Kitai Gorod, moderne Kunst, Skischanze

Am Morgen spaziere ich durch Kitai Gorod, ein Viertel mit vielen kleinen Geschäften. So etwas zwischen Oerlikon und Langstrasse. 20140316-222705.jpg Dabei finde ich auch finde ich eine grosse und sehr gut bestückte Buchhandlung. Das Sortiment scheint grösser zu sein als z.B. bei Orell Füssli. 20140316-222832.jpg Nach den Museen gestern möchte ich noch eine Ausstellung mit heutiger Kunst sehen und fahre zu einem Gebäude des Museums of Modern Art. Es zeigt zwei temporäre Ausstellungen. Die erste zum Thema Zirkus und seiner Ausstrahlung auf die Malerei. Filmausschnitte vom Moskauer Nationalzirkus rufen – wie ab und zu auf dieser Reise – Kindheitserinnerungen hervor. Ich erinnere mich, einige dieser Ausschnitte – Raubtiernummern, Pferde, Akrobatik, Pinguine die mit einer Eisenbahn angefahren kommen – schon mal gesehen zu haben, sei es im Circus Knie, sei es in den Weihnachtstagen am Fernsehen, als jeweils das Zirkusfestival aus Monte Carlo übertragen wurde. Interessant auch, wie da all die Sowjetoffiziere mit ihren Frauen sitzen und die Nummern teils frenetisch bejubeln. 20140316-222951.jpgDie zweite Ausstellung ist dem Architekten Shumakov gewidmet, Jahrgang 1954. Er hat in Moskau sehr viele Infrastrukturbauten (Brücken, Metrostationen usw.) gebaut. Fotografien davon wurden auch auf Instagram gesammelt (#shumakov). Hier stellt er aber vor allem Porträts von Familie und Freunden aus. Er sieht sich selbst als Melancholiker und Sanguiniker und hat deshalb die Porträts auch nach dieser Typenlehre gegliedert. Eigen.
20140316-223047.jpg Shumakov hat auch die Metrostation bei der Skischanze gebaut. Ich erinnere mich an die schöne Aussicht von dort und fahre hin. Ende der Saison, aber Ski- und Sessellift sind noch in Betrieb, bis die Paralympics in Sotschi vorbei sind, möchte man das Wintergefühl noch aufrechterhalten. Ich spaziere über die etwas sumpfigen Waldwege zur Aussichtsterrasse. Die neuen Hochhäuser könnten in einer Metropole irgendwo auf der Welt stehen.
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Nach einem Abendessen im GUM Fahrt zum Kasaner Bahnhof. (Warum kommen diese organisierten Transfers häufig so massiv verspätet? Meine Nerven werden auf die Probe gestellt.) 22:48 Abfahrt nach Taschkent. Ein usbekischer Wagen mit usbekischem Personal, zwei Männern, die mich mit imposanten Pelzmützen und dicken blauen Uniformmänteln freundschaftlich begrüssen (und die sich, sobald der Zug fährt, einiges bequemer kleiden werden). Ein Mitpassagier kommt noch in das Viererabteil. Der Abschied von seiner Frau oder Freundin fällt ihm schwer, wahrscheinlich für länger – er hat sehr viel Gepäck. Es gibt sehr viele Arbeiter aus Zentralasien in Russland. Das von ihnen nach Hause geschickte Geld ist wichtig für die Volkswirtschaften der „-stan“-Staaten. In Russland werden diese Menschen aber nicht gemocht, viele müssen zu Niedriglöhnen arbeiten und unter primitiven Umständen wohnen. Fremdenfeindlichkeit, gemischt mit nationalistischem Gedankengut und Angst vor „Terroristen“ schwappen ihnen entgegen. Wirtschaftliche und soziale Unsicherheit und die Suche nach neuen Werten haben auch bei vielen Russinnen und Russen einer unguten Abwehr des und der „Fremden“ den Weg bereitet. „My friend“, wie wir uns gegenseitig nennen zeigt, wie das Bett anzuziehen ist und dass ich sicherheitshalber auf den Wertsachen schlafen solle und legt sich dann aufs Ohr.

