Abschied

Nach dem Abschied von den Kolleginnen und Kollegen und der Rückfahrt nach Rio brauchen wir zuerst eine Ruhepause. Danach fahren wir nochmals nach Lapa. Im Carioca da Gema (Bildquelle) tritt Teresa Cristina mit der Grupo Semente auf. Leider sind wir etwas zu müde, um es wirklich geniessen zu können und bald nach Mitternacht nehmen wir ein Taxis zurück zum Appartment.

Am nächsten Tag reisen Elisabeth und Barbara weiter, ich fliege zurück nach Hause in den Herbst. Mein Brasilienbild hat während dieser Reise sicher eine „realistische Wende“ erfahren. Ich habe all die Schattenseiten, vom den extremen Einkommens- und Vermögensunterschieden über die Korruption, die Straffreiheit für die grösseren Fische und die willkürliche Gewalt gegen die kleineren bis zum die Ungleichheit perpetuierenden Bildungssystem stärker wahrgenommen als vor einem Jahr. Und trotzdem: die Freundlichkeit, Herzlichkeit, das Zugewandtsein und Engagement so vieler Menschen, die Sonne und die Musik haben mich erneut elektrisiert, liessen die Zeit in einem Flow vergehen. Es war schön, mit Manuela, mit Elisabeth und Andi, mit Barbara unterwegs zu sein und es war schön, die Gastfreundschaft so vieler Leute zu erleben. Muito obrigado.

Schulen in Niterói und São Gonçalo

Zum Abschluss begleiten uns Direktor Manoel und sein Vize Rogério in drei Schulen in São Gonçalo, die Stadt auf der anderen Seite der Bucht, in der der Lehrer/innenbildungscampus FFP der UERJ steht und die über eine Million Einwohner hat. Zuerst besuichen wir die Schule «CE Conselheiro Macedo Soares», 1900 Schülerinnen und Schüler der Ensino Fundamental und der Ensino Médio. Dazu am Abend Kurse für Erwachsene in Technik und Verwaltung.

Die Schüler/innenzahl in der Ensino Médio ist deutlich kleiner als in den unteren Klassen. Schülerinnen und Schüler, die eine Arbeit finden, hören in der Regel sofort mit der Schule auf. Drei Studentinnen der FFP begleiten uns, sie sind zwei Tage pro Woche hier, hospitieren und haben Beobachtungsaufträge.

Wir sehen eine Lektion zum Thema Rassismus. Entgegen dem auf Gilberto Freyre zurückgehenden Wunschbild der ethnischen Demokratie, in der alle Ethnien gleich behandelt werden und gleich wichtig für Brasilien sind (→ Uni Wien), ist Rassismus in Brasilien präsent und ein grosses Problem (→ RacismReview, Wikipedia, Bsp. eines Blogs). Die 28 Jugendlichen hören ihrer Lehrerin zu und diskutieren engagiert mit. Es werden Beispiele von Rassismus erzählt, Diskriminierungen, die die Schülerinnen und Schüler selbst erlebt haben. Die Lehrerin macht historische Exkurse, z.B. in die Politik nach der Abolition, als versucht wurde, durch Immigration Brasilien wieder „weisser“ zu machen. Diskutiert wird auch über Quoten für Schwarze z.B. an Bildungsinstitutionen, die Meinungen, ob das sinnvoll sei, gehen bei den Jugendlichen auseinander.

Zum Schluss schauen die Schülerinnen und Schüler TED-Talk von Chimamanda Adichie: «Die Gefahr einer einzigen Geschichte» an. Die Schriftstellerin erzählt eindrücklich aus ihrem Leben und wie wichtig es sei, viele verschiedene Geschichten über Personen und Länder zu hören, um sich ein Bild machen zu können.

