HK Institute of Education während der Proteste

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Am Montagmorgen, 6. Oktober fahre ich an unsere Partnerhochschule, ans Hong Kong Institute of Education (HKIEd). Der Campus in den New Territories ist schön und idyllisch wie eh und je. Die Weigerung der Beijinger Zentralregierung, wirklich freie Wahlen zuzulassen, beschäftigt aber auch die angehenden Lehrerinnnen und Lehrer. Überall gelbe Bänder. Durch den ganzen Hauptkorridor ein langes schwarzes Band mit Botschaften. Transparente.
meinekommen.jpgIch bin gespannt, wie das an der Konferenz am Mittwoch und Donnerstag aussehen wird. Man hat die Konferenz wegen der Occupy-Bewegung zu Gunsten eines Meetings (zu dem lediglich die Teilnehmenden aus der Greater China Region eingeladen sind) um zwei Stunden gekürzt und das Gala Diner in ein normales Abendessen umgewandelt.
Eine Mitarbeiterin des HKIEd erklärt mir die Situation. Einerseits sei das Kollegium uneins, ob z.B. die Teilnahme an einer Demonstration ein Grund sei, zu spät an eine Lehrveranstaltung zu kommen oder gar zu fehlen. Man lasse das den Dozierenden frei, es werde aber heftig diskutiert. Solche Aushänge zeugen von den Diskussionen unter den Dozierenden.
Einig ist man sich, dass Studierende nur individuell, nicht als HKIEd-Gruppen an Protestversammlungen teilnehmen sollen.
HKIEd-Dozierende erzählen auch, dass sie momentan bei Einladungen, Familienfeiern usw. keine einfache Zeit haben. Sie werden von der älteren Generation häufig auf die Demonstrationen angesprochen und bekommen Vorwürfe zu hören, dass sie die Lehrpersonen wohl falsch ausgebildet hätten. Lehrerinnen und Lehrer hätten eine „Protestgeneration“ herangezüchtet, die zu wenig Respekt habe. Ich frage nach, wie sie solchen Vorwürfen begegneten. Sie argumentieren, dass das Gegenteil der Fall sei, die bei der Bewegung aktiven Mittelschülerinnen und -schüler und Studierenden könnten kritisch denken, partizipieren, ausgezeichnet argumentieren, sie seien höflich und äussert friedlich. Aber viele über 40-jährige sehen das nicht so, sie schätzen den „zivilen Ungehorsam“ als verheerend ein, haben Angst, Hong Kong verliere weitere Privilegien und Wohlstand. „The worst are the professors“, habe ich in einem Tweet gelesen.
crying2.jpgDie Proteste spalten aber nicht nur die Generationen, sie spalten viele Teilnehmende auch innerlich. Das konfuzianische Gedankengut, die Pflicht, den Ältern und vor allem den Eltern gegenüber respektvoll und gehorsam zu sein, ist tief verankert. Zu demonstrieren stürzt viele Junge auch im recht liberalen und offenen Hong Kong in einen Loyalitätskonflikt. Das Transparent „My parents are crying for me – I am crying for the future“, das ich gestern fotografiert habe, zeigt dieses Dilemma gut auf.
Etwas Erfahrung mit Konflikten hat man am HKIEd und den Schulen. In den letzten zwei Jahren hat man sich erfolgreich gegen die Einführung von „National Education“, d.h. Patriotismusunterricht nach festlandchinesischem Muster zur Wehr gesetzt. China hat schliesslich nachgegeben, wenn auch der der Druck, die Schule müsse „patriotischer “ zu werden, nach wie vor vorhanden ist.

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Occupy Hong Kong

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deviation.jpgIn einer solchen Zeit hier sein und die Ereignisse lediglich am Fernsehen verfolgen – das halte ich nicht aus.
Wir beschliessen, uns selbst ein Bild von der „besetzten“ Gegend im Regierungsviertel zu machen.
Die Strassen sind von der Polizei sehr weiträumig abgesperrt, übertrieben weiträumig, wie mir scheint. Die Barrikaden lassen sich ohne Probleme passieren, die dort präsenten Studierenden helfen den älteren Leuten (wie mir) über die Abschrankungen, die Stimmung ist friedlich, die Transparente fantasievoll.

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Die Demonstrierenden erklären ihre Ziele und freuen sich sehr, als wir uns auch ein gelbes Band anstecken. Ein bisschen Open-Air-Atmosphäre, nur sauberer, die WC werden ständig geputzt, Abfälle eingesammelt. Alles ist gut organisiert, Wasservorräte, ein Ersthilfe-Zelt.
Für unsere Augen ungewöhnlich, dass in einer solche Situation viele am Lernen sind, mit ihren Büchern am Boden sitzen.
Auch eine Bibliothek ist vorhaden (vgl. Tweets links)
Polizei ist nirgends zu sehen. Ich befürchte, dass hier bewusst ein Vakuum für die Triaden gelassen wird, gegen die die Studierenden keine Chance hätten. Die Befürchtung wird auf Twitter von vielen geteilt. Ich erlebe das erste Mal so hautnah, wie Social Media zwar sehr schnell Neuigkeiten verbreiten, aber auch ein Einfallstor für Gerüchte aller Art sind. Auch hier sind alle ständig mit ihren Smartphones beschäftigt.
Samstagabend wächst die Menschenmenge nochmals an. Weil fast alle frei haben, kommt es nochmals zu grossen Kundgebungen. Am Fernsehen erklären aber viele, sie müssten am Montag zur Schule, arbeiten oder studieren gehen, sie könnten dann höchstens nach Feierabend an der Besetzung teilnehmen. Andere erklären sich entschlossen, auszuharren.

