Reiko, die mal ein halbes Jahr an der PH Zürich als Gastdozentin verbracht hat und ihre Kolleginnen und Kollegen freuen sich sehr über meinen Besuch in Fukushima. Es war mir wenig bewusst, aber das Gebiet wird seit dem Reaktorunfall von Besucherinnen und Besuchern gemieden, mein Besuch wird auch deshalb sehr geschätzt.
Ich habe ausgiebig Gelegenheit, die der Uni angegliederte Primarschule, und die Lehrpersonenbildung an der Uni zu besuchen. Und ich verbringe jeden Abend in sehr netter Gesellschaft, esse rohen, geräucherten, luftgetrockneten, gesalzenen, gegrillten und gebratenen Fisch, Yakitori, Tempura und weitere exquisite Speisen, trinke Bier, ganz verschiedene Sake und Shochu aus Weizen, Buchweizen und Kartoffeln und bin einmal mehr völlig eingenommen von der Gastfreundschaft der Japanerinnen und Japaner und ihrer Herzlichkeit.
Hier einige Eindrücke von meinem Besuch in der Primarschule, die auch hier die Klassen 1 – 6 umfasst.
Organisation
614 Schülerinnen und Schüler, d.h. je um die 100 pro Jahrgang.
Die Klassengrösse nimmt wegen des Geburtenrückganges ab. In Japan beträgt sie in der Regel um die 35, in Fukushima liegt sie momentan darunter.
50 Lehrpersonen, alle arbeiten Vollzeit (d.h. viel mehr als das, was wir unter Vollzeit verstehen)
Viele der zusätzlich benötigten Angestellten werden mehr oder weniger auf freelance-Basis beigezogen. Die Köchinnen sind z.B. Mütter oder Frauen der Lehrpersonen
Die „affiliated school“ der Universität („Fuzoku“ Elementary School) ist auch zuständig für die Praktika der Studierenden des Studienganges Primarlehrperson der Uni Fukushima. Nächste Woche werden wieder 60 Studierende ihr 4-wöchiges Praktikum starten
Die Uni hat dementsprechend auch bei der Personalauswahl ein Mitspracherecht. Die Präfektur schlägt z.B zwei bis drei geeignete Personen für die Position der Schulleiterin, des Schulleiters vor und die Universität kann sich dann für jemanden dieser Kandidierenden entscheiden.
Die Schule ist beliebt, sie kann nicht alle Interessentinnen und Interessenten aufnehmen und führt deshalb eine Aufnahmeprüfung nach dem Kindergarten durch. Von den 130 Interessierten konnten letztes Jahr 105 aufgenommen werden. Der logische Weg nach der Fuzoku Elementary School der Uni Fukushima führt in die Fuzoku Junior High School. In der Regel schaffen fast alle Sechstklässlerinnen und Sechstklässler den Übertritt. Letztes Jahr konnten in die Junior High noch 40 weitere Schülerinnen und Schüler aufgenommen werden.
Die Schule hat Fünftagewoche. Es gibt einen fixen Stundenplan für die ganze Schule. Am Morgen mit zwei 100-Minuten-Blöcken, am Nachmittag in der Regel mit zwei 45-Minuten-Lektionen und Zeit für Spielen, an dem sich auch die Lehrpersonen beteiligen. Im Stundenplan ist auch Zeit fürs Putzen des Schulhauses eingeplant (zwei Mal wöchentlich intensiv, drei Mal Besenreinigung). Es ist selbstverständlich, dass die Schülerinnen und Schüler selbst putzen. Die WC werden ebenfalls von Schülerinnen und Schülern nass aufgenommen, nach Schulschluss kommen werden sie aber von Putzfrauen nochmals intensiv geputzt.
Das Mittagessen nehmen die Schülerinnen und Schüler im Klassenzimmer ein. Sie holen ihr Essen in der Küche mit einem Wägelchen ab und zwei Schülerinnen oder Schüler schöpfen es dann ihren Mitschülerinnen und Mitschülern. In der ersten und zweiten Klasse helfen Kolleginnen und Kollegen aus oberen Klassen beim Ausgeben des Essens. Die Lehrpersonen essen ebenfalls im Klassenzimmer.