Unterdessen wartet das Kollegium der CIEP 411 in São Gonçalo schon auf uns.CIEP steht für «Centros Integrados de Educação Pública». Mit diesen von Niemeyer entworfenen und als Ganztagesschulen konzipierten Schulen sollte eine Bildungsoffensive lanciert werden, Strassenkinder sollten durch die lange Betreuungszeit eine Heimat bekommen, die Schulen zum Zentrum der Gemeinde, des Stadtkreises werden.Aus politischen und finanziellen Gründen wurde die Idee aber nicht mit Vehemenz weiterverfolgt (→ Artikel in Brazzil), die Schulen sind nur noch teilweise Ganztagesschulen, für den Unterhalt fehlt das Geld, aus finanziellen Gründen können sie auch ihre Funktion als Quartier- bzw. Stadtteilzentrum nur beschränkt wahrnehmen. Ein Gesundheitsamubuatorium, das mehrere Jahre stillgelegt war, steht bei unserem Besuch immerhin kurz vor der Wiedereröffnung.Aber die Lehrpersonen sind engagiert (Kunststück, wir haben sie ausgebildet, meinen Manoel und Rogério), die Schülerinnen und Schüler bei der Sache. Wir haben den Eindruck, dass sie wirklich lernen wollen. Bildung ist die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg, auch wenn die Karten sehr unfair verteilt: Die teuren Privatschulen, die nur von Schülerinnen und Schülern mit vermögenden Eltern besucht werden können, bieten die ungleich besseren Voraussetzungen, um in eine gute Universität aufgenommen zu werden. Trotzdem: Mit solch engagierten Lehrpersonen müsste doch etwas zu machen sein, wenn es dem Land gelänge, mehr Finanzen für die Bildung bereitzustellen. Die teure Bolsa Familia kann die Grundlage legen, dass die Schule besucht wird. Damit der Schulbesuch auch erfolgreich ist, müssen aber die Schulen besser ausgestattet und finanziert werden. CIEP wäre da ein vielversprechender Anfang gewesen, schade, dass die Regierungen seither die Prioritäten anders gesetzt haben.

Nach dem Mittagessen in São Gonçalo steht uns fast ein Staatsempfang bevor. Im Ginasio Municipal Presidente Castello Branco erwartet uns ein Spalier mit Blasmusik, Dudelsackgruppe, Artistinnen.Wir werden wiederum von Studentinnen und ihrer Professorin begleitet, die hier ein Projekt durchführen und uns stolz die auf Postern zusammengestellten Forschungsresultate zeigen.Die Schule hat sich auch mit dem bereitgestellten Essen, dem Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen, der Einladung für einen Professor, der aus Benin eingewandert ist und französisch spricht, stark ins Zeug gelegt. Auch sie kämpft mit fehlenden Ressourcen; die Stimmung ist gut, für uns aber schwierig einzuschätzen.Obwohl wir noch lange mit dem Kollegium plaudern, kommen wir noch ohne grossen Stau zurück nach Rio.

Forschungskolloquium

Beim hervorragenden Mittagessen bei Rogério und Cristiane erfahren wir einiges über das ENADE, das Exame Nacional de Desempenho de Estudantes, dem sich die Schülerinnen und Schüler der höheren Klassen unterziehen müssen, das aber vor allem für die Schulen finanzielle Auswirkungen hat. Weil es für die Schülerinnen und Schüler relativ egal ist, wie sie abschneiden, braucht es viel Überzeugungsarbeit, um sie für dieses Examen zu motivieren.

Heute sind wir früh genug und kommen gut über die Brücke, um über den Kooperationsvertrag zu diskutieren. Der Vertrag ist leider nicht unterschriftsreif, das Uni-Rektorat und wir sind uns nicht einig über den Gerichtsstand. Schade, ich hätte ihn noch gerne selbst unterschrieben.

Das Forschungskolloquium anschliessend ist eine Herausforderung, da die von Professor/innen und z.T. Studierenden vorgestellten Projekte von hoher Qualität sind und bei der Übersetzung auf Englisch natürlich die Feinheiten des Fachvokabulars auf der Strecke bleiben. Auch sind Foucault und Derrida ja auch auf Deutsch nicht leicht verständlich, geschweige denn in aus dem Portugiesischen übersetzten Englisch. Leichter verständlich ist das das Video zum 40-Jahr-Jubiläum, der FFP, das extra für uns auf Englisch übersetzt wurde (→ Youtube).