Am Sonntagabend, 5. Oktober geben die Demonstrierenden dann einige Plätze wieder frei. Regierungschef CY Leung hat ultimativ die Räumung gefordert und man möchte Blutvergiessen vermeiden. Z.T. wird in den Social Media von einem Tiananmen-Trauma gesprochen. Das Massaker ist hier präsent, obwohl die meisten Demonstrierenden damals noch nicht geboren waren. Die Jahrestage werden jedes Jahr begangen. Viele Schülerinnen und Schüler und Studierende gehen erschöpft nach Hause, andere harren aus. Am Montagmorgen können die Regierungsangestellten ungestört in ihre Büros, einige Strassen bleiben gesperrt.

Hong Kong: Angry Mobs Turn on Protesters

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Die Fakten kennt ihr aus den Medien. Hier einfach einige Eindrücke, was ich als Besucher in Hong Kong davon spüre.

Die PH Zürich wurde an die dritte  Konferenz der „Presidents of Normal Universities in the Greater China Region: Educators for the 21st Century“ am Hong Kong Institute of Education eingeladen. Ein Vertrauensbeweis, eine Gelegenheit für Networking und eine Gelegenheit, über kommende Innovationen nachzudenken. Neben Hong Kong zählen Taiwan, Macao und natürlich „Mainland China“ zur Greater China Region. Eingeladen wurden zwei weitere europäische Hochschulen (PH Linz und Stranmillis, Belfast), eine Hochschule aus Japan (Gakugei Tokio) und eine aus Südkorea (Gwangju). Ich hatte schon an zwei vorangegangenen Konferenzen teilgenommen und unser „President“ fragte mich freundlicherweise, ob ich ihn vertreten könne. A​ls ich zusagte, hätte ich nicht gedacht, dass eine Bewegung wie „Occupy Hong Kong“ entstehen könnte.
arroganz3.jpg(Bildquellen: Twitter, HKE)
Bei meiner Ankunft am Freitag, 3. Oktober sind einige neuralgischen Punkte in der Stadt besetzt, am Wochenende zuvor ist die Polizei gewaltsam gegen die Demonstrierenden vorgegangen. Eine Angst, die Zentralregierung in Beijing werde ihre Hong Konger Statthalter anweisen, Exempel zu statuieren, liegt in der Luft. Von Demonstrierenden friedlich besetzt sind Strassen im Regierungsviertel um „Admirality“ und um das Einkaufsviertel „Causeway Bay“. Aber auch Strassen im bei Kurztouristen und Grenzgänger/innen aus „Mainland China“ sehr beliebten Mong Kok. Hier gibt es für Festlandchinesinnen und -chinesen günstige und sonst schwierig erhältliche Ware, hier bezahlen die Ladenbesitzer den Triaden, mafiaähnlichen Organisationen, Schutzgelder.
Tränengas, Pfefferspray und Schlagstöcke am Wochenende zuvor haben in breiteren Kreisen Solidarität we1.jpgmit der Occupy-Bewegung bewirkt, einer Bewegung die vorerst aus Studierenden und Intellektuellen, bald auch aus Mittelschülerinnen und -schüler bestand. (Bildquelle Occupy, Twitter)
Am Flughafen wird man darauf aufmerksam gemacht, dass wegen „Incidents“ der Verkehr nicht normal funktioniere und mit Staus und Verspätungen zu rechnen sei. Tatsächlich sind viele Buslinien und die Trams eingestellt, einige Hauptverkehrsachsen sind gesperrt, die U-Bahn funktioniert aber normal.
Ich treffe mich mit Nae, die sich ein Wochenende freinehmen konnte, in einer Bar. Alles schaut Fernsehen und es zeigt sich, dass die – freie Nominationen für die Wahlen 2017 fordernden – Demonstrierenden nicht mehr lediglich Regierung und Polizei gegen sich haben. Die Stimmung ist weitgehend gekippt. In Mong Kok, zwei, drei Kilometer von unserer Feierabend-Bier-Bar entfernt, gehen von den Triaden angeheuerte Schläger gegen die friedlich Demonstrierenden vor. Jede Schlägerei wird von einem Heer von mit Smartphones Fotografierenden festgehalten und sofort via Social Media in Umlauf gebracht. Auch Ladenbesitzer und andere Hongkonger haben offenbar die Geduld verloren, sie beschimpfen die Demonstrierenden und reissen ihre Zelte nieder – was soll ein bisschen mehr oder weniger Demokratie, wenn der Wohlstand in Gefahr ist. Die Presse macht m.E. entsprechend Stimmung: Umsatzeinbussen und die Tränen der Leute, die wegen der Besetzung um ihren Taglohn kommen, werden in der South China Morning Post ausführlich zitiert.
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(South China Morning Post)
In der Bar, in der wir etwas erschrocken unser Bier trinken hat man zwar noch Sympathien für die Demonstrierenden, aber Angst, ihr Insistieren werde Hong Kong schaden und noch mehr Angst vor einer Eskalation. Man bittet uns, auf keinen Fall nach Mong Kok zu gehen.
Die Polizei ist in Mong Kok in kurzärmligen Hemden, ohne Helme und Schutzschilder präsent und versucht die Parteien auseinanderzuhalten. Beide Seiten haben sich farbige Bänder angesteckt. Tragen die Demonstrierenden für mehr Demokratie schon länger einen „Yellow Ribbon“, so tragen die „Besorgten Bürger“ bzw. die „Pro-China“-Leute (und die Schläger) jetzt eine blaue Schleife.
Über hundert Verletzte werden gemeldet, immerhin keine Schwerverletzten.
Am Quai flanieren unterdessen die Touristen aus China und Europa.

