lehrpläne ein als früher. Es soll wieder mehr und mit einer höheren Stundenzahl gepaukt werden und nationale Erziehung ist stärker im Lehrplan verankert worden.
  • Davon, dass der Gender Gap, der in Japan riesig ist, aus ökonomischen Gründen kleiner werden soll, merkt Nae nichts (vgl. Harvard Business Review).
  • Dass Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit gestiegen sind (vgl. NZZ) ist ja leider nicht nur in Japan so, ich kann davon auch Geschichten erzählen.

Eine ganz andere Seite sehe ich dann, als ich am Abend durch Akihabara spaziere, das Zentrum von Computern, Games und Anime (d.h. Manga usw.). Hier wird – reichlich sexualisiert – Tag und Nacht in riesigen, z.T. rauchigen Hallen elektronisch gespielt, geshoppt, gecastet. In den Spielzentren herrscht ein ohrenbetäubender Lärm, viele Spielerinnen und Spieler hauen auch auf Trommeln und anderen Instrumenten herum, andere spielen riesige Videogames. Halbwüchsige Jungs und Mädels decken sich mit Bunny- und Schuluniformen, die offenbar als sexy gelten, ein und kichern ein bisschen dazu, ganze Warenhäuser verkaufen Mangas, Anime-DVDs und Spiele. Tag und Nacht scheint es nicht zu geben. Es ist immer laut, immer hell, immer virtuell. Ein Segment der Jugend scheint hier, wie die NZZ vor einiger Zeit schrieb, tatsächlich ohne Zukunft glücklich zu sein.
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