Verschiedene Forschungsprojekte finden sich hier (→ Website), auch die Facebook-Seite über das Masterprogramm kann vielleicht einen Einblick zur Vielfalt der Programme geben. Wir erhalten u.a. einen Einblick in die Forschungstätigkeiten der Grupo Vozes (Geschichte der Schulen in São Gonçalo), der Forschungsgruppen Wissensgesellschaft und Kultur, Verbindung Schule – Lehrpersonenbildung, Citizenship und Alphabetisierung, und eines studentischen Projektes zur Mathematikdidaktik und zum den Zusammenhängen von Shakespeare und dem teatro do oprimido von Augusto Boal. Die meisten Projekte haben eine emanzipatorische Zielsetzung: Freire, E.P. Thompson und und Bakhtin werden zitiert.

Was uns beeindruckt ist die Zusammenarbeit zwischen Studierenden, Professorinnen und Schulen. Jede Professorin arbeitet für ihr Projekt mit Schulen zusammen, an denen auch die mitarbeitenden Studierenden ihre Studien machen und ihre Arbeiten schreiben. Die Arbeit von Professorinnen und Studierenden ist dabei in den Schulen sehr präsent, es werden Posters aufgehängt, man ist mit dem Kollegium im Gespräch über die Projekte.

Auch Barbaras Vortrag über die Verbindung der praktischen und theoretischen Anteile an der PH Zürich gelingt gut, Studierenden und Dozierenden sind die verschiedenen Wissensformen, über die wir sprechen vertraut, sie stellen interessante Fragen zur Lehrpersonenbildung in der Schweiz und wären sehr interessiert an einem Austausch.

CAp UERJ – die Übungsschule der Uni

Heute haben wir einen Schulbesuch, Vertragsverhandlungen und das Forschungskolloquium mit dem zweiten Vortrag Barbaras vor uns. Wir sind etwas entspannter, nachdem es Barbara gestern so gut gelaufen ist. Wir nehmen ein Taxi zum CAp UERJ. CaP heisst Colégio de Aplicaçao, es handelt sich also um die Übungsschule der staatlichen Universität von Rio die Janeiro. Etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler sind Kinder von Angestellten der UERJ, die andere Hälfte dieser öffentlichen Volksschule steht allen offen, die sich hier anmelden. Rogério erzählt von stunden- bis tagelangem Schlange stehen von UERJ-externen Eltern, die für ihre Kinder hier einen Platz bekommen möchten.

Die Schule umfasst die 9 Schuljahre Ensino Fundamental und 3 JahreEnsino Médio, die Schülerinnen und Schüler können hier also 12 Schuljahre verbringen. Gleichzeitig hat das Instituto de Aplicaçao einen Ausbildungsauftrag, Studierende hospitieren und assistieren hier, viele von ihnen arbeiten auch an Projekten mit.

Die Schule ist erfolgreich, viele Schülerinnen und Schüler schaffen die Aufnahme in eine staatliche Universität (mit dem Vestibular) oder eine andere Hochschule (mit dem ENEM oder Vestibular).Wir sehen engagierte Lehrerinnen und Lehrer und einen engagierten Schulleiter (der versucht, am Geburtstagskuchenanschnitt mindestens der jüngeren seiner 1500 Schülerinnen und Schüler dabei zu sein). Die Studierenden sind während 30 Stunden pro Semester und Fach am CaP, v.a für Beobachtung und Reflexion, sie geben kaum selber Schule. In der Regel belegen sie drei Fächer, sind also etwa einen Tag am CaP. Viele bekommen zusätzlich ein kleines Stipendium, sie sind dann „Bolsistas“ und können sich an einem Projekt beteiligen, das von  einer Person, die z.B. assozierte Professorin an der UERJ ist, begleitet wird (→ Beispiel dialogische Bildung, z.T. Google plus nötig, → Beispiel Design und Bildsprache, → Beispiel Inklusion ). Diese Projekte sind auf Posters im Schulhaus sehr präsent, sie werden auch an Samstagen der offenen Türe der Öffentlichkeit vorgestellt.

Freire wird häufig zitiert, die Schule ist inklusiv, das Klima gut, es wird stark mit Projektunterricht gearbeitet. Wir haben einige Fragezeichen bezüglich musischer Erziehung und Time on Task, sehen aber zu wenig Unterricht, um uns wirklich ein Urteil bilden zu können. Auf unsere Frage, wie es mit der Disziplin sei, meint ein Lehrer, schwierige Jugendliche würden häufig für Forschungsprojekte eingespannt, Verantwortung zu übernehmen funktioniere fast immer. Und ausserdem brauche es mal ein Gespräch, vor allem aber Lächeln, Humor, liebevollen Kontakt. Als der Schulleiter eine Schülerin im Gang antrifft, die eigentlich im Unterricht sein sollte, umarmt er sie liebevoll und meint „jetzt geh doch wieder hinein“. Ständiger Körperkontakt ist hier die Regel, man umarmt sich, Lehrpersonen halten sich die Hand, wenn sie miteinander sprechen oder streicheln sich die Wange.