Spring Mountain after the Rain

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Letzter Tag. Morgen fliege ich in die Schweiz zurück. 106. und letzter Blogeintrag zu dieser Reise. Vielen Dank euch allen, die ab und zu oder regelmässig mitgelesen haben. Ich habe mich über diese virtuelle Begleitung gefreut und sie war mir Ansporn, mich jeden Abend wieder hinzusetzen.

Heute fahre ich auf den Hausberg Seouls, den Namsan, um mir nochmals einen Überblick zu verschaffen. Es ist allerdings ziemlich dunstig, vielleicht noch nicht ganz Zeit für den Überblick – aber doch für einige Eindrücke.

Gestern in der Ausstellung ging mir bei einem Bild durch den Kopf, dass mich diese Reise auch auf einen „Spring Mountain after the Rain“ geführt hat. Ich fühlte mich meist beschwingt, habe einen vertiefteren Einblick in verschiedene Bildungssysteme gewonnen und dabei viele wertvolle Begegnungen gehabt.

Vieles, das ich aus Büchern oder früheren Besuchen kannte, ist mir klarer geworden. In Asien liegt tatsächlich viel Zukunft. Ich meine aber, dass wir gegenseitig voneinander lernen können.
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Hier in den verschiedenen Ländern Asiens habe ich sehr viel sehr professionelle Zielgerichtetheit, enorm viele Ambitionen und gleichzeitig auch viel Herzlichkeit in Schulen und Lehrpersonenbildung gesehen. Die Haltung, dass eigene Anstrengung zum Erfolg führt, ist weit verbreitet (auch wenn die Rahmenbedingungen natürlich überhaupt nicht für alle gleich gut sind). Aber eine Konsumhaltung, wie sie bei uns in den Bildungsinstitutionen manchmal festzustellen ist, habe ich hier nirgends gesehen. Im Gegenteil, die Energie, die Produktivität, die Lernbereitschaft sind hier mit Händen zu greifen.
Die Haltung, dass Lernen etwas Positives ist, dass Lernen während des ganzen Lebens erstrebenswert ist, ist kulturell tief verankert. Und Lernen hat immer auch eine menschenbildende, eine „moralische“ Dimension.
Beeindruckt hat mich, wie an Lehrerbildungsuniversitäten und in Schulen alle an einem Strick ziehen und wie sie mit voller Kraft an diesem Strick ziehen, wenn mal etwas beschlossen wurde. Das Alignment ist immer sehr gut.
Auch von der Haltung der Steuerungsgremien und der Lehrerschaft wissenschaftlichen Fragestellungen und Erkenntnissen gegenüber können wir lernen. Wissenschaft ist hier in vielen Ländern nicht etwas Abgehobenes, für die Schule eigentlich Unnötiges. Forschungsfragen werden aus Fragen des Schulfeldes abgeleitet und Forschungsergebnisse sind häufig das Fundament für die Weiterentwicklung der Schulen.

Von unserem System könnten die meisten Bildungssysteme hier – das mag erstaunlich klingen – Effizienz lernen. 16 und mehr Stunden am Tag für Schule oder Uni einzusetzen, wie das in Asien häufig beobachtet werden kann, ist nicht effizient, es ist wohl auch nicht kreativitätsfördernd. Die enorme Konkurrenzorientierung hier führt zwar zu einer hohen Anstrengungsbereitschaft, sie braucht aber zu viel Energie, bringt die Eltern finanziell an den Abgrund, baut bei den Kindern Schuldgefühle auf oder führt zu psychischen Erkrankungen und bringt für diejenigen, die dann nicht zu den obersten 10% gehören zu viele Enttäuschungen und zu wenig Zukunftsaussichten mit sich. Auch das System, dass ein sehr grosser Anteil der Schülerinnen und Schüler eine Mittelschule und dann eine Universität (viele verdienen den Namen allerdings nicht) besuchen muss, ist nicht zweckmässig. Eine duale Berufsbildung mit integrierter guter Allgemeinbildung, die ein Fundament für lebenslanges Weiterlernen gibt und ein durchlässiges Bildungssystem sind meines Erachtens bei weitem vorzuziehen. Das meritokratische und gleichzeitig in wichtigen Sektoren völlig privatisierte System in Asien hat viele Züge von „survival of the fittest“. Und „fittest“ heisst manchmal auch „richest“. Dass eine Gesellschaft als Ganzes Erfolg haben muss und dass jeder einzelne Mensch ein Recht auf „the pursuit of happiness“ hat, wird hier meines Erachtens in vielen Ländern zu wenig beachtet.

