Ergebnis der Schule: Unkreative Auswendiglernende oder kooperative Leistungsorientierte?
„Japanese education appears to be both first-class and uncreative. (…) At one end of the debate some observers point out, that Japanese education is geared producing students, who are good answering multiple-choice questions but who lack creativity and originality of thinking. (…)
At the other end, ethnographic researchers tend to point out its high standards, egalitarianism and meritocratic orientation (…) Some take a positive view of what they regard as the harmonious, group-cohesive and collectivist emphasis.“ meint Sugimoto in seiner Introduction to Japanese Society (2011, 151).
In Schulen gesehen habe ich eher das zweite, positive. Allerdings sind die Kooperationsschulen der Nara University of Education ja sicher gute Beispiele von Schulen. In Gesprächen ausserhalb der Uni bin ich auch viel mit der unkreativen, disziplinierenden und drillorientierten Seite der Schule konfrontiert worden.
Lehrpersonen als ausführende Beamte?
Im „Global Teacher Status Index“ der Varkey Gems Foundation (PDF), den mir ein koreanischer Kollege gemailt hat, wurde eine Stichprobe aus der Bevölkerung verschiedener Länder u.a. auch gefragt, welcher Beruf mit dem Lehrberuf am vergleichbarsten sei: Sozialarbeiter, Bibliothekar, Arzt, Krankenschwester, Lokaler Beamter. Während in der Schweiz und verschiedenen anderen Ländern der Lehrberuf am häufigsten in die Nähe der Sozialarbeit gesehen wurde, wurde er ausschliesslich in Japan in die Nähe von lokalen Beamten und ausschliesslich in China in die Nähe von Ärzten gesehen. Das zeigt sicher auch, dass bei der starken zentralen Steuerung Lehrpersonen in Japan häufig einfach als Ausführende angesehen werden. (PDF)
Gesellschaftliche Segmente und ihre Vorstellungen von Schule
Sugimoto (152) unterteilt vier „competing educational orientations“. Ich lehne mich im Folgenden an ihn an. (Kursiv sind Erfolge des jeweiligen Segmentes aufgezeigt):
A: Marktorientierung, Neoliberalismus
Die Schulen sollen sich stärker am Markt orientieren und z.B. auch Elitebildung ermöglichen. Gefordert sind einerseits eine starke Leistungsorientierung, andererseits auch mehr Schülerzentriertheit, Problemlösungsorientiertheit, Kreativität, Individualität. Nur so kann man im globalen Wettbewerb, in der Wissensgesellschaft bestehen.
Das interdisziplinäre Fach „Integrierte Studien“ wurde auch auf Betreiben dieses Segments geschaffen. Schulleitende werden neu auch aus der Privatwirtschaft, nicht mehr zwingend aus dem Lehrberuf angestellt. Innerhalb von gewissen Grenzen wurde in den Städten das Wohnsitzprinzip für die Einteilung in die Schulen aufgehoben, Eltern haben z.T. auch bei den öffentlichen Schulen eine Wahl. Englisch beginnt häufig schon in den Primarschulen.
B: Geregelter Pluralismus
Eine gewisse Liberalisierung, die den Schulen mehr Freiheiten gibt, soll ermöglicht werden – bei gleichbleibend starker staatlicher Steuerung. Stärkere Betonung einer „ganzheitlichen Erziehung“, die auch soziale Erziehung und kritisches Denken mit einschliesst anstatt Überbetonung des mechanischen Auswendiglernens und sehr hohe zeitliche Belastung der Schülerinnen und Schüler
Ab 2002 erfolgte eine Senkung der Anzahl Lektionen um bis zu 30% und eine Verringerung der Hausaufgaben. Man wollte ein Schule mit weniger Druck und mehr Entwicklungsmöglichkeiten ausserhalb der Schule ermöglichen und führte deshalb auch die Fünftagewoche ein.
Leistungen sollten nicht mehr nur nach der Sozialnorm beurteilt werden, sondern anhand der Lernziele und der Lernfortschritte der Kinder und Jugendlichen.