Infrastrukturmässig geht es der Schule relativ gut, das habe aber vor allem damit zu tun, dass Lehrpersonen und Uni-Professor/innen gemeinsam Projekte akquierierten „day and night and weekends also“.

 

Museen und Vortrag UERJ

Na ja. Die Fotos auf dem Mittelstreifen der Avenida Atlantica hätte ich wohl besser nicht machen sollen, dann hätte ich meinen Fotoapparat jetzt noch. Das Pflaster von Burle Marx sieht beim heutigen Regen besonders gut aus – es hat aber auch wenige Touristen. Für einen Entreissdieb bin ich deshalb eine willkommene Beute. Ich wehre mich nicht und lasse den armen Kerl halt mit meiner Kamera davonrennen.

Etwas angeschlagen bin ich danach schon, ich besuche aber dennoch noch die Nationalbibliothek und das Museum Casa Daros (→ Rio Times, NZZ), das von der Schmidheiny-Stiftung getragen wird. Den Lichtkünstler Julio Le Parc kannte ich bisher nicht, seine Installationen bringen mich aber auch wieder auf lichtere Gedanken.

(Bildquelle). Die Ausstellung im oi futura Flamengo, einem Museum der Kulturstiftung der Telekommunikationsgesellschaft oi (mit der wie bei allen Stiftungen Steuern gespart werden) ist dagegen sehr eindringlich. Die Mexikanerin Teresa Serrano und der Argentinier Miguel Angel Rios zeigen in der Ausstellung Desenlace Videoinstallationen rund um sexuelle Übergriffe und den Kampf der Geschlechter einerseits, um Gewalt, Mord, Vergewaltigung andererseits. → Glass Ceiling (Teresa Serrano) Crudo (Miguel Angel Rios).

Am Nachmittag dann über die Brücke nach São Gonçalo. Barbara wird ihren ersten Vortrag an der UERJ halten. Professorinnen, Professoren und Studierende warten über eine Stunde, weil wir auf der viel befahrenen Brücke nach Niterói im Stau stecken. Der Vortrag, einer der Festvorträge zum 40-jährigen Bestehen der Fakultät verläuft aber sehr gut. Das Interesse an der schweizerischen Bildungslandschaft ist gross und dass Barbara auf Portugiesisch referiert wird von allen sehr geschätzt, der Austausch ist herzlich und interessant.

Grumari und Dia dos Professores

Heute haben die Schule geschlossen: Dia dos Professores. Rogério holt Elisabeth, Barbara und mich für eine Fahrt der Küste entlang ab. Andi wird heute abend nach Hause fliegen. Wir halten im vornehmen Leblon, mit Blick auf Ipanema für einige Fotos an, essen an einem Kiosk in  Barra da Tijuca ein Açai-Pulp. Ich kannte diese Palmfrucht, die wie ein Shake serviert wird, bisher nicht, sie schmeckt aber sehr gut. In Ipanema und Leblon wohnen Reiche, deren Familien schon länger Geld haben, an den Stränden der Barra da Tijuca haben jetzt die in letzter Zeit zu viel Geld gekommenen teure Appartments gekauft. Hier werden auch die olympischen Spiele 2016 stattfinden, eine U-Bahn ist im Bau.

Wir sehen uns Barra da Tijuca von oben, beim Startpunkt der Hangglider in der Nähe von Pedro Bonita (Bildquelle) an, Rogério hat uns mit dem Auto die schwierige Strasse hinauf gefahren. Mittagessen gibt es dann im Grumari, in einem schönen Strandrestaurant in dieser unberührten Gegend.