Ich werde diese Seite meiner Reise zu Hause in den nächsten Wochen noch genauer auswerten, meine Notizen und all die Literatur, auf die ich hingewiesen wurde durchgehen.
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Die Reise war für mich vor allem auch wertvoll wegen all der Menschen, die ich in diesen 15 Wochen getroffen habe. Menschen, die mich in Rumänien mit dem Privatwagen zum Bahnhof gefahren haben, damit ich den Zug nicht verpasse. Menschen, die in den Bahnabteilen selbstverständlich ihr Essen mit mir geteilt und mit mir geplaudert haben. Menschen, die sich gefreut und gelacht haben, als ich an ihrem Schulfrühlingsfest in Samarkand teilnahm. Menschen, bei denen ich in Russland gewohnt habe, die mir ihre Stadt gezeigt und mir ihr Wissen über das Bildungssystem weitergegeben haben. Menschen, die mir an einer Pädagogischen Universität in Ostsibirien Gesprächspartner organisiert, mir in einer Jurte in der Mongolei den Ofen eingeheizt oder mir in China ein Mountainbike aufgetrieben haben. Schul- und Unileitende in China, Singapore, Japan und Korea, Lehrpersonen, Dozierende, Studierende und Schülerinnen und Schüler, die uns und mich mit grosser Gastfreundschaft empfangen haben. Die PH-Reisegruppe, die so unkompliziert und kollegial war. Die Kolleginnen und Kollegen in Hongkong, Singapore und Guangzhou, die sich gefreut haben, dass sich so viele Angehörige der PH Zürich für ihre Lehrpersonenbildung und ihre Schulen interessieren. Christine und Barbara, die die PH-Studienreise mit viel Zeit, Energie und Herzblut organisiert haben. Unsere WG in Guangzhou. Benica, die mir ihr Zimmer überliess. Nae, die mir so vieles zeigte und erklärte und deren Freundschaft über Jahrzehnte, Kulturen und Kontinente hinweg mir viel bedeutet. Ikuta, der mir eine Woche lang sein Büro und seine Infrastruktur zur Verfügung stellte. Noriko, bei der ich mich nicht als Zimmermieter, sondern als willkommener Gast fühlte. Reiko, die mir in Fukushima nicht nur in Schulen und Uni alle Türen öffnete, sondern auch jeden Abend mit mir und Freunden verbrachte. Namgi, der in Korea ein grandioses Programm für mich zusammenstellte und mich begleitete.
Und jetzt freue ich mich auf meine Familie, die mich so selbstverständlich gehen liess und mir all das ermöglicht hat.
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Cho Phyungwi: Spring Mountain after the Rain

Sonntag

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Bild: Leeum
Sonntag. Ich besuche zuerst das Leeum, das Samsung Museum of Art. Ein Flügel ist der traditionellen koreanischen Kunst durch all die Dynastien gewidmet. Keramik, Kalligraphie, Tuschzeichnungen und buddhistische Kunst, alles sehr schöne und schön ausgestellte Meisterwerke. Im zweiten Flügel treffen sich dann moderne internationale und koreanische Kunst. Samsung hat viel in dieses Museum investiert, das Ganze kommt sehr „würdig“ daher, vielleicht etwas wenig experimentell.
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Eine recht lange U-Bahn-Fahrt bringt mich dann in den Grand Park in Gwacheon. Seoul liegt schön eingebettet zwischen verschiedenen Hügeln. Am Fusse des einen liegt der Grand Park, mit dem Zoo, einem Vergnügungspark, Campingplatz, künstlichem See, einer grossen Parkanlage mit vielen Blumen und dem Kunstmuseum. Eine Sesselbahn führt zum grossen Gwacheon National Museum of Modern and Contemporary Art und weiter zum Zoo.
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Die Jungen sind auf dem Weg zum Vergnügungspark und geben sich dabei sogar die Hand, die Familien schlendern durch den Park oder besuchen den Zoo und die Mittelalterlichen haben alle ihre Outdoorkombis, Trekkingschuhe und Sonnenschutzblenden angezogen und sind mit ihren Wanderstöcken unterwegs Richtung umliegende Hügel.
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Ich besuche das MMCA. Die Landschaftsbilder von Cho Phyungwi vermitteln viel Ruhe. Ruhe, die mir jetzt gut tut, während ich diese ganze Reise nochmals etwas vorbeiziehen lasse.20140616-171000-61800377.jpg

DMZ – entmilitarisierte Zone

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Ich habe bei USO eine Tour in die entmilitarisierte Zone (Demilitarized Zone, DMZ) gebucht. USO, United Service Organizations, ist die Organisation, die US-Truppen überall auf der Welt unterstützt. Entsprechend hat sie Zugang an Orte, an denen US-Truppen präsent sind, sie führt Angehörige, Soldaten in Urlaub und weitere Interessierte auch in die DMZ und dort besonders nach Panmunjeom, wo 1953 der Waffenstillstand unterschrieben wurde. Eine Zone, in der Gespräche zwischen Nord und Süd stattfinden können und wo immer noch eine schweizerisch-schwedische Delegation die Einhaltung des Waffenstillstandsabkommens überwacht (VBS).

Der Koreakrieg hat das Land 1950 – 1953 praktisch vollständig verwüstet, er kostete über vier Millionen Menschen das Leben. Ich habe den Krieg im zweiten Teil des Beitrags über Geschichts- und Kriegsmuseen kurz beschrieben.
Korea wurde mit dem Ende des zweiten Weltkriegs zwar von der japanischen Besetzung befreit, aber von den USA und der Sowjetunion sofort in zwei Besatzungszonen aufgeteilt. Südkorea hofft bis heute auf eine Wiedervereinigung; es gibt ein Wiedervereinigungsministerium und von allen Parteien eine entsprechende Rhetorik. Hinter vorgehaltener Hand hört man aber auch, dass eine Wiedervereinigung wirtschaftlich und psychologisch ein enormer Kraftakt wäre. Nordkorea ist dermassen heruntergewirtschaftet und seine Bevölkerung indoktriniert und abgeschirmt, dass Südkorea allein kaum in der Lage wäre, die Kosten der Wiedervereinigung zu tragen. Die momentane Weltlage sieht aber ohnehin nicht danach aus. China und Russland haben kein Interesse an einem starken und US-freundlichen Korea. Einige meiner Gesprächspartner meinen, auch Japan lebe lieber mit einem atombewaffneten unberechenbaren Nordkorea als mit einem vereinigten Korea, das wirtschaftlich und politisch zur noch grösseren Konkurrenz im Asien-Pazifik-Raum werden könnte.
Praktisch gleichlautende Berichte im Korea Herald (Juni 2014) und im Tages-Anzeiger (Oktober 2012) über eine Schule für nordkoreanische Flüchtlingskinder zeigen einen Teil des nordkoreanischen Elends auf.

