Der Novosibirsker Morgen ist grau in grau. Lisa macht Blinis, erzählt von der Ukraine, aus der sie kommt und wo Bruder und Eltern noch leben. Ausser Galizien, das früher zu Österreich-Ungarn gehörte, habe das Land praktisch die gleiche Kultur und Sprache wie Russland. Da gebe es keine Unterschiede. Was sich abspiele, sei ein Machtkampf der Eliten. Als Julia Timoschenko inhaftiert wurde, habe ihr das damals Leid getan, aber falls Julia die Wahlen gewonnen hätte, hätte sie einfach die Gegenseite unter Arrest gesetzt. Mit den Einwohnern des Landes habe dieser Konflikt herzlich wenig zu tun. Die hätten wirtschaftliche Probleme, weil diejenigen, die gerade am Ruder seien, ohnehin nur für sich schauten.
Dann balanciere ich zwischen Eisfeldern, Matsch und riesigen Dreckpfützen ins Zentrum. Wer etwas gebrechlich ist, kann sich hier im öffentlichen Raum nicht bewegen, auch wegen der vielen Treppen, hart schliessenden Türen zu den Metrostationen, wegen ihrer Höhe nicht überwindbaren Einstiege in die Eisenbahnwagen.
Die Museen öffnen erst um elf, vorher lese ich in einem der vielen – und teuren – Kaffees mit WiFi über das Bildungssystem – so ganz den Durchblick habe ich noch nicht.
Das Kunstmuseum ist gut bestückt mit russischen Gemälden, von Ikonen bis in die heutige Zeit. Es gibt viele Parallelen zu den westeuropäisch-amerikanischen Epochen und auch Zeitabschnitte mit kulturraumspezifischen Stilen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind auch historisch interessant.
Roerich ist wieder gut vertreten, er sei ein rechter Gauner gewesen, meint Lisa und erst noch Vegetarier.
Die verschiedenen Kulturabteilungen der Botschaften unterstützen ebenfalls Ausstellungen. Im Moment finanziert Israel eine Ausstellung mit Grafiken des Holocaust-Überlebenden und durch den Film „Schindlers Liste“ bekannt gewordenen Joseph Baum (Nachruf im Guardian). Österreich bringt eine Ausstellung über die Malerin Hermine Kracher, die den Seewinkel im Grenzgebiet zwischen Oesterreich und Ungarn malt, eigentlich die erste zentralasiatische Steppe.
Am späteren Nachmittag hellt es etwas auf, das Lenindenkmal vor dem Wahrzeichen der Stadt, dem staatlichen Theater für Oper und Ballett sieht freundlicher aus. Ich besuche den Zentralmarkt, unzählige Händler verkaufen hier an fest installierten Ständen und in kleinen Butiken alles. Die sehr vielen Fruchtstände und Stände mit getrockneten Früchten geben dem Markt eine sehr farbige Note.
In der Nähe liegt auch die Dreifaltigkeitskirche.
Am frühen Abend gehe ich ins staatliche Theater für Oper und Ballett, um dieses grösste Theater Russlands, auf das alle stolz sind, auch von innen zu sehen. Das Theater wurde knapp vor dem zweiten Weltkrieg gebaut, es diente zunächst der Aufbewahrung all der aus Moskau evakuierten Kulturgüter und wurde als Theater deshalb erst 1945 eröffnet: Junona und Avos, eine Art Rockballett aus den frühen 1980-er Jahren: ein russischer Hochseekapitän, der in Kalifornien 35 Jahre lang eine Geliebte sitzen lässt, bis sie schliesslich Nonne wird. Eine eindrucksvolle Choreographie mit viel Kerzen und Farben, soweit ich das beurteilen kann auch gut getanzt. Die Zuschauer, auch die vielen Schülerinnen und Schüler haben sich alle schön angezogen und freuen sich, im Theater zu sein.
