1700 km und ein paar Learnings

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1700 km Bahnfahrt von Saga nach Fukushima. Trotz drei Mal umsteigen dauert das nur achteinhalb Stunden. Honshu ist im Flachland sehr dicht bebaut, über weite Strecken zubetoniert. Die Aussicht ist denn auch nicht sehr berauschend – Mt. Fuji taucht heute nicht auf – und mir bleibt etwas Zeit, mir im Hinblick auf die Schul- und Universitätsbesuche in Fukushima und Korea zu überlegen, was denn bis jetzt meine „Learnings“ bezüglich Schule sind.
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Wenn ich mich an das Angebots-Nutzungsmodell von Helmke und anderen (hier kopiert von der Uni Koblenz-Landau) anlehne und so nach Differenzen suche, so gibt es natürlich Unterschiede im Angebot. Viele Lehrpersonen unterscheiden sich von ihrer Philosophie und ihrem Engagement meines Erachtens aber nicht stark von Schweizer Lehrpersonen. Auch ihre Auffassung von gutem Unterricht ist nicht so verschieden. Die Art, wie sie Unterricht durchführen ist (bei gegen 40 Schülerinnen und Schüler) sicher etwas frontaler, es kann weniger individuell auf die einzelnen eingegangen werden, aber der Ablauf des Unterrichts folgt häufig Unterrichtschoreographien, die wir auch kennen. Es ist also meines Erachtens nicht das Angebot, das den grossen Unterschied ausmacht – obwohl wir natürlich fast reflexartig immer zuerst dort suchen. Unterschiede sind stärker in anderen Bereichen auszumachen.

(1) Der Kontext unterscheidet sich wesentlich. Die kulturellen Rahmenbedingungen sind in einer Kollektivgesellschaft ganz anders als in einer Individualgesellschaft. Allzu viel Individualismus ist nicht erwünscht, man lernt schon früh in der Familie und in der Gesellschaft, wie man sich zu benehmen hat, welches Verhalten erwünscht ist und welches Verhalten bestraft wird. Die Gesellschaft ist weniger permissiv, man kann es sich kaum leisten, unangenehm aufzufallen, sonst fällt man als Kind, als Jugendliche/r und als Erwachsene/r durch die Maschen. Dieser kontextuelle Faktor hat einen wesentlichen Einfluss auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler.
(2) Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass alle Schülerinnen und Schüler ein hohes Lernpotenzial haben, wenn sie sich nur entsprechend anstrengen. Faktoren wie Begabung, familiärer Hintergrund usw. werden viel weniger gewichtet. Anstrengung ist der Schlüssel zum Erfolg. Z.T. konfuzianisch, z.T. nachkriegs-demokratisch geprägt, ist das System sehr meritokratisch. Nur wer bei all den Aufnahmeprüfungen Erfolg hat, kommt weiter, d.h. wird in eine gute Junior High, eine gute High School, eine gute Universität aufgenommen und erhält schliesslich eine gute Stelle. Eine zweite Chance gibt es allenfalls nach einem Jahr, wenn man sich mehr angestrengt und strenger gelernt hat, nachher aber nicht mehr.
(3) Die Familie hat einen grossen Einfluss auf den Schulerfolg, in dem sie die Schulen finanziert und vor allem auch die ausserschulische Nachhilfe ermöglicht, d.h. z.B. einen guten Prüfungsvorbereitungskurs finanziert, eine gute Nachhilfe für ein weiteres Vorbereitungsjahr auf die Aufnahmeprüfung bezahlt usw. Dafür werden immense Summen ausgegeben, so viel, dass viele Eltern angeben, sich nicht mehr als ein Kind leisten zu können. Die meritokratische Ausrichtung wird dadurch natürlich ausgehebelt.
(4) Ich meine, dass die Familie dadurch einen sehr direkten Einfluss auf die Lernaktivitäten und vor allem auf das „ausser“schulische Lernen hat. Den Kindern und Jugendlichen ist bewusst, dass sich ihre Eltern finanziell und emotional stark für sie verausgaben (Das Beten von Eltern in den verschiedenen Tempeln und Schreinen vor den Prüfungen ist z.B. sehr verbreitet). Entsprechend stark unter Druck stehen die Schülerinnen, Schüler und Studierenden und entsprechend nutzen sie, falls sie dem Druck standhalten, vor allem vor Prüfungen auch sämtliche zur Verfügung stehenden Lernangebote.
(5) Das Lernen soll natürlich den Aufbau von fachlichen Kompetenzen und einer harmonischen Gesellschaft bewirken. Gemessen wird es aber fast ausschliesslich an Prüfungserfolg. Alles Lernen ist – mit allen Vor- und Nachteilen – stark auf dieses Ziel ausgerichtet. Die asiatischen Länder sind sich dabei sehr wohl bewusst, dass wirtschaftlicher Erfolg nicht allein durch Auswendiglernen erreicht wird (dass aber Ehrgeiz, Selbstdisziplin, Verausgabungsbereitschaft und das Zurückstellen von persönlichen Bedürfnissen durchaus helfen). Entsprechend sind die Prüfungen so aufgebaut, dass z.B. Problemlösekompetenz nötig ist, um sie gut zu bestehen.

Dass das alles nicht für alle aufgeht, hat vor einem halben Jahr Abigail Haworth in einem süffigen Artikel im Guardian beschrieben: „Why have young people in Japan stopped having sex?“

Immer wieder interessante Einblicke in die Gesellschaft Japans gibt auch der in Kyoto lehrende amerikanische Soziologe Robert Moorehead in seinem Blog, in dem auch Studierende zu Wort kommen (vgl. auch gestrigen Eintrag).

In Tokio habe ich 8 Minuten, um umzusteigen. Der Zug kommt auch auf die Sekunde pünktlich an und für den Wechsel von einem Perron zum anderen braucht man 6 Minuten… Klappt also bestens. Nach Tokio wird es grüner, die Landschaft wirkt in der Präfektur Fukushima freundlicher. Aber mit dem Namen sind natürlich die Assoziationen an das grosse Erdbeben, den Tsunami, die Atomkatastrophe verbunden.
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