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Mit 50 Amerikanern, einem deutschen Botschaftsangehörigen mit seiner Familie und mir fährt unser Bus zuerst an die Bahnstation Dorasan. Nach der Sonnenscheinpolitik unter Kim Dae Jung wurden die Schienenstränge zwischen beiden Ländern wieder verknüpft. Südkorea hatte grosse Hoffnungen auf einen Anschluss an die transmongolische und transsibirische Bahn und damit auf einen Transportweg nach China, Zentralasien und Europa für all seine Güter. Das Tauwetter ist aber vorbei, alle Signale stehen wieder auf rot.
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Von erhöhten Camp Bonifas aus kann man bei schönem Wetter weit nach Nordkorea hineinsehen. Etwas unheimlich, wie hier die wahrscheinlich am schärfsten bewachte Grenze der Welt zu einem Touristenziel wird. Die Landschaft ist sehr schön, ein 4 km breiter 248 km langer, durch das ganze Land gehender Streifen, nicht bewohnt, kaum von Menschen betreten. Vögel nisten, alle Arten von Tieren und Pflanzenarten haben sich ausgebreitet.
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Nach dem Mittagessen besuchen wir den „dritten Infiltrationstunnel“. Bisher wurden vier Tunnels, die unter der DMZ hindurch von Nord- nach Südkorea führen entdeckt. Etwas 30’000 Soldaten pro Stunde könnten einen solchen Tunnel passieren, vor allem aber könnten Agenten in den Süden geschleust werden, um z.B. Politiker zu ermorden. Nordkorea behauptet, Südkorea habe die Tunnels gebaut. Wohl ist mir nicht, als ich einen Helm aufsetze und etwa 800 Meter in den niedrigen, schwülen Tunnel hineingehe.
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Bild lifeinkorea.com
Danach fahren wir in die „Joint Security Area“, die gemeinsame Sicherheitszone an der Demarkationslinie in Panmunjeom (Wikipedia).

Specialist Woods von der US-Army gibt uns ein Briefing über die Entstehung und den Betrieb der Sicherheitszone und über all die Zwischenfälle, die in diesem angespannten Klima schon vorgekommen sind. Am nächsten war die Welt einem erneuten Koreakriegsausbruch wohl 1976, nach dem „Axtmordzwischenfall“. Im Streit darüber, ob ein Baum gefällt werden dürfe, töteten nordkoreanische Soldaten zwei US-Soldaten mit einer Axt. Wikipedia listet all die Zwischenfälle auf.
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Die Joint Security Area, vorne die Baracken, hinten das nordkoreanische Gebäude
Wir besuchen die Baracken, in denen noch Gespräche stattfinden, die Türe gegen Nordkorea wird von einem südkoreanischen Soldaten bewacht, vom nordkoreanischen Gebäude beobachtet uns ein nordkoreanischer Soldat. Bedrückend.
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WMYEIAOSUTR

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Frühmorgens mit dem Zug zurück nach Seoul. Meine Reise geht bald zu Ende, ich werde etwas nachdenklich. Ich denke, dass ich das Richtige gemacht habe in meinem Weiterbildungsurlaub. Eine Verbindung von unterwegs sein, Asien einerseits und Bildung, Lehrpersonenbildung, Schulen andererseits. Beides hat mich, zusammen mit all den Menschen, denen ich begegnet bin, die mich ein Stück begleitet haben, sehr beflügelt.

WMYEIAOSUTR steht auf dem Dach der Seouler Fililale des National Museum of Modern and Contemporary Art (MOMCA) in Seoul. Eine Lichtinstallation, die sich in der Nacht als MY EAST IS YOUR WEST liest. Die Frage, ob ich alles mit zu westlichen Augen gesehen habe, beschäftigt mich seit einiger Zeit. Kann man Kultur und Bildung in den Ländern, die ich besucht habe mit westlichen Denkschemata verstehen? Wenn ich einfach da war, entspannt, beobachtend, mitmachend, erwartungslos und offen, hatte ich manchmal den Eindruck, Atem und Puls von Ort und Menschen zu erfühlen. Und manchmal haben sich mein Atem und mein Puls angepasst.
Wenn ich versucht habe, das alles mit meinen westlichen Konzepten zu verstehen, war vieles einfach fremd – und ich selbst habe mich auch fremd gefühlt.

Ich verbringe den Tag im Museum of Education und im MOMCA in Seoul, beziehe dann mein schönes Appartement im 22.Stock in Sinchon und schlendere mit solchen Gedanken und auch zufrieden und dankbar, dass alles so gut gegangen ist, durch den Seouler Abend.

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Ahn Gyuchul, Glasses, 1991

Privatschule in Gwangyang

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Mit dem Bus fahre ich in eineinhalb Stunden an die koreanische Südküste nach Gwangyang. Herr Goe, ein Lehrer an der privaten Gwangyang Necheol Nam Elementary School erwartet mich schon am Bus. Er hat Herrn Pak mitgebracht, einen Ehemaligen der High School, der soeben in den USA seinen Master abgeschlossen hat, jetzt zwei Monate zu Hause ist und dann in den USA bei einer grossen Treuhandfirma zu arbeiten beginnt. Pak spricht natürlich perfekt Englisch und begleitet mich den ganzen Tag.