Schulen konnten jetzt in gewissen Gebieten selbst Schwerpunkte setzen (Englisch u.a.). NPO konnten Privatschulen mit eigenen Schwerpunkten eröffnen.
C: Demokratische, egalitäre Ausrichtung, Ablehnung der Regierungspolitik
Hier sind meist auch die Lehrergewerkschaften positioniert. Gleichheit der Schulen ist eine Voraussetzung für Chancengerechtigkeit. Die Fixiertheit auf Prüfungen (Aufnahmeprüfungen usw.) soll überwunden werden, weil dadurch die Chancen sehr ungleich verteilt werden (Wer sich die Unterstützung der „Nachhilfeindustrie“ kaufen kann, hat bessere Chancen bei den Aufnahmeprüfungen).
Kreativität, Individualität, Problemlösefähigkeiten sollen für alle gefördert werden.
Man ist gegen teure Privatschulen, mit deren Hilfe man sich – bei entsprechenden finanziellen Mitteln – den Eintritt in eine gute Universität sichern kann.
Auch diese Fraktion kann teilweise Erfolge verbuchen, z.B. in dem Universitäten bei der Aufnahme nicht nur auf Prüfungsresultate und den zentralen Test (PDF) achten, sondern auch weitere Kriterien anwenden. Auch curricular und methodisch hat die Lehrerschaft immer wieder Erfolge und kann Neues einführen (Transferorientierung, Projekte u.a.)
D: Bewahrender Konservatismus
Die staatlich gesteuerte, gleiche Schulung für alle soll bewahrt werden, damit Staat und Gesellschaft möglichst homogen bleiben. Gleichheit wird durch das (nicht durch neoliberale und pluralistische Tendenzen gestörte) meritokratische System, durch Verpflichtung, Respekt, Arbeitsdisziplin ermöglicht. Dieses System hat – bevor es verwässert wurde – Japan etwa zwischen 1960 und 1980 grossen wirtschaftlichem Erfolg gebracht.
Die zu grossen Freiheiten, die Schülerinnen und Schüler heute haben, sind mit ein Grund, warum die Schulleistungen zurückgehen und Japan weniger Erfolg hat als früher.
Es braucht wieder mehr Kontrolle, Disziplin und Heimatliebe.
Erreicht werden konnte z.B., dass in den Schulen der Fahnenaufzug und bei festlichen Anlässen das Absingen der Nationalhymne wieder eingeführt wurde. Diese Fraktion hatte auch Erfolge bei der Zulassung von Geschichtslehrmitteln, in denen Japans Rolle im zweiten Weltkrieg krass beschönigt wird.
Die letzte curriculare Reform nahm vieles, das ab 2002 eingeführt worden war, wieder zurück und stärkte damit dieses gesellschaftliche Segment. Das Erziehungsministerium geht in seiner Zusammenfassung der neusten Reformen explizit darauf ein, dass einige frühere Projekte gescheitert sind (MEXT, PDF)
Mein Kollege muss das Nachtessen absagen, er wurde mit so vielen dringlichen Geschäften eingedeckt, dass ihm nichts anderes übrig bleibt als bis in alle Nacht zu arbeiten… Die Arbeitslast, die sehr viele – von Schülerinnen und Schülern bis zu Angestellten auf jeder Hierarchieebene – auf sich nehmen müssen, ist sehr gross. Entsprechend müde sehen die Leute im öffentlichen Verkehr und in den Bibliotheken der Unis aus.
Jä nu, ich habe etwas ein schlechtes Gewissen, dass ich einen solchen Urlaub machen kann, während in Japan der soziale Druck so stark ist, dass kaum jemand mehr als eine Woche Ferien am Stück bezieht. Das National Museum, in dem ich noch nie war, besuche ich dann aber trotzdem über Mittag. Es zeigt eine Ausstellung über buddhistische Ikonen während der Kamakura-Zeit. Leider darf man nicht fotografieren, aber es ist umwerfend, wie den Künstlern des 13. Jahrhunderts Charakterisierungen von z.B. Zen-Meistern gelungen sind. Und es ist sehr interessant, zu sehen, welche Veränderungen der Buddhismus bei seinem Weg von Indien über China nach Japan erfuhr.