Am Nachmittag wollen Rogério und ich an der Lehrerdemonstration zum Dia dos Professores teilnehmen. Die Lehrpersonen aller Stufen sind höchst unzufrieden, sie wünschen sich den Gouverneur Sergio Cabral und Bürgermeister Eduardo Paes ins Pfefferland.Die Unzufriedenheit sitzt tief, sie hat mit schlecht ausgestatteten Schulen, einem sehr kleinen Lohn, öffentlichen Geldern, die für WM und Olympiade anstatt für die Bildung ausgegeben werden usw. zu tun. Lehrpersonen sind meist gezwungen, zwei bis drei Stellen zu haben, um genügend zu verdienen.

Das möchte die Regierung nun – für uns begreiflicherweise – unterbinden, Lehrpersonen sollen dafür an einer Schule eine 100%-Anstellung haben. Weil damit eine erheblich Lohnreduktion (im Vergleich zu den zwei bis drei Stellen) verbunden ist, wehrt sich die Lehrerschaft dagegen. Viele Schulen befinden sich deswegen schon bald zwei Monate im Streik. Die Lehrpersonen und die Schülerinnen und Schüler werden das Verpasste in den Schulferien nach Weihnachten nachholen müssen, 200 Schultage pro Jahr sind Pflicht und werden nicht in Frage gestellt.Die Stimmung an der Demonstration ist gut, ganze Schulhausteams fotografieren sich gegenseitig, auch der Direktor der Lehrerbildungsfakultät und sein Vize demonstrieren, Musikgruppen sind hier, Helikopter von Polizei und Fernsehen kreisen über dem Zentrum. Der schwarze Block wird erst nach der Schlussmanifestation aufmarschieren, Sachschaden und Schaden an Goodwill verursachen.

Yayoi Kusuma, Stadtzentrum

(Bildquelle) Montag ist mehr oder weniger alles geschlossen. Das Kulturzentrum der Banco do Brasil macht da eine Ausnahme. In der Ausstellung «Yayoi Kusama: Obsessão Infinita» lernen wir eine japanische Künstlerin kennen, bei der sich alles um farbige Punkte, Polka Dots und vieles um Phalli und ihre Angst davor dreht.

Anschliessend schlendere ich durch das Stadtzentrum, der Avenida Presidente Vargas und der Avenida Rio Branco entlang. Um das Zentrum Rios in den 30-er und 40-er Jahren neu mit der Avendida Presidente Vargas neu zu gestalten, wurden die alten Quartiere abgerissen (Bildquelle).

Das Avendida wirkt heute steril. Die hochpreisigen Läden befinden sich an der Avenida Rio Branco, die zu Nationalbibliothek, Oper und Kunstmuseum am zentralen Platz «Cinélandia» führt. Hier gibt es z.B. nach wie vor ein Edificio Swissair. Die Avenda Rio Branco wurde im Zuge der Stadtentwicklung in der jungen Republik anfangs des letzten Jahrhunderts im Stil der Belle Epoque gebaut. Auch ihr musste eine ganzes Quartier, in dem z.T. schreckliche hygienische Bedingungen herrschten, weichen (Bild Wikicommons):Ich mache auch Fotos der Igreja de Nossa Senhora da Candelária. Rogério hat am Samstag davon erzählt, dass hier 1993 die Polizei schlafende obdachlose Kinder und Jugendliche erschoss (Chacina da Candelária), er empfindet es wie viel andere als grosse Schande für Brasilien. Die Polizei, v.a. die Militärpolizei scheint nach wie vor ein unkontrolliertes Gebilde mit eigenem Gesetz zu sein, niemandem rechenschaftspflichtig. (Bild der sehr unscheinbaren Gedenktafel Wikicommons).Nachtessen dann in der Bar Astor.

Hippie-Markt, Parada LGBT, Marisa Monte

Am Sonntagmorgen besuchen wir den Hippie-Markt in Ipanema. Das Sortiment hat Lokalkolorit, unterscheidet sich aber sonst nicht gross von anderen solchen Märkten irgendwo auf der Welt.