„Bibliotheksdienst“ haben ebenfalls Schülerinnen und Schüler. Sie gehen gekonnt mit den Scannern um und leihen ihren Mitschüler/innen Bücher aus.
Die Bücherausgabe wird von Schülerinnen und Schülern betreut
Juku
Juku, d.h. Zusatzunterricht an privaten Institutionen nehmen sehr viele Schülerinnen und Schüler. Die Eltern erachten das angesichts der akademischen Berufswünsche ihrer Kinder (viele wollten Ärzte oder Ärztinnen werden) für nötig, damit sie später einmal die Aufnahmeprüfung in eine gute Universität bestehen. Auch finden die Eltern, angesichts der Globalisierung müssten die Kinder schon früh Englisch lernen. Die Englischlektionen ab 5. Klasse der Primarschule genügen ihnen nicht, sie seien vor allem aufs Hörverstehen und Sprechen ausgerichtet und in den Augen der Eltern zu spielerisch aufgebaut.
Unterricht
In einigem habe ich das Gefühl, einfach eine gute Schule zu sehen – unabhängig davon, ob das jetzt eine schweizerische oder eine japanische Schule ist. Anderes scheint mir kulturspezifisch zu sein.
In den Lektionsbesuchen fällt mir auf:
- Das Verhältnis Lehrpersonen – Schülerinnen und Schüler ist herzlich. In den Pausen, wenn man zusammen spielt, klemmt ein Lehrer auch einmal eine Unterstufenschülerin unter die Arme, die Schulleiterin herzt eine andere Schülerin.
- die Türen zu den Klassenzimmern – sofern überhaupt vorhanden – sind immer offen, z.T. sind die Klassenräume ganz offen, d.h. ohne Wand gegen den Korridor oder haben Fenster auch zum Korridor hin.
- Einräder und damit das Halten der Balance haben ihren festen Platz an den Schulen und werden in den Pausen und im Sportunterricht verwendet (in Nara dachte ich, das sei eher eine Spezialität der dortigen Schule)
- die Schülerinnen und Schüler sind konzentriert, die „time on task“ ist hoch
- die Schülerinnen und Schüler hören sich gegenseitig gut zu, sie sind sogar konzentrierter dabei, wenn eine Klassenkameradin oder ein Klassenkamerad spricht als wenn die Lehrperson etwas erklärt
- Ich habe den Eindruck, dass die Schülerinnen und Schüler nach einer relativ kurzen Sequenz des selbständigen oder kooperativen Arbeitens, des eigenständig nach Lösungen Suchens schnell zur richtigen Lösung für ein Problem hingeführt werden. „Scaffolding“ hat hier Priorität vor der eigenständigen Wissenskonstruktion. Dies macht den Unterricht recht effizient, wenn auch hier und dort wohl auf Kosten des tiefen Verstehens oder der eigenen Kreativität. Auch im Musikunterricht in Grossgruppen verläuft das Blockflötenspielen – in einer herzlichen Atmosphäre – ganz nach dem Vormachen-Nachmachen-Prinzip.