Die beiden fahren mich zuerst durch Gwangyang und zeigen mir die riesige aufgeschüttete Halbinsel mit den Posco-Werken. Posco ist einer der weltweit grössten Stahlhersteller mit Hauptsitz in Pohang und einem sehr grossen Werk hier in Gwangyang. Die Firmenstiftung POSEF (Posco Education Foundation) führt hier in Gwangyang für die Kinder ihrer Angestellten Kindergärten, Primarschulen, eine Sekundarschule (Middle School) und eine High School. (Broschüre PDF)

Eine davon, die Gwangyang Necheol Nam Elementary School werde ich jetzt besuchen.

Beim Eingang erwarten mich der Chef der Stiftung POSEF hier in Gwangyang, ein anderer „very important man“ der Stiftung und der Schulleiter. Die POSEF-Leute sind nach einer Medaillenverteilung an erfolgreiche Schülerinnen und Schüler extra hiergeblieben, um mich zu begrüssen. Ausgerechnet heute habe ich keinen Anzug an, weil ich dachte, ich besuche eine kleine Schule auf einer Insel und nicht overdressed wirken wollte.

Die POSEF-Schulen gehören zu den besten Privatschulen Koreas. Während Kindergarten und Primarschule fast ausschliesslich von Kindern von Posco-Angestellten besucht werden, können sich in die Middle- und High-School auch Absolventinnen und Absolventen anderer Schulen bewerben. In Betracht gezogen werden aber nur diejenigen, die zu den 10% besten ihres Jahrgangs gehören. Dieses Ranking wird aus den midterm- und Schuljahresabschluss-Examen berechnet, die jedes Jahr durchgeführt werden. Die Konkurrenz und das sich ständig Bewerben sind hier im ganzen Bildungssystem allgegenwärtig. Ein riesiger Wirtschaftszweig, die „Hagwon“, das „Private Tutoring“ hängt davon ab. Praktisch alle Schülerinnen und Schüler besuchen solche privaten Nachhilfeschulen. Sie schlafen deshalb sehr wenig und die Eltern tragen eine grosse finanzielle Last.
Posco nimmt z.B. mit einem extrem selektiven Auswahlverfahren jeweils 100 Bewerbende in seine „Meister“-High School auf, d.h. seine berufsorientierte High School, die eng mit der Firma zusammenarbeitet. (Pressemitteilung)
Die Selektion ist auch für Hochschulabsolvierende sehr hart, wenn sie sich in einer grossen Firma um eine Stelle bewerben. Der „Business Insider“ hat letzthin beschrieben, wie Samsung seine Angestellten auswählt.

Posco kennt ähnliche Bewerbungsverfahren, allerdings hat der Konzern in letzter Zeit in Korea nicht mehr viele neue Mitarbeitende angestellt, die Schulen haben deshalb rückläufige Schülerinnen- und Schülerzahlen.

Im ersten Teil des Morgens findet eine Einführung in die koreanische Volksmusik statt.
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Eine vom koreanischen Staat engagierte, soweit ich das beurteilen kann hervorragende, Musikerinnengruppe (Facebook) führt die Schülerinnen und Schüler in die Volksmusik, Opern, Mythen ihres Landes ein. Keine einfache Kost. Die Schülerinnen und Schüler sitzen am Boden, hören meist aufmerksam zu und rutschen zwischendurch auch mal ein bisschen hin und her oder flüstern kurz miteinander. Zu unruhig wird es im Saal aber nie.
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Klassenlehrpersonen und Schulleitung sind ebenfalls hier, geniessen den Aufritt, haben aber auch ein Auge auf das Publikum. Die Klassenlehrpersonen unterrichten hier Koreanisch, Mathematik, Geschichte und Science. Die übrigen Fächer werden von Fachlehrpersonen erteilt, wobei je nach Fach die Klassenlehrperson auch dabei ist und Teamteachingfunktionen übernehmen kann. Zusätzlich geben noch „Koryphäen“ Stunden. Für Mathematik wurde ein russischer Professor eingestellt, der zwischen den verschiedenen Schulen hin- und herpendelt.
Für die meisten Fächer stehen eigene Fachräume zur Verfügung, die eine anregungsreiche, auf das Fach abgestimmte Lernumgebung ermöglichen. Im Englisch ist ein ganzes EngLand aufgebaut, mit Fototapeten von Pubs, Telefonkabinen, Tube-Stationen usw. In Mathematik stehen all die Hilfsmaterialien zur Verfügung, die wir auch kennen, zusätzlich sind sogar die Sonnenstoren mit Euklid oder Pythagoras illustriert. Die Tische sind nicht immer eckig, die Schülerinnen und Schüler sollen ein out-of-the-box-Denken lernen und das gehe besser, wenn nicht alles viereckig sei.
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In Science sind an einer Wand Bilder von Nobelpreisträgern aufgehängt und es wird gefragt, wer wohl der erste koreanische Nobelpreisträger sein werde. It is our ambition that he comes from our school.
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Die Ziele der Schule und ihre „moralische Erziehung“ sind auch sonst überall präsent. Dass die Ansprüche hoch sind, sehen wir auch in der Bibliothek. 600 Bücher sollen in den 12 Schuljahren mindestens gelesen werden. Um das Ziel zu erreichen, finden immer wieder auch Bibliotheksnächte statt. Eine Mutter, die in der Bibliothek als Freiwillige arbeitet, ist gerade am Vorbereiten einer solchen Lesenacht.
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In Herr Goes Lektion geht es ums Debattieren. Schülerinnen und Schüler wägen zuerst in Gruppen Umweltschutz und Entwicklung gegeneinander ab, nachher diskutieren sie in der Klasse darüber. In der nächsten Lektion, sollen sie ihre Meinung dann auch mit Plakaten illustrieren. Goe gilt als Experte im Debattieren, er gibt in den Ferien jeweils auch Kurse für Lehrerinnen und Lehrer zu diesem Thema.
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Anschliessend besuchen wir den drei Jahre dauernden Kindergarten. Schöne, helle und grosse Räume. Auch im Kindergarten gibt es einen Stundenplan mit Fächern und viele Fachräume. Ob sie lesen würden? Ja, natürlich, ab zweitem Kindergartenjahr, die meisten Kinder könnten es aber schon vorher.
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Der Kindergarten hat auch viel Platz draussen, Tiere werden gehalten, jede Gruppe hat einen Garten.
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Die Kindergartenhündin hat vor fünf Tagen Junge bekommen
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Die Leiterin des Kindergartens sagt plötzlich „oh, graduates from our kindergarten“, rennt den Zweitklässlerinnen mit offenen Armen entgegen und umarmt sie
Der reguläre Unterricht ist um drei Uhr fertig, jetzt beginnen die Sitzungen der Lehrpersonen und die „extracurricular activities“. Die Kindergartenschülerinnen und -schüler können z.B. unter 16 Angeboten wählen (vom Bauchtanz über Faltarbeiten, Töpfern, Mannschaftssportarten bis zu Maskenspiel) und haben so nochmals 60 – 90 Minuten nicht Unterricht genannten Unterricht. Nachher besteht ein Auffangangebot für Kinder, die noch nicht nach Hause können.