Am Nachmittag findet an der Copacabana die Parada do Orgulho LGBT statt, d.h. die Parade des Stolzes der Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender-Community. Rio de Janeiro ist im Bereich der Rechte dieser Personen fortschrittlich, Heiraten von Homosexuellen sind möglich, ebenso Adoptionen. Das Wummern der Bässe begleitet uns beim Baden am Strand, danach stürzen wir uns auch ins Gewühl.Manuela macht sich dann auf den Weg Richtung Flughafen (der Taxifahrer rechnet wegen vieler Staus mit drei Stunden), gehen Barbara und ich ans Konzert von Marisa Monte im Rio Vivo (Bildquelle) Die Show Verdade Uma Ilusão ist sehr gut, für mich hat es etwas viel visuelle Effekte, so dass sie als Person eher in den Hintergrund rückt, Barbara würde auch die Streicher streichen, um einigen Stücken das Süssliche zu nehmen.  HIer Gentileza, wie Marisa Monte es gesungen hat und Depois (während einer anderen Tournee). Barbara – und mit ihr viele im Publikum – vermisst Chocolate. Cristiane, die sich auch sehr auf den Abend gefreut hat, bricht leider kurz vor der Aufführung zu Hause den Zeh und muss den Abend im Spital verbringen.

Was uns sehr beindruckt: Marisa Monte sagt, wie wichtig es sei, dass Brasilien „um povo rico e educado“ werde und sie dankt allen Lehrerinnen und Lehrern, wünscht ihnen bessere Arbeitsbedingungen und gratuliert ihnen zum übermorgigen dia dos professores. Der ganze Saal klatscht lange.

Samstag in Rio

Am Morgen holen uns Rogério, unser Kollege von der UERJ und seine Frau Cristiane ab. Wir schlendern der Lagoa und dem Meer unterhalb des Zuckerhuts entlang. Samstagsbetrieb, man trifft sich zum gemeinsamen Picknick auf dem Rasen, trinkt Kokossaft, lacht und spielt mit den Kindern.Mittagessen gibt es dann in der Churrascaria Cruzeiro do Sul (Bild Cruzeiro do Sul).Die Fleischspiesse, von denen uns ständig serviert wird, sind hervorragend. Wir sind aber wenig geübt im Nein sagen, wenn wieder ein Kellner mit einem Spiess am Tisch steht. Auch die Schnelligkeit, mit der gegessen wird, überrascht uns, Zeit für Gespräche bleibt da wenig, dafür hat man ja noch den ganzen Tag.

Mit Rogério fahren wir dann noch in die Innenstadt.Samba Jazz (you think it’s jazz, but we know it’s samba) und Bier an der Rua do Mercado (→ Youtube, hier allerdings eine Choro-Guppe).

Niterói

Um dem Gedränge zu entgehen, fahren Manuela und ich mit der ersten Kabine am Morgen auf den Zuckerhut. Schöne Sicht, keine Leute und – nachdem wir einige Meter einem unscheinbaren Weg gefolgt sind: schöne Natur, Ruhe von der Grossstadt.

Nach dieser Atempause vom pausenlos dröhenden Verkehr stürzen wir uns aber auch wieder in die ständige Adrenalinschübe provozierende Stadt. Mit dem Bus fahren wir zum Praça XV, dann mit der Fähre nach Niterói und mit einem weiteren Bus zum MAC, dem von Oscar Niemeyer in den 1991 erbauten Museu de Arte Contemporânea de Niterói. Die Fahrt lohnt sich einerseits wegen Gebäude und Blick auf Rio de Janeiro, aber auch die Ausstellungen sind gut kuratiert. Die Hauptausstellung über Beuys zeigt auch sein politisches Engagement für die direkte Demokratie.

Die Rückfahrt mit dem Bus durch Niterói zieht sich in die Länge, der «Ciruclar» fährt im Zickzack durch die Stadt, die sich auch touristisch gerne als Schwesterstadt Rios sehen würde. Bevor wir wieder die Fähre nehmen, sehen wir uns noch den Caminho Niemeyer an. Gebäude, die Niemeyer in seiner letzten Schaffensperiode zeichnete, die aber alle bereits Renovierungen nötig haben.Auf der Rückfahrt gut sichtbar sind die Ölplattformen. Das vor Rio geförderte Öl trägt wesentlich zum relativen Reichtum dieses Bundesstaates bei. Seit Jahren schwelt ein Konflikt, ob dieses Ölgeld auch dem Staat Brasilien oder lediglich dem Gliedstaat Rio de Janeiro zu Gute kommen soll.

Spätabends kommt Barbara an – alle Zimmer in der WG sind jetzt belegt…