Bevor das Taxi mich abholt, sitze ich nochmals mit Lisa und Ivan zusammen. Ivan hat meinen Blogeintrag über das Bildungssystem gelesen, wo ich auch eine Bemerkung über die Gefahr von korruptionsnahen Praktiken bei Wiederholungsprüfungen gemacht habe. Ich habe mich dabei an einen Beitrag in den von der Uni Bremen publizierten Russlandanalysen (PDF) erinnert, den ich heute Morgen im Kaffee runtergeladen habe. Ivan betont, dass er während seiner ganzen Zeit als Student nie so etwas erlebt und auch nie davon gehört habe. An den Unis, die er kenne, komme das nicht vor. Es sei ein Problem, dass durch solche Berichte russische Studienabschlüsse im Westen abgewertet würden. In Unternehmerforen im Internet würde z.B. vor Doppelabschlüssen gewarnt, obwohl ein Doppelabschluss für Studierende eine enorme Anforderung bedeute. Lisa meint, sie möchte nicht zurück ins sowjetische System, aber damals sei es eindeutig gewesen, dass nur die leistungsmässig sehr guten Schülerinnen und Schüler einen Studienplatz bekommen hätten. Unterdessen sei der Studienzugang ja auch mit weniger guten Leistungen und dem Bezahlen von Studiengebühren möglich. Einige solche Studierenden hätten dann z.B. null Interesse, eine Fremdsprache zu lernen, wie es das Curriculum für die ersten beiden Studienjahre vorsehe. Ihr habe auch darum – und wegen der ganzen Bürokratie (kommt mir irgendwie bekannt vor…) – das Unterrichten an der Uni keinen Spass mehr gemacht. Ein Problem ist sicher die sehr hohe Studienquote (die beiden schätzen etwa 80% eines Jahrgangs). Ein duales Berufsbildungssystem kennt man wenig. Ausnahmen sind längere Praktika während der Masterphase oder die „Mittelhochschulen“, die auch mit praktischer Arbeit gekoppelt sind.
Aber Ivan hat sicher Recht. Ich nehme mir vor, vorsichtiger zu sein mit solchen Aussagen. Pauschalisierungen, die man (d.h. auch ich) halt gerne vornimmt, um sich in einem unbekannten System zurecht zu finden, führen auf Abwege und können diskreditierende Wirkungen haben.
Kurz nach 22 Uhr klingelt der Fahrer und bringt mich zum Bahnhof. Zug 12, Wagen 7, Liege 13. Zwei Nächte wird die Fahrt nach Irkutsk dauern. Ich tausche Lisas Stube nicht so gern gegen meinen Nachtzug.
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Tauwetter
Manchmal staune ich, dass ich jetzt diese Reise mache. Als Jugendlicher hatte ich eine grosse Weltkarte über meinem Bett hängen. Oft verfolgte ich darauf die Route von Europa in den Fernen Osten. Novosibirsk, das lag etwa in der Mitte – ich sehe es noch vor mir auf der Karte. 1979 verunmöglichte mir die sowjetische Invasion in Afghanistan dann, auf dem Landweg nach Asien zu reisen und ich flog direkt nach Indien. Und jetzt bin ich wirklich hier, Novosibirsk, es nennt sich auch das Zentrum Asiens. Schön. Ein Privileg. Und irgendwie unwirklich.
Die „wegelose Zeit“ nannte man das Tauwetter in Sibirien. Wenn all die Naturwege zu Matsch werden, das Eis auf den Seen nicht mehr überquert werden kann, dann kommt man kaum noch von einem Ort zum anderen. Aber auch in der Grossstadt herrscht ein grosser Matsch und Dreck. Die Leute balancieren zwischen riesigen Pfützen, Eisflächen und Dreck.
Ich besuche das Museum der Transsibirischen Eisenbahn. Der Mann an der Eingangstür, dessen einziges Fremdwort das deutsche „Ausweis!“ ist, lässt es meinetwegen extra öffnen, auch wenn ich lediglich eine Passkopie dabei habe und er mir meine Erklärung, der Pass sei im „Hotel Lisa“ nicht wirklich abnimmt. Aber – die Rolle ist für mich neu – die komischen Vögel kurz vor dem Rentenalter halten zusammen und lachen miteinander, als die Angestellte das Museum aufschliesst. Einige interessante Ausstellungsstücke vom früheren Transport mit dem Schlitten über Brückenbau bis zu den verschiedenen Uniformen, die das Bahnpersonal trug.
Am Nachmittag komme ich am Roerich-Zentrum (Website, russisch) vorbei. Nicolas Roerich (Wikipedia), sein Frau Helena (do.) und ihre beiden Söhne (do.) kannte ich nicht. Mir scheint, ihm gelingt in seinen Bildern eine Synthese der hier aneinander grenzenden Kulturen aus dem Zentralasien, dem Himalaya, Indien und Russland. Ob das auch für den philosophischen Unterbau gilt, kann ich schwer beurteilen. Die Familie hat durch diese Weltgegend mehrjährige Expeditionen unternommen. Auch in diesem Museum bin ich der einzige Besucher, ein Mitarbeiter nimmt sich zwei Stunden Zeit, um mir alles zu zeigen.
Am Abend nehmen mich die ältere Tochter Lisas, Aleksandra und Ivan mit zu einem Konzert mit keltischer Musik in einem verrauchten Klub. Die jüngere Tochter spielt Dudelsack und die verschiedensten Flöten. Etwa vier Gruppen, die Formationen wechseln ständig, spielen vom Irischen Folk bis zu ziemlich hartem Irischen Rock ein sehr gutes Programm. Viel Spielfreude und sehr hohes Niveau, man vergisst völlig, dass wir in Novosibirsk und nicht in Skibereen oder Dublin sind.