Auch in der Schule nebenan haben die „extracurricular activities“ begonnen. Dazu gehören z.B. auch Pfadfinder, Trommeln und Fussball. Gwangyang hat ein Soccerteam, das momentan auf Platz 4 in der koreanischen Meisterschaft liegt und natürlich auch von Posco gesponsert wird. Schüler, die in der Schule im Fussball Talent zeigen, werden besonders gefördert und es ist der Stolz der Lehrerschaft, wenn einer es schliesslich in die erste Mannschaft schafft.
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Trommeln, eine „extracurricular activity“

Ich war bis jetzt nach offiziellem Schulschluss noch nie in einer Schule und es ist hochinteressant, wie der Betrieb – einfach mit anderem Personal – weitergeht, von der Schule organisierte Freizeitaktivität mit erheblichem Lerneffekt. Nach 17 Uhr gehen die Schülerinnen und Schüler dann nach Hause, machen Hausaufgaben, treiben vielleicht etwas Sport, essen und dann stehen für sehr viele noch die Hagwon auf dem Programm. Viele dieser privaten Nachhilfeschulen werben im Moment damit, dass sie besonders gut für ADHD-Schüler seien.

Auch mein Programm ist noch nicht zu Ende – ich wollte ja auf eine Insel. Das hat man hier natürlich nicht vergessen und so fahren wir eine Stunde nach Yeosu und besuchen den Expo-Park mit seinen Wasserfontänen und bei Sonnenuntergang auch noch eine Insel. Jetzt steht noch ein Nachtessen auf dem Programm und dann will mich Goe die anderthalb Stunden von Gwangyang nach Gwangju zurückfahren. Es gelingt mir mit Vermittlung von Pak, mich durchzusetzen, so dass ich den Bus nehmen kann. Ich schätze die Gastfreundschaft hier sehr, sie hat aber auch etwas sehr Verpflichtendes, für mich manchmal Beengendes. Einen Gast nach dem Nachtessen von Zürich in sein Hotel nach Bern zurückzufahren, käme mir in der Schweiz nie in den Sinn. Herr Goe willigt schliesslich ein und kauft mir dafür das Busbillett. Ganz wohl ist es ihm aber nicht, wohl auch, weil er versprochen hat, gut für mich zu schauen. (Namgi runzelt am nächsten Morgen auch etwas die Stirn, er hat natürlich bereits erfahren, dass ich mit dem Bus zurückgekommen bin. Aber Goe habe ihm gesagt „He’s got a Ph.D., so he probably will find the hotel“ und da habe er ja eigentlich Recht. Es scheint mir doch etwas interkulturelle Verständigung gelungen zu sein.)
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Beim Nachtessen mit viel Rindfleisch, Zwiebeln, Kimchi, Knoblauch haben wir viel Spass. Das dünn geschnittene Fleisch wird auf einem im Tisch eingelassenen Holzkohlegrill zubereitet und schmeckt sehr gut.

Gegen Mitternacht bin ich dann in Gwangju im Hotel. Ein 18 Stunden-Tag, das ist hier ganz normal.

Umgebung von Gwangju

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Zu dritt fahren wir heute mit einem grossen Tourbus zu den Sehenswürdigkeiten der Region.
Der Soswaewon Garden (Soswaewon heisst in etwa „rein und klar“) war seit dem 15. Jahrhundert „a social networking place (…) where the great scholars (…) communicated their scholarly works and attainments to each other.“ (Prospekt).
Überall im Garten und in den Wäldern hat es kleine Pavillons. Man zieht die Schuhe aus setzt sich oder kniet, Blick ins Tal, atmet ein paar Mal die frische Luft tief ein und tauscht dann miteinander aus. So war es schon im 15. Jahrhundert.
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In einem Museum sind Werke und viele Gedichte der damaligen Gelehrten ausgestellt. Diese Kalligraphien sind oft ein „Gesamtkunstwerk“, Wort und Pinselstrich sind gleichermassen wichtig und werden ehrfürchtig betrachtet. „Scholars“, das hat hier einen anderen Klang als in Europa, mir scheinen Gelehrte stärker ein Teil der Kultur zu sein, auf sie wird überall hingewiesen. Gelehrt zu sein, Weisheit errungen zu haben war und ist erstrebenswert.
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Beruhigende Natur auch im Bambus-Park von Damyang, einem grossen Wald mit vielen verschiedenen Sorten des für Kultur und Umwelt wichtigen Bambus.
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In der Umgebung wurde auch eine Allee mit Metasequoia-Bäumen gepflanzt.
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Die Holzgestalten äugen zu ihr hinüber.