Kalligraphie wird durch eine Fachlehrerin erteilt, die wegen ihrer besonderen Fähigkeiten das Lehrdiplom bekommen hat
Der Musikunterricht entspricht im Unterschied zu vielen anderen Fächern wohl nicht ganz den schweizerischen musikdidaktischen Prinzipien – aber er findet statt
Textiles Werken mit 32 Schülerinnen und Schülern
Science-Lektion zum Thema Elektrizität
Das Schreiben eines Aufsatzes wird mit einer Mindmap vorbereitet
Hausaufgaben
Es gibt keine „klassischen“ Hausaufgaben, in denen z.B. Rechenoperationen geübt oder Aufsätze geschrieben werden. Hausaufgaben gehen eher in Richtung, eine Fragehaltung aufzubauen, die eigenen Interessen und das eigene Potenzial besser kennen zu lernen. Reiko erklärt, dass ein Kind, das gerne draussen sei, also z.B. in den Wind stehe, versuche den Wind zu spüren und Fragen zusammenstelle: warum spüre ich den Wind, warum ist das so verschieden, wenn ich geschwitzt habe und wenn nicht, warum ist der Wind manchmal warm, manchmal kalt? Solche Fragen sollen die Kinder dann selbst zu beantworten suchen und die Antworten oder noch offene Fragen in die Schule mitbringen. Erwünscht sei auch, dass man z.B. zu Hause werke. Wenn man in der Schule das Nähen gelernt habe, solle man das zu Hause weiter üben, den Eltern komme bei der Entscheidung, mit welchem Werkstoff gearbeitet werden solle, eine wichtige Beratungsfunktion zu. Für die Ferien werden regelmässig Aufgaben gegeben wie „Erlebnisse malen“, „Insekten beobachten und die Beobachtungen festhalten“, „Tagebuch schreiben“, „Ein fotografisches Tagebuch zusammenstellen“.
Zusammenarbeit mit Eltern
Es existiert, wie überall in Japan eine PTA (Parents-Teacher-Association), die bei Schulanlässen mithilft, sich regelmässig trifft, Anregungen gibt usw. Eltern können nach Voranmeldung jederzeit in die Schule kommen und z.B. Unterricht beobachten. Es gibt institutionalisierte Gespräche mit Eltern, für die bestimmte Zeiträume vorgesehen sind (September, Dezember/Januar usw.). An dieser Schule finden die Elterngespräche in der Schule statt, es gibt aber viele Schulen, in denen die Lehrpersonen diese Gespräche bei der Familie zu Hause durchführen.
Lehrplan
Seit der letzten Überarbeitung, die den Schülerinnen und Schüler mehr Freizeit hätte bringen sollen, wurde die Stundendotation wieder erhöht. Japanisch wurde gestärkt, ebenso Social Studies, Arithmetik und Science. Gekürzt wurde dagegen die Zeit für den von den Schulen selbst verantworteten fachübergreifenden Unterricht.
Sport heisst unverändert „Leibeserziehung“.
In den ersten beiden Schuljahren haben – das ist mir schon in Nara aufgefallen – die „Living Environment Studies“ ihren festen Platz. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich in diesen drei Jahreswochenstunden intensiv mit der Natur auseinander. Sie sind meistens draussen, beobachten die Natur, ziehen z.B. Frösche auf. ESD, d.h. Education for sustainable development hat an den Schulen einen festeren Platz als in der Schweiz. Die Grundlage wird in den „Living Environment Studies“ sehr handlungsorientiert gelegt, nachher wird das Thema in „Science“ weiterbearbeitet.
Social Living Studies
Unter „Special Activities“ sind z.B. Planungsarbeiten für eine Exkursion, den Schuljahresabschluss usw. subsummiert.
Moralische Erziehung erinnert an einen stark gelenkten Lebenskunde-Unterricht. Es werden z.B. Situationen besprochen, in denen ein Kind, einen verbotenen Weg gehen will, weil das viel schneller gehe. Die Schülerinnen und Schüler argumentieren dann über Vor- und Nachteile und kommen natürlich zum Schluss, dass der verbotene Weg nicht eingeschlagen werden soll.
Im fächerübergreifenden Unterricht werden die drei Klassen eines Jahrgangs zusammengenommen und bearbeiten miteinander ein Thema. Eines ist „Sonnenblume“ ein weiteres – nicht überraschend für Fukushima – „Carry on“. Mach weiter, es muss weiter gehen, schaue optimistisch in die Zukunft ist der Tenor dieses Themas. Ein Jahr später heisst das Thema „Regenbogen“. Es geht um Verschiedenheit, wie sie in den Farben des Regenbogens zu finden ist, ein Verschiedenheit, die miteinander harmonieren muss – auch wie im Regenbogen. Auch dies ein sehr japanisches Thema, wie mir scheint.