Assyrer, Impressionisten und Kosmonauten

20140312-222706.jpgKalt ist es heute Morgen, ich hätte Handschuhe mitnehmen sollen. Mein Morgenspaziergang führt durchs Theaterquartier. Moskau hat eine beeindruckende Fülle von Theatern, die in Rokoko-, Klassizismus-, Jugendstilhäusern untergebracht sind. An den verschiedenen Häusern sind Plaketten mit QR-Codes angebracht, so dass man jeweils nachlesen könnte, was es mit dem Gebäude auf sich hat. Weil ich nicht Russisch kann und mir die Roaming-Kosten nicht leisten will, verschiebe ich das Nachschauen auf später, wenn ich WiFi habe, verschiebe.
Die Schülerinnen und Schüler, denen ich begegne,, sind nicht schwarz und weiss gekleidet, wie wir das in Mordwinien gesehen haben, sondern mit Navyboots, Designerklamotten und iPads ausgerüstet. Sie werden wohl in Privatschulen gehen (vgl. WoZ).
Während ich eine Schokolade trinke, hellt es auf, die Sonne spiegelt sich in den Kuppeln der Kreml-Kirchen.
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In den Puschkin-Kunstmuseen finden sich grossartige Werke aller Zeitepochen, von den Assyrern bis zu Picasso.20140312-225531.jpg
Leider fehlt alles Russische, das ist in den beiden Tretyakow-Gallerien ausgestellt. Eigentlich schade, es gibt so viele Parallelen, eine Gegenüberstellung der sich ja überschneidenden Kulturräume in den verschiedenen Zeitepochen wäre interessant. Noch mehr Kunst kann ich aber heute nicht mehr aufnehmen. Dafür will ich den Kosmonautinnen und Kosmonauten meine Aufwartung machen. Zwar haben wir während des kalten Krieges stärker mit Glenn, Cooper und Armstrong gefiebert, aber Gagarin war uns immer auch sympathisch, der erste Mensch im All. Er wäre letzte Woche 80 geworden. Das häufig kaum auszuhaltende, weil so Kreml-nahe RT (früher „Russia Today“) brachte eine interessante Reportage darüber.
20140312-231052.jpgDie Architektur des Kosmonautendenkmals ist so eine Mischung aus Forchdenkmal und dem Pavillon „Wehrhafte Schweiz“ an der Expo 64. Trotzdem eindrücklich. Das Museum ist aber interessant. Die verschiedenen Raumflüge sind gut dokumentiert, auch die gemeinsamen mit den USA ab 1975, u.a. sind die verschiedenen Kapseln, von Wostok bis Sojus und die Raumstation Mir ausgestellt.
Man hat sich schon viel Hoffnung auf Fortschritt und Frieden gemacht mit all diesen Missionen. Aber wirklich weitergekommen ist die Menschheit damit doch nicht. 20140312-231933.jpg
Beim anschliessenden Spaziergang durch den Park denke ich, dass der Westen die Entwicklung in Russland völlig falsch eingeschätzt hat. Auch wenn russische Jugendliche zu amerikanischer Pop-Musik Selfies vor dem Lenin-Denkmal machen, heisst das noch lange nicht, dass Russland jetzt gleich denkt. Es scheint noch ein weiter Weg zum gegenseitigen Verständnis zu sein, im Moment sogar ein so weiter, wie schon lange nicht mehr.
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Sergijew Possad

20140311-215507.jpgDas Wetter heute früh ist nicht mehr so strahlend wie gestern, aber gut genug für einen längeren Ausflug. Die Klosteranlage in Sergijew Possad (in Sowjetzeiten hiess sie Sagorsk) wollte ich schon bei den letzten beiden Besuchen ansehen, es hat aber zeitlich nie gereicht.
Mit der Vorortsbahn fahre ich vom Jaroslawl-Bahnhof nach Sergijew Possad.
Erstaunlich schnell lässt die Elektritschka Moskau hinter sich. Birkenwälder, kleine Holzhäuser, die ärmlicheren mit Wellblechdächern, Vorgärten, dazwischen Wohnblöcke, Sprayereien. Der Schnee ist am Schmelzen.
Fliegende Verkäuferinnen bieten in den Bahnwagen ihre Waren an: Kugelschreiber, Fensterputzmittel, Klebestreifen.
20140311-215816.jpgIn der Strukturgeschichte Russlands von Carsten Goehrke lese ich die Geschichte des Klosters nach: Das Dreifaltigkeitskloster (Troiza-Sergiewa Lawra) geht auf eine Einsiedelei eines Sergi von Ragonesch (1314 – 1392) zurück und entwickelte sich dank grossfürstlicher Schenkungen bald zum reichsten Kloster des Landes. Hier kristallisierten sich gegen Ende des 15. Jahrhunderts zwei entgegengesetzte Konzepte heraus: Die einen setzten sich für Besitzlosigkeit der Klöster und damit „Uneigennützigkeit“ ein. Die anderen kirchlichen Würdenträger waren dafür, dass die Klöster viel Besitz haben müssen, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. Der Grossfürst unterstützte schliesslich die Seite der „Besitzenden“, weil deren Wortführer in seine Scheidung einwilligte. Goehrke schreibt: „Besitzkirche und Verfügungsgewalt des Staates über die Kirche verbanden sich endgültig miteinan­der, und ein alternativer Ast der religiösen Entwicklung Russlands endete im Nichts“ (S. 243). Besitzkirche und Verfügungsgewalt des Staates, aha.
20140311-220311.jpgDas Kloster entwickelte sich dann zum wichtigsten Zentrum der russisch-orthodoxen Kirche, lange residierte der Patriarch hier, bis er nach Moskau zurückkehrte.
20140311-215915.jpgDas Kloster ist durch eine weisse Festungsmauer umgeben. Anders als Moskau konnte es 1600 während des Polenkrieges nicht eingenommen werden.
Ich scheine der einzige Nur-Tourist zu sein. Sonst hat es sehr viele Gläubige und Verwandte von Priestern und von Absolventen des hier untergebrachten Priesterseminars. Die Kirche ist voller Weihrauch, man bekreuzigt sich vielmals und ausholend. Choräle sind über den Lautsprecher zu hören, Ikonen zu kaufen, man füllt sich heiliges Wasser ab. Sehr eindrücklich.20140311-220132.jpg20140311-220449.jpg
Auf der Rückfahrt Gespräch mit einer jungen Sibirin. Sie spricht recht gut französisch und ist hier, um Arbeit zu suchen. In Sibirien sei das fast aussichtslos und hier auch sehr schwierig.
Zurück in Moskau versuche ich meine innere Stadtkarte etwas in Ordnung zu bringen, spaziere der Kremlmauer entlang und dann den ganzen neuen Arpad hinunter.
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Das Hotel Ukraina, in dem ich 1978 untergebracht war, steht im schönsten Zuckerbäcker-Stil immer noch da und gehört jetzt zur Raddison-Kette.
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Auch das Weisse Haus, der Sitz der Regierung der Russischen Föderation steht natürlich immer noch gegenüber. Ich erinnere mich, wie es 1991 beim versuchten Putsch gegen Gorbatschow immer wieder im Fernsehen zu sehen war. Jelzin, der vor dem Weissen Haus auf einen Panzer kletterte und eine improvisierte Rede hielt. Das Ende von Gorbatschow als Präsident und auch das Ende der Sowjetunion waren damit eigentlich besiegelt.
20140311-222700.jpgAuf dem Weg zum Kiewskaya-Bahnhof finde ich sogar die Hinterhöfe wieder, in denen früher die alten Leue Schach gespielt haben. Es spielt niemand mehr Schach, aber ein Vater ist mit seiner Tochter beim Tischtennis.
Die Pirogge an einem Stand in Sergijew Possad und das Nachtessen in einem „Mu-Mu-Retaurant“, wo man sich über den Gast aus der Schweiz freut, kosten zusammen etwa so viel wie gestern die zwei Sprite aus der Minibar.