Schliesslich noch eine Fahrt mit einer Dampfbahn von Gokseong nach Gajeong durch eine schöne Berglandschaft und der Besuch des 1635 gegründeten buddhistischen Dorimsa-Tempels. Nach dem Eindunkeln sind wir zurück in Gwangju. Der Fahrer ist sichtlich froh, dass er seinen ersten Ausländer nicht verloren hat und mich in Gwangju wieder abliefern kann. Und ich bin ziemlich geschafft. In eine Ganztagestour hätte man in der Schweiz höchstens zwei Drittel der Stationen eingebaut.
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Gedenkstätte zum Gwangju-Massaker

Die vier Tage in Gwangju werde ich etwa 18 Stunden am Tag lückenlos betreut. Namgi hat nichts dem Zufall überlassen und überall Lehrpersonen und andere Bekannte gebeten, für mich zu schauen. Dank der sehr grossen koreanischen Gastfreundschaft komme ich – neben Schul- und Universitätsbesuchen – auch dazu, als VIP die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt und der Region kennen zu lernen. Mir ist diese Sonderrolle etwas unangenehm. Ein Koreaner, der in den USA studiert hat und mich auch einen Tag begleitet meint aber: „It’s the Korean culture. When a guest comes, you make everything possible for him. Just relax“. Ok.

Nach den Schulbesuchen fahren mich zwei Lehrerinnen zum May 18th National Cemetery. Ein Leiter führt uns durch die Gedenkstätte, trinkt mit uns Saft und fordert meine Begleiterinnen immer wieder auf, mir alles zu erklären.
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Bild: Museum

Gwangju nennt sich stolz „Stadt der Demokratie und der Menschenrechte“. Die Region hier wurde von den Regierenden in Seoul meist links liegen gelassen und wird bis heute nicht mit Subventionen verwöhnt. Gwangju war also den Regierenden gegenüber immer skeptisch. Als 1979 Präsident Park, der das Land diktatorisch regiert hatte, ermordet wurde, hoffte man auf einen Übergang zur Demokratie. Stattdessen putschte aber das Militär und übernahm die Macht. Im ganzen Land gab es, meist von den Universitäten ausgehende, Demonstrationen.
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Alle historischen Bilder: 518.org
Das Militär verhängte am 17. Mai 1980 den Ausnahmezustand und schloss die Universitäten.
Am 18. Mai (darum wird überall nur von 518 gesprochen) kam es in Gwangju zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen dem Militär und Studierenden.
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Wegen der offensichtlich willkürlich angewendeten Gewalt des Militärs solidarisierten sich grosse Teile der Bevölkerung mit den Studierenden, Taxifahrer fuhren in einem Protestkonvoi durch die Stadt. Das Militär schoss wahllos in die Menge.
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Schliesslich konnte die Menge das Regierungsgebäude der Provinz besetzen, die Armee musste sich zeitweise zurückziehen, Blockaden wurden aufgestellt und die Bevölkerung bewaffnet. Am 24. Mai wurde Gwangju zur „befreiten Stadt“ erklärt.
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Das Kommando der US- und Koreatruppen unter US-General John Wickham hatte schon am 21. Mai eingewilligt, noch mehr koreanische Truppen zu mobilisieren, um Gwangju wieder unter Kontrolle zu bringen.
Verhandlungen wurden nur wenige Stunden geführt und scheiterten, am 27. Mai übernahm die Armee mit einer Truppenstärke von 20’000 Mann in einem blutigen Einsatz, bei dem Beteiligte und Unbeteiligte wahllos getötet wurden (Gwangju-Massaker), die Kontrolle über die Stadt wieder. Es sollte noch sieben Jahre bis zu den ersten freien Wahlen dauern.
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Eindrücklich ist, dass es danach möglich war, einen „National Cemetery“ zu schaffen, in den die sterblichen Überreste der damals Umgebrachten überführt wurden. Der „May 18th National Cemetery“ ist aber weit mehr als ein Friedhof, er ist eine grosse Gedenkstätte mit einem Denkmal und viel Symbolik, einer Gedenkhalle mit Fotos all der Getöteten, einem grossen Museum, das ausführlich, manchmal mit fast unerträglichen Dokumenten auf die Geschehnisse eingeht.
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Bild: Museum
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Auf dem Gelände hat es auch ein Kindermuseum, das wie ich finde altersgemäss das Klima und die Zeit von damals darstellt und die Kinder über Demokratie und Menschenrechte informiert und nachdenken lässt.
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Kim Dae Jung, der damals beinahe zum Tode verurteilt worden war, wurde 1997 Präsident Südkoreas, der einzige Präsident bisher aus dieser Region. Er hat die damaligen Befehlshaber, denen kurz vorher der Prozess gemacht worden war, begnadigt; ein Versuch, die Nation auszusöhnen.

Ich frage mich, ob und wann China einmal eine solche Gedenkstätte zu Tiananmen 1989 errichten wird. Die Anlage hier gibt mir etwas Hoffnung, dass auch jüngere Geschichte aufgearbeitet werden kann.