Ich erwache in der Nacht, weil ein Eisregen aufs Dach trommelt und es ziemlich kalt ist. Das Zimmer wird mit einem Elektroofen geheizt und bei stärkeren Winden stellt das Stromwerk den Strom für das ganze betroffene Gebiet ab. Grund ist, dass dann oft Strommasten kippen; die dadurch entstehenden Kurzschlüsse mit Funkenschlag können zu Waldbränden führen. (Noch häufiger entstehen Waldbrände durch weggeworfene Glasflaschen, die als Lupen die sehr trockene Taiga zu entzünden vermögen.)
Am Morgen ist dann wieder alles weiss. Ich mache einen Spaziergang und verabschiede mich von dieser Gegend. Die Zeit in der Natur hat mir gut getan.
Nach dem Mittagessen fahren wir über die Piste zurück nach Irkutsk.
Die Stadt entstand gemäss dem Transsib-Handbuch 1661 als russische Festung im Kampf gegen die Burjaten, wurde aber bald zur wichtigen Handelsdrehscheibe. Pelze aus Sibirien, Tee und Seide aus China. Irkutsk war Ausgangspunkt der Eroberung des Fernen Ostens, von hier aus wurden die russischen Gebiete bis Alaska und Kalifornien verwaltet.
Die Stadt bekam im 19. Jahrhundert wichtige Impulse durch die Dekabristen (Wikipedia), die nach dem gescheiterten Dezemberaufstand in St. Petersburg nach Sibirien verbannt worden waren. Nach Jahren der Zwangsarbeit liessen sich viele hier nieder, die Stadt wurde zu einem Zentrum der damaligen Intelligentsja.
Ein verheerender Stadtbrand vernichtete Ende 19. Jahrhundert etwa zwei Drittel der Stadt. Es gibt aber immer noch alte Holzhäuser, eine Barockkirche, Gebäude aus dem 18. und 19. Jahrhundert und natürlich auch aus der Sowjetzeit. Man merkt der Stadt ihre lange Geschichte an, sie wirkt wegen ihrer kunterbunten Mischung von Baustilen viel weniger streng als Novosibirsk. Die grösste Stadt Ostsibiriens hat auch ein starkes asiatisches Element, man sieht viele Asiaten (Burjatinnen, Mongolen), einige Busse sind mongolisch angeschrieben, es gibt einen grossen „chinesischen Markt“. Den Kaffees, Anschlagbrettern, Graffiti nach zu schliessen, scheint es auch eine aktive alternative Szene zu geben.
Die Stadt mit ihren gegen 700’000 Einwohnern liegt weit weg von Moskau und Novosibirsk. Das hat positive Seiten, vieles wirkt quirlig, lebendig, aber auch negative, die alte Bausubstanz ist z.T. bis zur Unkenntlichkeit mit Reklame übersät oder am Verfallen. Die alten Holzhäuser stehen zwar unter Schutz, weil sich die Besitzer Renovationen aber nicht leisten können, „beginnen sie plötzlich zu brennen“, wie sich Ivan ausdrückt. Die Stadt baut dann neue, um den Anschein eines historischen Zentrums zu wahren.
Viele jungen Leute, eine entsprechende Szene, ein Vielvölkergemisch, etwas kaputt, aber nur so weit, dass es noch interessant ist – ich meine, die Stadt hätte das Zeug Kultstatus zu erlangen, ein Brooklyn des Ostens, bevor es Mode wurde.
Ich wohne in einem 100-jährigen Holzhaus. Galina, die Vermieterin erklärt mir, was ich alles ansehen solle und wo ich besser wegen Taschendieben vorsichtig sein solle (meist in „chinesischen“ Märkten). Zwischen Fenster und Vorfenster zieht sie Tomaten und freut sich auf Juni, wenn sie dann reif sind.