Mit Aeroflot nach Moskau

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Mit Aeroflot nach Moskau. Bilder an einen Flug Zürich – Moskau 1978 werden wach, als ich mit einer Flasche Wodka und etwas Kaviar alleine in der ersten Klasse sass, auf die der Zürcher Aeroflot-Stationsleiter für den Sohn seines Swissair-Kollegen bestanden hatte. Wir mussten dann in Sheremetyevo etwa eine Stunde warten, bis eine Treppe verfügbar war, über die wir aussteigen konnten. Zwischenzeitlich wurde die Airline vom Oligarchen Beresowski geplündert, rappelte sich aber wieder auf. Sie fliegt immer noch mit Hammer und Sichel und immer noch mit russischen Flugzeugen, heute eine Sukhoi Superjet RRJ 95B, wobei RRJ für Russian Regional Jet steht.
20140310-221919.jpgWir fliegen in einer recht niedrigen Reiseflughöhe über die Ukraine, durch die ich gerne mit der Bahn gefahren wäre. Aber es ist jetzt nicht die Zeit, um dort Tourist zu sein. Ich habe die Entwicklung über Twitter in den letzten Wochen intensiv verfolgt und die Berichte der direkt Betroffenen sind mir nahe gegangen. Mit dem Interesse an der Ukraine in den letzten Wochen ist auch ihre Geschichte wieder vermehrt erinnert worden. Ich lese bei Timothy Snyder („Bloodlands“), wie Stalin hier in den 30-er Jahren Millionen verhungern liess und wie das Morden nachher mit dem Holocaust unter Hitler im „Reichskommisariat Ukraine“ und den Deportationen wieder unter Stalin weiterging. Schier unerträgliche Berichte.
Beim Landeanflug auf Moskau merkt man, dass es hier Frühling wird.
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Die Fahrt in die Stadt dauert dann fast nochmals so lange wie der Flug, obwohl der abendliche Stossverkehr noch gar nicht begonnen hat. Ich lese die Moscow News. Ihrer Meinung nach agiert der Westen völlig falsch und lässt Putin gar keine andere Wahl als die Krim zu annektieren. Dem Druck des Westens nachzugeben, könne er sich innenpolitisch unmöglich leisten. Ich frage mich, wie Ernst der EU die Sanktionsdrohungen sind; die Wirtschaften sind so ineinander verzahnt, BMW hat die Spiele in Sotchi gesponsert, Mercedes ist der offizielle Wagen von Dynamo Moskau, wir heizen mit Gazprom…
Die Kursverluste des Rubels bringen die Moscow News nicht mit Sanktionsdrohungen in Zusammenhang sondern damit, dass viele Reiche ihre Betriebe nach wie vor auswinden und das Geld in den Westen transferieren.
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Aber dann bin ich hier. Hotel Budapest, ein schönes altes Hotel, in dem (falls ich die Erinnerungsplakete richtig deute) schon Lenin gewohnt hat und das immer noch etwa so aussieht wie vor 100 Jahren. Fussdistanz zum roten Platz. Schön, wieder hier zu sein.
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