Carry on…
Schulleitung, Lehrpersonen
Schulleitungen werden von der Präfektur eingesetzt und von dieser auch wieder abberufen. Die Verweildauer an einer Schule beträgt zwischen einem und acht Jahren, spätestens dann wird man versetzt. Reiko erachtet eine Amtsdauer von drei bis vier Jahren als optimal. Sie wird entsprechend nächstes Jahr zurücktreten und dann wieder vollamtlich an der Uni tätig sein.
Auch Lehrpersonen werden von der Präfektur eingesetzt und allenfalls versetzt, wobei sie sich selbst für Stellen an anderen Schulen bewerben können.
Lehrpersonen arbeiteten – wie die meisten Japanerinnen und Japaner – extrem lange. Offiziell beginnt die Präsenzzeit an der Schule vor acht Uhr und endet um 18:00 Uhr. An anderen Schulen endet sie etwas früher, sie haben dafür keine dreiwöchige Sommerpause. Das heisst aber nicht, dass die Lehrpersonen um 18:00 Uhr nach Hause gehen, die meisten arbeiten bis 22:00 Uhr in der Schule weiter. Der Verwaltungsleiter (der auch so lange bleibt) muss dann jeweils mit dem Mikrophon alle auffordern jetzt nach Hause zu gehen.
Auch die drei Wochen Ferien werden von kaum jemandem eingezogen. Warum? „Das ist japanisches Denken“. Aber Reiko ist auch der Meinung, dass das nicht gesund sei. Sie sieht ein Hauptproblem darin, dass alle so sozialisiert sind, sämtliche Arbeiten, die anstehen auch zu erledigen. Und weil im Lehrberuf letztlich nie alles erledigt ist, arbeiten die Lehrpersonen weiter und weiter. (So ganz unbekannt kommt mir das ja nicht vor…) Schlafmangel sei ein grosses Problem. Einige werden dann tatsächlich krank und können nicht mehr arbeiten. Eine wichtige Herausforderung aller an der Schule Beteiligten sei zu lernen, Prioritäten zu setzen. Aber eben, das sei bei all den Anforderungen, die auch von Elternseite kämen, sehr schwierig. Zwei Personen auf der zweiten Führungsebene seien fast nur damit beschäftigt, das Telefon zu bedienen und Anliegen von Eltern zu bearbeiten. Zwei Mal im Monat sitzt die Schulleitung mit einer Beraterin zusammen und macht eine Art Supervision.
Die Lehrpersonen machen vier Mal im Jahr eine kollegiale Unterrichtsbeobachtung.
Ausspannen wäre wichtig. Mir fällt aber auch auf, wie die Vorstellung von Ausspannen völlig anders ist als in Europa. Sich wirklich gut zu erholen heisst z.B., eine Woche Ferien zu nehmen und nach Europa fliegen… Das ist mir schon in anderen Gesprächen aufgefallen. Die Zeit, sich zu erholen, wird extrem kleinräumig bemessen. Auch Erholung geht – wie alles hier – äusserst effizient vor sich.
Teilzeitarbeit ist für Lehrpersonen nicht möglich.
Reiko hatte in Zürich ähnliche Momente des Staunens wie ich in Japan. Die vielen Dozierenden und Lehrpersonen mit Teilzeitpensum sind ihr aufgefallen. Oder, dass man in der Schweiz das Gefühl habe, viel zu arbeiten; dabei gingen viele schon vor 17 Uhr nach Hause. „Aber das ist schweizerisches Denken“. Reiko fasst zusammen, dass in der Schweiz das übrige Leben wichtiger sei als die Arbeit. In Japan sei das genau umgekehrt.
Und ja, wie ich gestern beschrieben habe, ist auch der Kernkraftwerkunfall präsent.